Meinung

Die EM und die Bahn: Zuverlässig in ihrer Unzuverlässigkeit

Die Fußball-Europameisterschaft hat gerade erst angefangen. Und international wundert man sich über das Organisationschaos im Land. Von der deutschen Gründlichkeit ist besonders bei der Deutschen Bahn nicht mehr viel übrig geblieben.
Die EM und die Bahn: Zuverlässig in ihrer UnzuverlässigkeitQuelle: Legion-media.ru © https://www.legion-media.ru/item/en/1/52948664.162

Von Tom J. Wellbrock

In The Athletic, die zur New York Times gehört, war ein Artikel über Deutschland als Organisator der Fußball-Europameisterschaft (EM) zu lesen. Der Text trug den Titel "EM 2024 und deutsche Effizienz: Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten", und der Autor musste sein Bild über Deutschland und dessen Bahn erheblich korrigieren.

Effizienz. Zuverlässigkeit. Funktionalität. Oder auch nicht.

Üblicherweise läuft es laut Artikel so:

"Die Anreise vom Stadtzentrum ist normalerweise recht einfach: Man bringt die Fans mit der U-Bahn Richtung Norden zur Haltestelle Fröttmaning, die zehn Gehminuten vom Stadion entfernt ist. Bei großen Spielen kann es voll werden. Aber außerhalb des Stadions, bei Bundesliga- und Champions-League-Spielen, funktioniert alles recht gut und die Fans finden die Bereiche, die sie brauchen."

Also alles im grünen Bereich, sozusagen. Doch bei der EM wurden offenbar neue Regeln aufgestellt, und die grenzen an Anarchie, wie der Autor feststellt:

"Am Freitagabend hätte es nicht unterschiedlicher sein können. Der Verkehr auf der Strecke, die von München nach Fröttmaning führt, kam zum Stillstand. Die Züge hielten lange an Bahnsteigen und in Tunneln und wurden immer voller.

Außerhalb der Allianz Arena herrschte Chaos – Szenen, die sich bei anderen Spielen seither wiederholten. Bei Bayern-Spielen sind die Eingänge für die Fans ausgeschildert, je nachdem, wo im Stadion sie sitzen. Am Freitag scheiterte die Zoneneinteilung, und es bildete sich eine riesige Schlange vor dem Stadion. Manche standen stundenlang draußen. Als sie den Anfang der Warteschlange erreichten, blieb vielen Fans nichts anderes übrig, als sich mit Gewalt durch die Menge zu drängen, um zum Eingang zu gelangen. Andere ärgerten sich sehr darüber, dass sie das Geschehen falsch interpretierten, was zu einigen kurzen Aufständen führte."

Dennoch: Das Geschehen rund um die Spiele ist als vergleichsweise harmlos zu betrachten, und sowohl die ehrenamtlichen Helfer als auch die Fußball-Fans geben sich alle Mühe, die EM so rund wie möglich laufen zu lassen. Ein anderes und viel gravierenderes Problem können sie aber nicht lösen: das der Deutschen Bahn (DB).

Die Bahn kommt. Zu spät. Oder gar nicht.

An Deutschlands Bahnhöfen spielen sich auch im ganz normalen Alltag teils dramatische, teils tiefe Trauer erregende Szenen ab. Die Deutschen haben sich daran gewöhnt, sie kennen es nicht anders. Aber jetzt, da die Logistik der DB auf eine ernsthafte Probe gestellt wird, zeigt sich das Chaos von seiner übelsten und durchaus gefährlichen Seite.

Ein englischer Fan beschrieb eine Szene so:

"Steve Grant, ein englischer Fan, der die Mannschaft im In- und Ausland verfolgt, fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Stadion und sagte, die Überfüllung des Bahnhofs sei so 'gefährlich, dass man, wenn man am Rand des Bahnsteigs stand, sein gesamtes Körpergewicht einsetzen musste, um zu verhindern, dass man auf die Gleise gestoßen wird'. Er sagte, es habe 'überhaupt keine Maßnahmen zur Kontrolle der Menschenmenge gegeben'."

Ein anderer Fan berichtete:

"Ich konnte nicht glauben, wie voll der Hauptbahnhof war. Als wir die Durchsage zum Bahnsteig unseres Zuges hörten, rannten die Leute in vollem Tempo dorthin – ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, Kinder zum Spiel mitzunehmen. Als wir dann am Bahnsteig ankamen, war da kein Zug. Erst nach 2 Uhr morgens kamen wir wieder in Düsseldorf an."

Ein weiterer englischer Fan, der mit einem Freund angereist war, der im Rollstuhl sitzt, schilderte sein Erlebnis am Bahnhof so:

"Es war ein richtiges Chaos. Die Züge kamen ohne Ankündigung an verschiedenen Stellen des Bahnsteigs an, sodass Hunderte von Menschen rannten, um sich hineinzuzwängen."

Die Liste ließe sich fortsetzen. Im Artikel werden die Gründe klar benannt. Die privatisierte und staatlich finanzierte Bahn wird als "kompliziertes Problem ohne offensichtliche Lösung" dargestellt. Das deutsche Schienennetz, das einst, vor langer Zeit, als Vorzeigeprojekt Deutschlands galt, ist zu einem Trauerspiel verkommen.

Allein die Zahlen seit 2020 sind alarmierend. Während damals noch 80 Prozent der deutschen Züge pünktlich waren, brachte es die Bahn 2021 nur noch auf 71 Prozent und 2023 auf unter 60 Prozent, ein Wert, der den von der DB offiziell angestrebten von 70 Prozent deutlich unterschreitet.

Bemerkenswert sind diese Zahlen auch deshalb, weil die Leistungen der Deutschen Bahn im Grundgesetz festgeschrieben sind. Die DB soll eine dem Gemeinwohl dienenden Versorgung garantieren, und zwar sowohl in Sachen Zuverlässigkeit als auch bezüglich der Kosten für die Bürger. Die Ticketpreise steigen jedoch seit Jahren kontinuierlich an, bei stetig sinkender Qualität.

Jahrzehntelange Versäumnisse

Die Bahn selbst gibt sich gelassen und sagt zu den aktuellen Problemen während der EM, man tue "alles, um Fußballfans pünktlich und stressfrei zu ihren Spielen zu bringen". Das Problem: "Alles" ist deutlich zu wenig, und das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass die Bahn seit Jahrzehnten unterfinanziert ist und lieber im Ausland investiert.

Die Bahn hat auch ein Fachkräfteproblem, denn sie kämpft mit zu wenigen Fahrern für Bahnen, Busse und Lkw. Das führt zu einer unzuverlässigen Taktung. Wie die Personaldecke ist auch das Schienennetz stark geschrumpft. Seit 1994 wurde ca. die Hälfte der Weichen entfernt, was problematisch ist, wenn zwei Züge aneinander vorbeifahren müssen.

Der Autor des Artikels in The Athletic zieht folgendes Resümee:

"Es ist sicherlich nicht schwer zu erkennen, wie sich ein Teufelskreis des Scheiterns entwickelt hat oder warum das Ganze während des aktuellen Turniers so dysfunktional war. Letztendlich ist es ein Problem, das schon Jahrzehnte vor der EM 2024 bestand und noch viele Jahre andauern wird."

Da hat der Mann recht, doch er äußert auch die Hoffnung, dass irgendwann, in weiter Ferne, alles doch irgendwie besser werden könnte. Denn, so der Autor, die DB plant Investitionen und den Bau neuer Linien und Verbindungen. Das dürften aber nur Absichtsbekundungen sein, die bei der Deutschen Bahn nichts Neues sind. Auf den NachDenkSeiten schrieb Ralf Wurzbacher jüngst einen Artikel mit dem Titel "Stillstandsmanagement. Die Deutsche Bahn rauscht mit Karacho vor die Wand." Darin beschreibt er den fortgesetzten Niedergang der Deutschen Bahn.

Dem Fußball und seinen internationalen Fans wäre sicherlich ein Dienst erwiesen, wenn große Sportereignisse vorerst nicht mehr in Deutschland stattfänden. In Sachen Verkehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wird das jeden Tag ein bisschen ärgerlicher. Und gefährlicher.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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