Meinung

Gedanken des Balkonisten – Sind wir bereits am Vorabend eines großen Krieges? (Teil II)

Im ersten Teil betrachtete der Balkonist die analoge geopolitische Ausgangslage vor dem Ersten Weltkrieg: zunehmende Krisen und Kriege, die teilweise immer näher an Europa heranrücken, sowie die "Bündnislandschaft", welche letztlich den grausamen Automatismus des "Weltenbrandes" beförderte.
Gedanken des Balkonisten – Sind wir bereits am Vorabend eines großen Krieges? (Teil II)Quelle: Gettyimages.ru © Alexander Welscher/picture alliance via Getty Images

Fortsetzung und Schluss von Teil I

Eine Lesermeinung von Michail Balzer

Wir haben auch gehört von bereits damals beginnender Globalisierung; von der Wandlung des seinerzeitigen imperialen Nationalismus zu einem neo-imperialistisch agierenden EU-Zentrismus heutzutage, der die ursprünglich friedenssichernde Idee der Annäherung der Völker Europas konterkariert.

Wieder wird unter Verwendung zunächst positiv klingender Schlagworte wie Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit der Völker (so wie sie nach Golo Mann erstmals im Ersten Weltkrieg von angloamerikanischer Seite bemüht wurden und sich seitdem als Begründung jedweder kriegerischen Intervention perpetuieren) eine neo-imperiale Geopolitik der Einmischung und von außen gesteuerten Veränderung betrieben (siehe auch: sogenannte "Farbrevolutionen" und "Arabischer Frühling", der letztlich keiner war). Sogar die Kriegspropaganda mit ihrer Schwarz-Weiß-Sicht, mit ihrer Aufspaltung in Gut und Böse, taucht ebenso aus unrühmlicher Zeit wieder auf: In Deutschland war kurz vor Kriegsbeginn und wie zufällig das "Schreckgespenst Russland", das eine Verschwörung plane und mit seinen Spionen Deutschland infiltriere, in weitgehender politmedialer Übereinstimmung an die Wand gemalt worden.

Zu Kriegsbeginn breiteten sich dann ungehemmt "Spionitis und Massenhysterie" aus (wie Andrej Reisin es 2019 ausführt). Der zur Jahrhundertwende gewachsene Volkswohlstand wurde durch exorbitant steigende "Sonderausgaben" für die Rüstung aufgefressen, eine Finanzmisere zeichnete sich ab, es mussten Staatsanleihen ausgegeben werden.

Passivität des Bildungsbürgertums

Diese Analogie zum heutzutage propagierten "Sondervermögen Bundeswehr" und einer drohenden finanziellen Überforderung des Staates bildet den Übergang zum zweiten Teil, wo es um die innere Situation in der Wilhelminischen Ära gehen soll.

Das Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinkte quasi in seiner demokratischen Entwicklung hinterher, vergleicht man es mit den parlamentarischen Demokratien in Frankreich und England. Seinerzeit existierte eine machtpolitisch unausgewogene Doppelstruktur von Kaiser und Kanzler (bzw. Parlament). Diese Unausgewogenheit bedingte innenpolitische Spannungen, hinzu kamen die aufstrebende Arbeiterbewegung und ihre Parteien. Man kann also auch für die Wilhelminische Ära den heute wieder modernen Begriff der "Zeitenwende" verwenden, was von vielen Zeitgenossen damals ebenso empfunden worden war.

Die allgemeine Unzufriedenheit zeigte sich auch in den (meist friedlichen) Streiks und Großdemonstrationen der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Diese wurden jedoch von den herrschenden Eliten als Bedrohung der Sicherheit bezeichnet, und so waren "Bedrohungskommunikation, Unsicherheitsgefühle und medialisierte Gewalt" ständig präsent. Ebenso wie das Gefühl, in unübersichtlichen Zeiten zu leben – welches sogar ein europaweites Phänomen war (wie es Dr. Amerigo Caruso, Universität Bonn, 2021 ausgeführt hat). Welch erstaunliche Analogien zur heutigen Ausgangslage!

Auf der anderen Seite verharrte, ähnlich wie heute, ein Großteil des überwiegend gebildeten Bürgertums in Passivität, oder um Prof. Dr. Paul Kluke zu zitieren:

"Dazu hat nicht unwesentlich beigetragen die Stumpfheit des deutschen Bürgertums, das die sozialpolitischen Aufgaben getrost der Regierung überließ."

Andere Autoren beschreiben einen alles verhüllenden Schleier der Alltäglichkeit. Gar vermochte mancher Schreiber, der die gefährlichen Tendenzen wahrgenommen hatte, selbst durch noch so eindringlich mahnende Schriften "eine Zeitgenossenschaft, die nicht gestört sein wollte in ihrer Gemütlichkeit" (Franz Pfemfert) nicht zu verändern. Anders ausgedrückt, findet sich hier jene typisch deutsche Biedermeiersche Grundhaltung. Schwant dem aufmerksamen Leser da nicht etwas, war da nicht ein parlamentarischer SPD-Hinterbänkler namens Dietmar Nietan, der sich nun mit geharnischten Worten hervortun wollte und weite Teile der Bevölkerung beschuldigte, sich eben in jenes Biedermeier zurückgezogen zu haben?

Damals "reizbare Schwäche", heute "Burn-out"

Zugleich gab es aber auch in jener vermeintlich fernen Zeit die häufig diagnostizierte "Neurasthenie", also eine "reizbare Schwäche" mit Ängstlichkeit und Ermüdung. So galt gerade die Wilhelminische Ära als ein "Zeitalter der Nervosität" (nach Joachim Radkau: "Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler"). Ist eine analoge Grundtendenz heutzutage zu verleugnen angesichts der zunehmenden Arbeitsunfähigkeiten infolge psychischer Erkrankungen? Dabei finden sich fast identische Beeinträchtigungen (man denke an den sogenannten "Burn-out" oder an die Zunahme depressiver und Angst-Erkrankungen).

Dennoch gab es Anfang des 20. Jahrhunderts, ganz im Gegensatz zu heute, bedeutende Stimmen und Demonstrationen für den Frieden. Die europäische Arbeiterbewegung (in der Sozialistischen Internationalen) hatte immer wieder betont, einen Krieg durch Verbrüderung verhindern zu wollen. Noch Ende Juli 1914 folgten etwa eine halbe Million Menschen dem Aufruf der SPD zu großen Demonstrationen gegen das "verbrecherische Treiben der Kriegshetzer". Die Aufrufe bedeutender Persönlichkeiten wie Bertha von Suttner mit ihrer Idee des Friedens und der Völkerverständigung (in ihrem Buch "Die Waffen nieder!") oder dem charismatischen französischen Sozialistenführer Jean Jaurès, der noch wenige Tage vor seinem gewaltsamen Tod auf dem Kongress der II. Internationalen in Brüssel die Massen zum Frieden ermahnt hatte, verhallten ergebnislos. Das tödliche Attentat auf Jaurès geschah übrigens am 31. Juli 1914, also unmittelbar vor Kriegsbeginn – nur ein tragischer Zufall?!

Diese Stimmen wurden offensichtlich aber immer weniger gehört und vom Parlament letztlich ignoriert. Oder wurden sie gar von führenden Politikern und dem Kaiser wie auch von der von Trägheit und "nervöser Schwäche" befallenen Bevölkerung nie ernsthaft wahrgenommen? Schließlich sollte die SPD nur wenige Tage nach der letzten Anti-Kriegs-Demonstration bereits Ende Juli "umkippen", getrieben und manipuliert von gezielt inszenierter antirussischer Propaganda, die sodann kritiklos übernommen wurde. Womöglich wollte das Gros der Bevölkerung, einerseits von unverkennbarem Kriegsgetrommel erregt und zugleich in ihrer "biedermeierlichen Gemütlichkeit" empfindlich gestört, aufgrund der andererseits ausgeprägten Lethargie und Passivität überhaupt nicht an die sich abzeichnende Katastrophe denken?! So ergab sich vermutlich jene merkwürdige, nervös-angespannte und zugleich das drohende Übel verdrängende gesellschaftliche Stimmungslage unmittelbar vor Kriegsausbruch, die nicht nur Thomas Mann beschrieben hat. Wenn dann der als unmöglich erachtete Schrecken plötzlich auf die Bühne tritt, so ereilt den schlafwandelnden Bürger ein böses Erwachen, das in einen langen Albtraum übergeht. Ähnlich hat es Henri Bergson formuliert:

"... die Leichtigkeit, mit der sich der Übergang vom Abstrakten zum Konkreten vollzogen hatte: Wer hätte gedacht, dass eine so furchtbare Möglichkeit ihren Eintritt in die Wirklichkeit mit so wenig Schwierigkeit vollziehen könnte?"

Auf der politischen Bühne sah es tatsächlich nicht viel besser als im Bürgertum aus, wie Prof. Dr. W. Conze ausführt:

"Der britische Premierminister Lloyd George hat rückblickend den Mangel an großen Führungspersönlichkeiten bei allen Mächten bedauert. Darum hätten sie alle im entscheidenden Moment versagt. 'Sie glitten gewissermaßen hinein, oder besser, sie taumelten oder stolperten hinein, vielleicht aus Torheit' " [Prof. Dr. Werner Conze im Kapitel "Der erste Weltkrieg (1914 – 1918)" in: "Unser Jahrhundert im Bild", 1964].

Bezeichnend ist auch die Charakterisierung des damaligen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, der, als zögerlich und zauderhaft beschrieben, oftmals auch ambivalent agierend, sich nicht eindeutig genug für den Frieden eingesetzt hatte (zu einer Zeit, als es noch in seiner und des Parlamentes Macht gelegen hätte, den anlaufenden Prozess zum Krieg zumindest zugunsten von Verhandlungen zu verzögern, wenn nicht gar zu stoppen). Zuletzt schien er selbst gar mit jenen kriegstreibenden Intriganten zu sympathisieren, die auch durch perfide antirussische Propaganda den Umschwung in der SPD bewirkt hatten.

Letztlich mag der kritisch eingestellte Leser entscheiden, ob auch er die vielfältigen historischen Analogien sieht oder ob er eine optimistische Sichtweise bevorzugt, womöglich eine "biedermeierliche" Grundhaltung. Vielleicht fallen auch weitere wie zufällig wirkende Ähnlichkeiten der Personen und Paraphrasierungen auf, ähnliche Charakterschwächen und Verhaltensweisen des politischen Personals damals wie heute.

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