Meinung

Eintritt frei, Auswandern kostet eine Milliarde: Russlands Lektion für westliches Kapital

Nach Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine haben hunderte Unternehmen und Konzerne aus dem Westen ihr Russland-Geschäft aufgegeben. Inzwischen wurden Gewinne und Verluste für das Jahr 2023 gezählt. Zeit, eine Bilanz zu ziehen.
Eintritt frei, Auswandern kostet eine Milliarde: Russlands Lektion für westliches KapitalQuelle: Sputnik © RIA Nowosti

Von Sergei Sawtschuk

Russland ist bekannt für seine großzügige Seele. Für gute Menschen ist es wie eine Mutter, für schlechte Menschen wie eine böse Schwiegermutter. Auf staatlicher Ebene ist es seit langem üblich, all jene willkommen zu heißen, die arbeiten, Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen wollen.

Mit dem Beginn der militärischen Sonderoperation ergriffen viele Unternehmen und Marken, die seit Jahren in Russland präsent waren, die Flucht. Einige freiwillig und aus Überzeugung, andere nur unter Zwang, denn weder in Washington noch Brüssel oder London scheut man sich, ungehorsame Freidenker zu erdrosseln. Einige sind wirklich gegangen, viele haben den brennenden Wunsch nur vorgetäuscht, Russland den Rücken kehren zu wollen und hielten sich hartnäckig wie festgeklebt auf der Türschwelle, um weiter heimlich die erzielten Gewinne zu zählen.

Mit dem heutigen Tag hat die finnische Metsä-Gruppe als letztes großes Unternehmen aus diesem skandinavischen Nachbarland ihre Aktivitäten in Russland endgültig eingestellt.

Wie der neuen Eigentümer – die Aktiengesellschaft Unternehmensgruppe Wologda Holzindustrie – bekannt gab, hat sie vier finnische Tochtergesellschaften im Leningrader Gebiet übernommen, nämlich die geografisch getrennt wirtschaftenden Metsä Swir, Metsä Forest Sankt Petersburg, Metsä Forest Podporoshje und Metsä Bord Rus. Das ist schon auf den ersten Blick eine gute Nachricht, denn die Einwohner von Wologda haben bereits angekündigt, dass sie bereit sind, alle bisherigen Mitarbeiter weiterzubeschäftigen und ein Werk wieder in Betrieb zu nehmen, das von den Finnen demonstrativ 2022 aufgegeben wurde.

Weder Beträge noch andere Bedingungen des Deals wurden bekannt gegeben, aber angesichts der Tatsache, dass Metsä seit mehr als zwei Jahren nach einem Käufer gesucht hatte, kann man davon ausgehen, dass die Finnen ihre russischen Tochtergesellschaften entweder mit erheblichem Verlust verkauft oder sich ein Schlupfloch für eine stille Rückkehr gelassen haben. Das ist genau das, was viele der zuvor geflohenen Unternehmen bereits getan hatten.

Nur eine kurze Anmerkung, damit es nicht so aussieht, als würden wir über die Schließung einer Döner-Bude berichten.

Die Metsä-Gruppe besteht seit fast 80 Jahren und beschäftigt in ihren Sägewerken mehr als 9.000 Mitarbeiter, was sicherlich nicht mit der Zahl der Beschäftigten in Stahlwerken vergleichbar ist, aber im Rahmen der modernen Automatisierung von Arbeitsvorgängen doch eine ganze Menge ist. Das Unternehmen stellt eine breite Palette von Produkten her, darunter Toiletten- und Küchenpapier, Papierhandtücher, Karton- und Zelluloseprodukte, Schnittholz, Sperrholz, Geotextilien (technische Gewebe für Erdarbeiten) und vieles mehr. Aus den zuletzt veröffentlichten Jahresabschlüssen für 2021 geht hervor, dass der Gesamtumsatz von Metsä mehr als sechs Milliarden Euro betrug. Dann begann die militärische Spezialoperation - das Werk Metsä Swir wurde geschlossen und der Holzeinkauf für die Werke des Unternehmens in Finnland und Schweden wurde eingestellt.

Wie sagt ein altes finnisches Sprichwort: Jeder ist seines Glückes Schmied – oder auch nicht, je nachdem.

Die Listen der Unternehmen, die das gastfreundliche Russland verlassen haben, werden nicht mehr oft aktualisiert, da die größte Fluchtwelle bereits versiegt ist und aktuell nur die letzten Hartnäckigen von den westlichen Machtzentren unter Druck gesetzt werden. Aber die Zahlen über ihre finanziellen Verluste werden immer noch regelmäßig aktualisiert. Gleichzeitig wird die Höhe der Gewinne derjenigen, die in Russland geblieben sind, an die gehorsame Presse weitergegeben, was für diejenigen, die das Land verlassen haben, besonders ärgerlich ist.

Ende letzten Jahres meldeten der auf den Bermudainseln registrierte und von Amsterdam aus operierende Telekommunikationsriese Veon (fast vier Milliarden Euro), die französischen Automobilhersteller der Renault-Gruppe (2,5 Milliarden Euro), die US-Fastfood-Kette McDonald's und der Schweizer Ölhändler Glencore mit jeweils 1,2 Milliarden Euro die größten Verluste aus der Einstellung ihrer Geschäftstätigkeit in unserem Land. Der italienische Energiekonzern für Stromerzeugung Enel, der Schwermaschinenbau der deutschen Siemens AG, der britische Tabakhändler British American Tobacco und der japanische Automobilhersteller Nissan verloren jeweils zwischen einer halben Milliarde und 800 Millionen Euro. Der britische Mineralölkonzern Shell und das amerikanische Ölfelddienstleistungsunternehmen Baker Hughes verloren etwas weniger als eine halbe Milliarde Euro. Ihr Russland-Geschäft gaben außerdem auf: Visa, Mastercard, American Express, Hapag-Lloyd, FedEx, UPS, DHL Express, Cyprus Post, Google Pay, Maersk, CMA CGM, Apple Pay, PayPal, MSC, Scan Group (ehemals Shipco), Ocean Network Express, Binance, Goldman Sachs, JPMorgan Chase und Western Union.

Und so weiter und so fort. Die Liste ist lang, und wer sich dafür interessiert, kann die anderen Geschäftsverweigerer leicht selbst recherchieren.

Der größte Teil der Transaktionen, bei denen es um die Übertragung gut etablierter Unternehmen mit unterschiedlicher Rentabilität ging, wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgewickelt – weder die Summen noch die Bedingungen wurden offengelegt. Hinter den Kulissen halten sich jedoch hartnäckig Gerüchte, dass viele (wenn nicht sogar die meisten) ausländischen Unternehmen ihre Anteile verkauft und Produktionsanlagen weit unter dem Marktwert übertragen haben. Die klügeren und flexibleren Unternehmen haben ihre Anteile entweder an ihre eigenen Tochtergesellschaften oder an Dritte verkauft, allerdings mit der obligatorischen Auflage, dass sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums (in der Regel fünf bis sieben Jahre) alles zum gleichen Preis zurückkaufen können. 

Wir haben oft und viel darüber gelesen, wie unsere Unternehmen aus der Europäischen Union und dem Westen im Allgemeinen verdrängt werden – meist in eklatant illegaler Weise. Aber das ist ein Spiel, das immer nur zwei Spieler spielen können. Jede spezialisierte Nische – sei es die Wartung von Bohrmaschinen, die Herstellung von Schreibpapier oder das Stanzen von Nägeln – ist immer eng, und alle Akteure in dieser Nische kennen sich gegenseitig. Wenn nicht direkt, dann durch einen Mittelsmann.

Als westliche Unternehmen begannen, ihre ernsthaften Absichten anzukündigen, das gastfreundlichste Land der Welt zu verlassen, begaben sich deren russische Konkurrenten in einen geduldigen Wartezustand. Denn sie hatten nichts zu verlieren, während diejenigen, die ihre Unternehmen verlagern sollten und auch wollten, ihre Fabriken, Zeitungen und Schiffe verkaufen mussten, weil sie von Politikern in Washington und Brüssel im festen Würgegriff an der Gurgel gehalten wurden. Gleichzeitig verlangte aber Moskau von ihnen, gefälligst alle Steuern zu zahlen und sonstigen Verpflichtungen zu erfüllen, bevor es Richtung Ausgang gehen konnte. Aus diesem Grund hat es in einigen Fällen zwei Jahre gedauert, bis die Vermögenswerte verkauft werden konnten. Die Käufer wanden sich, sie tricksten, sie feilschten, sie verschleppten – immer in der Hoffnung auf bessere Bedingungen.

In der Sprache der wilden 1990er Jahre nannte man das "den Kunden reifen lassen". Einige westliche Konzerne akzeptierten die neuen Realitäten schnell, andere zögerten, aber das Ergebnis war stets das gleiche. All diejenigen, die einst nach Russland kamen, um hier Profite zu schröpfen, wurden am Ende selbst geschoren. Nothing personal, just business. Solange sie für Russland arbeiteten, unterlagen sie den Gesetzen der geschäftlichen Gastfreundschaft, aber sobald sie sich in unfreundliche Farben gehüllt haben, gilt das Gesetz des Kapitalismus in seiner vollen Pracht. 

Lassen Sie uns noch etwas Salz in die Wunden streuen.

Während diejenigen, die gegangen sind, ihre Verluste zählen, verkünden diejenigen, die geblieben sind, ein Vielfaches an Umsatz- und Gewinnzuwachs. Die Financial Times hat errechnet, dass die in Russland verbliebene österreichische Raiffeisen-Bank doppelt so viel Geld verdient hat wie alle anderen Niederlassungen zusammen. Der Gewinn des Finanzkonzerns lag im vergangenen Jahr bei 1,7 Milliarden Euro, 70 Prozent davon entfielen auf die russische Niederlassung. Die österreichischen Banker reagieren auf alle Angriffe, indem sie immer beteuern, dass sie Russland sehr bald verlassen werden. Währenddessen suchen sie derzeit noch auf ihrer Website neue Mitarbeiter.

Aber der größte Rekordhalter ist wahrscheinlich die ungarische Bank OTP Group. Für das Jahr 2023 meldete das Unternehmen einen Gewinnanstieg auf 1,3 Billionen Rubel, das sind 200-mal mehr als im vorangegangenen Finanzjahr.

Lassen Sie uns die Gedanken mit einer russischen Volksweisheit abschließen. Willst du in Russland arbeiten, dann arbeite und werde reich – melke die Kuh, wie es wörtlich heißt. Wenn nicht, dann bist du frei zu gehen, aber die Kuh bleibt hier!

Übersetzt aus dem Russischen und im Original auf ria.ru veröffentlicht am 16. Mai 2024.

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