Der Balkonist: Über den Umgang mit Kunst und die Pflege der Kultur – eine subjektive Betrachtung
Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Bei Betrachtung des Umgangs mit Kunst und Kultur vermeine ich deutliche Unterschiede zwischen Russland und dem heutigen "wertewestlich orientierten" Europa zu erkennen. "Wahre Kunstwerke", das heißt solche mit Gehalt und von epochaler Bedeutung, die jahrzehnte- bis jahrhundertelang nicht nur von Kunstexperten hoch geschätzt worden sind, werden weltweit teils aufwendig restauriert, um sie dann aber oftmals nur einem begrenzten Publikum zugänglich zu machen. Manche Werke "verschwinden" gar nach Auktionen, gerne beispielsweise nach solchen in London (Stichwort: Sotheby's), völlig aus den Augen der Öffentlichkeit, weil ein unbekannter Millionär sie für eine Unsumme erworben hat – so wie man vormals Jagdtrophäen sammelte.
Dies scheint mir – man möge mich bei Bedarf korrigieren – in Russland doch ein wenig anders zu sein. Eine Besonderheit in Russland ist, dass bedeutende Kunstwerke gerne sogar "wandernd" an verschiedenen Orten ausgestellt werden, um so einer großen Zahl Kunst- und Kulturinteressierter die Betrachtung als physischen Prozess zu ermöglichen. Eben dieses Publikum, neben akademischen Kunstexperten auch die große Zahl Kunst- und Kulturinteressierter in der Bevölkerung, schätzt solche Kunstwerke außerordentlich, pilgert selbst zu entfernten Museen und Ausstellungsorten. Schulklassen wird offenbar regelmäßig der Besuch hervorragender Kunstausstellungen ermöglicht, damit Kinder und Jugendliche ein Gefühl für die Bedeutung und den Wert der kulturellen Güter entwickeln können (derartige bildende Klassenfahrten scheinen heutzutage in Deutschland leider "aus der Mode gekommen" zu sein). Ich denke in diesem Zusammenhang zunächst an die aktuelle Meldung über die Ausstellung des Gemäldes "Turmbau zu Babel" in der Eremitage in Sankt Petersburg.
Beachtlich sind hier die tiefschürfenden neuen Erkenntnisse, welche erst im Rahmen der Restauration erlangen werden konnten (das heißt die gemeinsame Urheberschaft von vier bedeutenden niederländischen Meistern des 19. Jahrhunderts). Wie überaus exakt und vorsichtig mussten die Restauratoren vorgegangen sein, um die hierfür notwendigen subtilen Details ans Tageslicht zu bringen! Ist diese restauratorische Betätigung nicht bereits selbst etwas Kulturschaffendes, das neue Momente aus altbekannten Werken hervorbringt? Über welch unschätzbare Expertise verfügt die Eremitage in Sankt Petersburg, wo man anschließend eine Zuordnung zu nicht weniger als vier der namhaftesten niederländischen Künstler treffen konnte! Eine Zuordnung, die – wie nun zu erfahren ist – von einer externen Expertin für Flämische Malerei aus Antwerpen vollumfänglich bestätigt wurde.
Ein weiteres Beispiel der herausragenden Fachkenntnis und des handwerklichen Könnens der beteiligten Restauratoren liefert auch die unlängst abgeschlossene langwierige Restaurierung vom "Portrait eines jungen Mannes" (wahrscheinlich von Perugino). Auch hier war unter Verwendung modernster Methoden eine Wiederherstellung feiner, bislang verloren geglaubter Bilddetails gelungen.
Man denke auch an die großartige Ikonensammlung des Kunstmuseums in Jaroslawl und an die Restaurierung der wundertätigen Ikone "Unsere liebe Frau Bogoljubskaja" (zunächst in Wladimir ausgestellt), welche unlängst in RT-Artikeln gewürdigt worden sind. Letztgenannte Ikone, eine der ältesten überhaupt, war nicht nur über einige Jahrzehnte restauriert worden, sondern hat eine ebenso dramatische, wundersame wie wundertätige Geschichte.
Im wertewestlichen Europa hingegen scheint es eine Laune des immer mehr verflachenden Zeitgeistes zu sein, dass "Schmuddel-Terroristen" epochale Kunstwerke "im Handstreich" mit Farbeimern attackieren oder gar mit Messern zerschneiden – wozu dann noch manch hohler Zeitgenosse zu applaudieren bereit ist. Ebenso kleben selbsternannte "Klimaretter" ihre ungewaschenen Hände an absolut schützenswerte Kunstobjekte, wohl um in ihrer irrwitzigen Logik zu verdeutlichen, dass das Weltklima schützenswerter als die bedeutendsten Kunstwerke sei. Gelingt danach doch noch eine wenigstens teilweise Wiederherstellung des Gemäldes, so wird dasselbe wahrscheinlich anschließend in eine "besondere Sicherheitsverwahrung" genommen, deutlich entfernter den Blicken der wirklich Kunstinteressierten.
Dergestalt können, durchaus auch prophylaktisch zum Schutz, kulturelle Werke der Öffentlichkeit teilweise entzogen werden (denn dafür, so sei zynisch überspitzt angemerkt, benötigt man dann heutzutage keine Bilderstürmerei mehr). Man mag einwenden, dass man diese Werke ja problemlos "virtuell" im Netz anschauen könne, was zunächst einmal richtig ist. Aber ist nicht dennoch die physische Nähe und der ungetrübte Blick mit eigenen Augen unvergleichlich mehr wert und bietet nicht allein dieser Genuss ein besonderes und lebendiges Kunsterlebnis? Es ist doch ähnlich auch mit einem hervorragenden Konzert in einer Philharmonie, die ebenfalls nicht durch die besten Aufnahmen auf einer Schallplatte oder CD ersetzt werden kann!
Auf der anderen Seite haben wir dann jene pompös inszenierten aber oft steril wirkenden "Top Events", das heißt Kunstausstellungen in namhaften Hallen, wo für nicht gerade kleines Eintrittsgeld eine Unmenge an Besuchern hindurchgeschleust wird. Zu den Exponaten gereicht man dann oftmals "politisch korrekt" aufbereitete, oberlehrerhafte Kommentare. Wenn es dann noch korrekter und gar im Zusammenhang mit spezieller zeitgeistiger Thematik stehend sein soll, presst man die (durchaus nicht immer logisch und ästhetisch exakt) ausgewählten Kunstwerke in sogenannte Themenausstellungen.
Man ahnt es: Das betreute Denken und der Kommerz sind hier wichtiger als ein eigenständiger Kunstgenuss eines unvoreingenommenen Betrachters. Als wäre dies alles nicht schon genug der Denkbeeinflussung, so ergießt sich aus öffentlich-rechtlichen Kanälen eine schiere Unmenge kulturellen wie intellektuellen Mülls sowie noninformativer Sendungen in die Gehirne der fernsehenden Zeitgenossen.
"Kultur ist Reichtum an Problemen", schrieb einmal Egon Friedell – heute scheint westliche Kultur hingegen durch geistige Armut und Einengung geprägt zu sein. Ein weiteres unrühmliches Bild der kulturellen Zustände im besten Deutschland aller Zeiten gibt unfreiwillig der derzeitige Bundeskanzler mit jenem völlig aus dem Sinnzusammenhang gerissenen Zitat von Immanuel Kant über Friedensverhandlungen. Was früher selbst Volksschülerin Lieschen Müller wusste, nämlich dass man Bücher, aus denen man zitiert, möglichst auch selbst gelesen haben sollte, scheint dem heutigen Regierungschef unbekannt – oder entfallen zu sein. Wo soll so etwas noch hinführen? Oder wie es einst so treffend formuliert Karl Kraus zugeschrieben wird: "Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten."
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