"Unsere Kinder kriegt ihr nicht" – Mutige Berliner verurteilen deutsche Kriegspläne gegen Russland
Von Wladislaw Sankin
Symbolischer als an diesem Ort ging es wohl kaum. Warnende, zornige Reden vor dem ersten Ehrenmal in Berlin, das zu Ehren der sowjetischen Soldaten direkt nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands errichtet worden war: Links und rechts zwei legendäre Kampfpanzer der Roten Armee T-34 auf den Sockeln, eine wuchtige Soldatenfigur im Zentrum und im Hintergrund durch die noch unbelaubten Bäume des Tiergartens die schimmernde neue Glaskuppel des früheren Reichstagsgebäudes, des heutigen Deutschen Bundestages.
"Dieser Ort erinnert uns an das, was im Namen Deutschlands angerichtet worden ist – in dem größten Vernichtungs-, Eroberungs- und Versklavungskrieg gegen die Sowjetunion", rief die Rednerin Christiane Reymann vor den annähernd zweitausend Versammelten: "Deswegen: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!"
Reymann war zusammen mit ihrem Ehemann, dem Ex-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke, Gründungsmitglied der Partei Die Linke, und beide verkörpern wie nur wenige andere Mitglieder den klar russlandfreundlichen Flügel der Linkspartei. Seit dem in den letzten Jahren festzustellenden Schwenk dieser Partei auf einen antirussischen und Pro-NATO-Kurs und einem damit einhergehenden Zerbröseln und Aufspalten suchen sie und ihre Mitstreiter in der Friedensbewegung nach neuen Koalitionen, die den Protesten wieder Schwung geben können.
An diesem Sonntag waren die bekanntesten Mitstreiter der Hamburger Arzt, Buchautor und Offizier der Reserve Heiko Schöning, dessen Ehefrau Gesa, eine Verlegerin, der Major a. D. Florian Pfaff, der Publizist Uli Gellermann sowie der Filmregisseur Alexander Tuschinski. "Frieden statt Kriegstreiberei!", hieß offiziell die Kundgebung, die unter dem Eindruck des Skandals um die sogenannte Taurus-Enthüllung nur wenige Tage im Voraus bekanntgegeben worden war.
"Ohne Schöning-Gefolgschaft hätten wir bei weitem nicht so viele Leute zusammengekriegt", sagte Reymann in unserem Gespräch nach ihrem Auftritt. Am zweiten Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar war sie bei einer ähnlich gerichteten Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt als Rednerin dabei. Dort waren Menschen aus dem DKP-Umfeld und kritische Gewerkschafter mit dabei. Gekommen waren damals etwa 300 Menschen.
Schöning, der von Anfang an als Arzt auch die staatliche Pandemie-Politik zu Corona-Zeiten öffentlichkeitswirksam kritisiert hatte, ist bei den sogenannten Querdenkern bekannt. Angemeldet wurde diese Kundgebung von Michael Bründel alias DJ "Captain Future", ein ebenfalls in den Medien verunglimpfter angeblicher "Corona-Verharmloser". Seine Anwesenheit gab der dreistündigen Veranstaltung eine unterhaltsame Note und einen ebenso unverwechselbaren musikalischen "Touch". Auch haben Menschen aus der "Corona-Bewegung" diese Friedenskundgebung erheblich verstärkt.
Dennoch sind es immer noch wenige, die auf die Straße gehen – die einst machtvolle Friedensbewegung ist in Deutschland immer noch gespalten in vermeintlich "links" und "rechts". Zu befangen sind viele Menschen in ihren beruflichen und sozialen Milieus. Diesmal waren allerdings auch bis zu zwanzig Vertreter des Protest-Netzwerks "Autokorso Berlin" mit dabei, sie nennen sich Patrioten. Am Sonntag schwenkten sie deutsche und russische Fahnen und warben auf ihren Plakaten wieder für die deutsch-russische Freundschaft. Warum protestierten sie mit?
Das erklärt mir Silke, die seit Beginn der Corona-Maßnahmen vor vier Jahren beim Korso mitmacht. "Erstens: wir wollen Frieden mit Russland, das ist ganz klar. Die Russen verhalten sich trotz allem sehr besonnen zu uns Deutschen, vor ihnen habe ich keine Angst." Dann kommt sie als Mutter zweier erwachsener Söhne auf die Wehrplicht zu sprechen. "Ich diskutiere viel mit den Menschen, die ihre Meinung aus den Medien schöpfen. Mein letztes Argument ist immer der Einberufungsbefehl. Dann hört auch bei denen Ukraine-Unterstützung auf."
Das trifft den Nerv vieler. Als Gesa Schöning in ihrer Rede gerufen hatte "Unsere Kinder kriegt ihr nicht", hat die Menge diese Parole aufgegriffen. Mit jeder Wiederholung wurde der Ruf immer lauter und es ging immer weiter, bis die Rednerin ihre Rede fortsetzen konnte. Emotional war das wohl der Höhepunkt an diesem Tag.
Aber es gab auch einen anderen Höhepunkt, den schaurigsten. Christiane Reymann hat am Sonntag ihre bislang wohl schärfste und eindringlichste Rede gehalten. Sie erinnerte an die Gräuel-Propaganda vor dem bundesdeutschen Mitwirken beim völkerrechtswidrigen NATO-Angriff auf Jugoslawien im Jahre 1999, weil die Serben laut dem damaligen deutschen Bundesminister der Verteidigung Rudolf Scharping (SPD) angeblich Föten der Albaner gegrillt hätten. Danach bombardierte die NATO gleich am ersten Tag – trotz ausdrücklicher Bitten der serbischen Regierung um Rücksichtnahme – ein Chemiewerk, was zur Verseuchung der ganzen Gegend durch Phosgen führte. Dies sei im Grunde wieder die erste deutsche Attacke mit Giftgas nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, kommentierte Reymann das.
Ihrem Publikum musste die Rednerin nicht erklären, dass die heutige antirussische Propaganda in gleiche Kerbe schlägt – den Feind möglichst als grausames Monster darzustellen, das "uns alle" vernichtet, wenn es nicht besiegt wird. Ihr Publikum weiß genau Bescheid. Aber wie sieht es da draußen aus? Sind die Menschen in Deutschland schon wirklich genügend wachgerüttelt, um dem kriegerischen Treiben mit den ihnen verfügbaren Methoden durch Protest auf den Straßen oder gar durch sonstigen zivilen Ungehorsam ein Ende zu setzen? Das ist nicht ganz klar. Aber Uli Gellermann rief der Menge zu: "Die Mehrheit der Deutschen denkt wie ihr!"
Er argumentierte mit den Umfragen-Ergebnissen, wonach sich 58 Prozent der Deutschen gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine aussprechen. Aber warum sind sie dann nicht deswegen auch auf den Straßen? Geht es bei dieser Debatte etwa nicht um das wichtigste Bedürfnis der Menschen, das nach Sicherheit? Denn eigentlich war und ist die Lieferung von Taurus-Waffen gegen den Willen der Mehrheit dieser Menschen – und dennoch in einer nur mühsam verschleierten Form vom Deutschen Bundestag am 21. Februar beschlossen worden. Nach der Taurus-Debatte hätten sie zum ersten Mal (in der deutschen Nachkriegsgeschichte) in einem Beschluss des Deutschen Bundestages explizit das heutige Kriegsziel Deutschlands definiert, sagte Reymann und las aus dem Beschluss wörtlich vor:
"Präsident Putin und sein Regime müssen diesen Krieg verlieren. Russland muss scheitern."
Wenn das keine Kriegserklärung ist, was sind diese Worte dann? Wann wird es noch nicht zu spät sein, diesem Wahnsinn dieser "durchgeknallten Rachsüchtigen" (Reymann) ein Ende zu setzen? Viele denken offenbar immer noch, man könnte die Krise aussitzen oder die Dinge mit einem Like auf YouTube oder in Facebook noch regeln. "Es ist fünf vor Krieg" lautet der jüngste Gellermann-Satz, und er scheint keine Metapher mehr zu sein, sondern eine treffende Zustandsbeschreibung.
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.