Meinung

Kleiner Exodus: Wie Großfamilien aus dem Westen nach Russland kommen

Noch keine Massenwanderung, aber immer mehr Familien aus Ländern wie Australien, Kanada oder den USA wandern nach Russland aus. Die sozialen Medien füllen sich mit ihren Geschichten. Was um alles in der Welt könnte diese Leute wohl dazu bewegt haben?
Kleiner Exodus: Wie Großfamilien aus dem Westen nach Russland kommenQuelle: Sputnik © Виталий Белоусов/РИА Новости

Von Elem Chintsky

Ein auf den ersten Blick kontraintuitiver Trend scheint an Tempo zu gewinnen: Der Auszug von Großfamilien aus westlichen Nationen in die – Russen selbst sind perplex – von westlichen Medien "viel zitierte" Russische Föderation.

Präsident Wladimir Putin rief vor kurzer Zeit das Jahr 2024 als das "Jahr der Familie" aus. Neben den vermehrten öffentlichen Aufrufen an junge Russen, zu heiraten und kinderreiche Familien zu gründen, ging auch eine generelle Einladung in alle Länder der Welt raus, nach Russland zu ziehen. Um hier ein neues, familienfreundliches, ideologiearmes und traditionell-konservatives Leben zu beginnen.

Um einen tieferen Einblick in die Beweggründe dieser Familien zu erhalten, nach Russland ziehen zu wollen, befragte ich einige Aktivisten und Organisatoren, die diese Prozesse unterstützen und begleiten. Es handelt sich um Leute, die in diesem Feld über Jahre bereits viel Erfahrung gesammelt haben – der Gründer der "Amerikanischen Dörfer in Russland", Tim Kirby, sowie der renommierte russische Rechtsanwalt für Einwanderung, Timur Beslangurow.

Tim Kirby nimmt kein Blatt vor den Mund und zählt die für manche ominös erscheinenden Gründe unmissverständlich auf:

"Die Schlüsselfaktoren, welche die Menschen dazu antreiben, sind:

  • Sie wollen ihre Kinder vor dem Jugendamt und der LGBT-Ideologie im Westen schützen. 

  • Sie wollen der antichristlichen Unterdrückung im Westen entkommen.

  • Sie haben russische Vorfahren oder eine andere Verbindung zu Russland. 

  • Sie mögen Putin."

Fragt man einen westlichen Durchschnittsbürger nach seiner Meinung zu ebendiesen Beweggründen, wäre in Anbetracht der soziopolitisch extrem angespannten Atmosphäre im Westen sicherlich ziemlich wenig Verständnis zu finden. Die kognitive Festung der pluralistischen Ignoranz, in welche sich der westliche Gesellschaftsteilnehmer – gedeckt von der Behauptung eines "echten Pluralismus" – hat locken lassen, ist zurzeit noch zu stark. Der neoliberal Gleichgeschaltete ist der stringenten Überzeugung, dass das traditionelle, konservative Christentum im Westen einerseits keiner Verfolgung oder Unterdrückung obliegt – andererseits gleichzeitig die Wurzel allen Übels ist: Frauenfeindlichkeit, Hindernis vollkommener sexueller Freiheit und Perversion sowie Anfechtung der neofaschistisch-eugenischen Gendergaga-Ideologie.

Zurück zu Herrn Kirby und seinem Einwanderungsprojekt. Laut ihm handelt es sich dabei um "eine rein private, nicht staatliche Initiative, die Englisch-Muttersprachlern dabei helfen soll, ein neues Leben in Russland zu beginnen. Indem sie ein Haus in einer unserer Gemeinden kaufen und wo sie Hilfe sowie Unterstützung von Gleichgesinnten erhalten können. Es bietet eine Möglichkeit, auf legale Weise über die ansonsten unmöglich zu überwindende Einwanderungsquote hinwegzukommen, und verschafft Ihnen das Haus Ihrer Träume in Russland."

Tim Kirby ist außerdem überzeugt, dass "Christen aus aller Welt hierherkommen wollen, aber die Tore zum Dritten Rom sind leider für alle außer den Gerissensten und Hartnäckigsten verschlossen."

Ganz nebenbei. Wenn man auf Wikipedia oder Google den religiös-politischen Begriff des "Dritten Roms" nachschlägt, findet man nur eine liberalistisch extrem voreingenommene und mit angelsächsischen Vorurteilen gespickte Definition. Kirby spricht aber von einer äußerst positiv konnotierten Auslegung des "Dritten Roms" – nämlich Moskau, beziehungsweise Russland, als letzte und staatsräsonierte Bastion der Christenheit auf Erden. Und genau da erscheint wohl der Begriff eines modernen "Exodus" in Richtung Russlands passend – nicht nur für orthodoxe Christen.

Eine gründliche historische Abhandlung des "Dritten Roms", die ideologisch uneingefärbt, aufrichtig und mit Achtung russischer Geschichte vorgeht, ist die von Matthew Raphael Johnson – "The Third Rome: Holy Russia, Tsarism and Orthodoxy" (2004), zu Deutsch: "Das Dritte Rom: Heiliges Russland, Zarismus und Orthodoxie".

Der juristische Einwanderungsexperte Beslangurow unterstreicht außerdem, dass es sich bei dem Phänomen noch lange nicht um irgendeine Art "neues Gesetz", "frisches Einwanderungsprogramm" oder "Gesetzesreform" handelt, sondern vorerst eine Idee darstellt, die er und seine Kollegen an einige hochgestellte, russische Beamte herangetragen haben. Die Idee lautete, besonders westliche Familien, die vor der Verfolgung durch die eigenen staatlichen LGBT-Lobbys in den Heimatländern, darauf hinzuweisen, dass sie – selbst unter den jetzigen Einwanderungsgesetzen – nach Russland kommen können. Diese Idee sei "genehmigt worden" – was eigentlich nur hieß, dass ein paar "Mechanismen innerhalb des Einwanderungsprozesses korrigiert wurden", so Beslangurow. 

Bisher waren es nämlich Einwanderer aus Tadschikistan und Usbekistan, welche üblicherweise die Einwanderungsquoten Russlands überproportional dominierten. Durch die Arbeit von Beslangurow und Kirby werden individuelle Oblasten auf konkrete Großfamilien aus dem Westen im Voraus aufmerksam gemacht. Diese Regionalverwaltungen prüfen den Hintergrund und das Profil der jeweiligen Familie. Im Falle, dass die Regionalpolitik interessiert ist, verspricht sie der Familie Unterstützung nach der Ankunft und ersten Akklimatisierung in Russland. Über diesen von Kirby und Beslangurow geführten Info-Blog kann man einen ersten Antrag stellen, um im Vorhinein, ohne bereits in Russland physisch angekommen sein zu müssen, für eine solche Einwanderungsquote berücksichtigt zu werden. Auf diese Weise wird der westlichen Großfamilie mit mindestens drei Kindern eine Art Vorabgenehmigung ausgesprochen, dass der Hauptantrag – dieser wird erst Vorort in Russland gestellt – allerhöchster Wahrscheinlichkeit nach auch genehmigt wird.

Kurzfristige Einreisen, wie mithilfe des "elektronischen Visums", welches Moskau seit August 2023 ermöglicht, ist bereits ein wichtiger Hinweis darauf, dass Russland sich – entgegen aller Sanktionen und Einschränkungen gegen sich – durchaus Gedanken darüber macht, wie man Ausländern eine reibungsfreie Einreise ermöglicht. Für die "lange Frist" und den "langen Aufenthalt" sei aber bürokratisch und gesetzgeberisch auf jeden Fall noch viel Nachholbedarf im Kreml.

Zurück zu den Gründen, den Westen zu verlassen: Aus seiner Praxis kann auch Beslangurow bestätigen, dass laut den betroffenen Familien im Westen "an allen Fronten der Zerfall der zivilisierten Gesellschaft läuft – wir reden von LGBT, Drogen, Verbrechen und auch von einem generellen Wirtschaftseinbruch, Einschränkung der Rede- und Religionsfreiheit".

Die Familien selbst stellen sich vor

Die kanadische Großfamilie mit 9 Kindern, die erst vor Kurzem nach Nowgorod gekommen ist, wurde sogar vom russischen Staatsfernsehen aufgegriffen. Außerdem führt Arend, der Familienvater, einen informativen Video-Blog über das russische Abenteuer seiner Familie. Arend hat in einigen Interviews der letzten Monate unterstrichen, dass die familienfeindliche, liberale LGBT-Politik seines Landes unter Trudeau ihn und seine Ehefrau Anneesa zu dieser Lebensentscheidung bewegt hat.

Dann gibt es eine australische Großfamilie, die vor 4 Jahren in die Region Altai gezogen ist. Sie betreibt ihre eigene Farm, bereist ganz Russland und liefert ein erfrischendes Gegengewicht zu der systemischen, russenfeindlichen Berichterstattung der westlichen Massenmedien auf ihrem YouTube-Kanal "Siberian Freedom".

Beide Familien sind dabei, nicht nur große Bauernhöfe – nach jeweils kanadischer und australischer Tradition – in Russland auszubauen: Sie hoffen ebenfalls, mit der Zeit die russische Staatsbürgerschaft erhalten zu können.

Aus deren Inhalten geht eindeutig hervor, dass sie sich als christlich gläubige Familien mit traditionellen Werten verstehen, welche sie jeweils in ihren Heimatländern nicht mehr fähig waren, frei auszuleben.

Laut Beslangurow seien nur dem russischen Innenministerium die relevanten Statistiken bekannt. Aber selbst diese illustrieren nicht, wie viele Ausländer ohne russischen Migrationshintergrund eingewandert oder nach Russland umgezogen sind. Das ist eine eigentlich fein definierte Kategorie, der bisher in der generellen Statistik kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Juristen wie er, die in der Sphäre arbeiten, haben zwar eine Vorstellung davon, wie viele Familien es sein könnten, aber es reicht nicht aus für eine vollkommen stichfeste Statistik. Mit einer Anfrage für einen Umzug nach Russland haben sich allein über Beslangurows Organisation 800 Menschen im Jahr 2023 an ihn gewandt. "Über ein ganzes volles Jahr ziehen schätzungsweise 20 Familien – ohne jeglichen russischen Hintergrund – nach Russland um", so der Rechtsanwalt.

Ein Klassiker in dieser Auswanderer-Domäne ist der US-Amerikaner Justus Walker, der schon seit 24 Jahren in Russland lebt, eine Farm in Sibirien betreibt und sogar ein protestantischer Pastor ist. Soweit man seinem Video-Blog entnehmen kann, verweigert er, sich von westlichen Narrativen in der Causa des Ukrainekrieges einvernehmen zu lassen. Er konzentriert sich auf seine christliche Berufung, seinem Nächsten in seiner russischen Heimat zu dienen. 

Es bleibt zu hoffen, dass die russische Politik diese potenzielle Goldgrube konstruktiver wirtschafts- und gesellschaftsfördernder Einwanderung endlich auf gesetzgeberischer Ebene großformatig abholt, erschließt und dementsprechend erneuert sowie reformiert. Angefangen bei der Ausdehnung und Diversifizierung der gesetzlich festgemachten Einwanderungsquote. Denn wenn Kirby recht behält, sollte man Menschen, mit christlicher Arbeitsethik, traditionellen Werten und aufrichtiger Liebe zu Gott und ihren Nächsten, nicht den Eintritt in das "Dritte Rom" verwehren. Hier liegt Russlands Verantwortung und zivilisatorischer Imperativ. Moskau muss diesem Anspruch zügig gerecht werden.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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