Babylonische Gefangenschaft: Doch Europas Industrie wendet sich langsam von den USA ab
Von Dagmar Henn
Bald zwei Jahre lang hat man sich wundern müssen, in welchem Loch eigentlich die deutsche Industrie verschwunden ist. Nicht nur, dass keine Reaktion auf die Sanktionsbeschlüsse erfolgte, deren verheerende Folgen für mehrere Branchen man an fünf Fingern abzählen konnte, lange ehe sie eintraten. Oder auf die Sprengung von Nord Stream. Oder auf die ganze Serie von aberwitzigen ökonomischen Entscheidungen der Ampelregierung. Es kam einem fast so vor, als habe man den sonst eigentlich so redseligen Vorstandsvorsitzenden deutscher Konzerne die Zunge herausgeschnitten.
Und plötzlich ist alles anders. Erst die Neujahrsrede des BDI-Präsidenten, und jetzt diese Antwerpener Erklärung aus der energieintensiven Industrie. Im Jahr 2022 haben die Glashütten noch ganz stumm die Türen geschlossen. Klar, in beiden Fällen wird der ganzen übrigen Nummer, vor allem der Klimaerzählung, nach wie vor Reverenz erwiesen. Aber trotzdem zeigt in beiden Fällen allein die Tatsache, dass bestimmte Dinge ausgesprochen werden, dass da eine ernstzunehmende Unzufriedenheit vorherrscht. Ähnliches zeigte auch der Aufsatz im Monatsbericht der Bundesbank, der sich mit den Wirtschaftsverbindungen nach China befasste, beziehungsweise vor allem damit, deutlich zu erklären, dass die Vorhaben, die wirtschaftlichen Beziehungen nach China auch nur einzuschränken, eine ziemlich dumme Idee sind.
Es ist allerdings ein wenig kompliziert, einen Grund zu finden, warum das erst jetzt geschieht, und warum in dieser Form. Entscheidend dürfte letztlich sein, dass zuletzt alle westlichen Pläne schiefgegangen sind. Schlimmer noch, oft das Gegenteil dessen bewirkt haben, was sie bewirken sollten. Und sich jetzt die unterschiedlichen Arten des Scheiterns gegenseitig verstärken. Was, das zumindest der Eindruck von diesen Veröffentlichungen, einige jetzt versuchen lässt, die Reißleine zu ziehen.
Man kann sich vorstellen, dass das vor einigen Jahren ganz hübsch aussah. Dafür muss man zuallererst wissen, wie sich die Wirtschaft in den westlichen Kernländern in den letzten Jahrzehnten verändert hat, wenn auch in unterschiedlichem Maß. In allen "klassischen" Industrieländern fand eine Verlagerung statt, weg vom Export von Waren, hin zum Export aller möglicher Arten von "geistigem Eigentum". Das war die Lösung, die nach der Krise der 1970er gefunden wurde, und zu deren Durchsetzung der Neoliberalismus diente: sich vor allem auf die Abschöpfung von Gewinnen zu konzentrieren, die aus Produktion und Konsum an einem völlig anderen Ort stammen.
Diese Art der Abschöpfung ist aber unmittelbar auf eine militärische Überlegenheit angewiesen, denn während die Gewinne, die aus der Produktion und dem Verkauf von Waren stammen, über einen weitgehend verhüllten Mechanismus entstehen, ist das Geld, das für Patente, Designs und Marken erhoben wird, eher eine Art Pacht, eine Abgabe an einen Grundherrn, nur dass in diesem Fall der Grund selbst ein virtueller ist. Weshalb das gleiche Problem entsteht, das schon die Lehnsherrn des Mittelalters hatten, und das ein wichtiger Anlass zum Bau von Burgen war: Warum sollten die Leibeigenen ihre Arbeitskraft oder deren Produkte an jemanden abtreten, der erklärt, ihm gehöre das Land, auf dem sie arbeiteten? Burgen und bewaffnete Trupps waren auf ganz unmittelbare und handfeste Weise das überzeugende Argument. Eine Geschichte, die jeder so ungefähr aus Robin Hood kennen dürfte.
Unser überdimensionaler Sheriff von Nottingham heißt in diesem Fall USA, und all seine adligen Kumpane verlassen sich auf seine Dienste, um beim Landvolk das einzutreiben, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Wobei das Landvolk hier vor allem all jene Länder sind, die man mittlerweile den globalen Süden nennt.
Natürlich ist das ganze System komplexer, und nutzt auch Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds zu seiner Stabilisierung; der Vergleich mit dem Sheriff von Nottingham dient hier nur dazu, nachvollziehbar zu machen, dass militärische Vormacht eine der Voraussetzungen für sein Funktionieren ist. Recht eindringlich zeigte das in den vergangenen Jahrzehnten auch die französische Armee, die immer dann in den vermeintlich ehemaligen französischen Kolonien auftauchte, wenn diese womöglich eine souveräne Politik versuchten.
Das ist der zweite Ankerpunkt, der in dieser ganzen Struktur zentral ist: niedrige Rohstoffpreise. Nach der Welle der Unabhängigkeit zwischen 1945 und 1960 stiegen diese deutlich an, was mit zu der massiven Krise der Siebziger beitrug. Danach entstand dann das koloniale System in seiner heutigen Form, und wurde in den Achtzigern ein erstes Mal stabilisiert. Dabei war es vor allem die externe Verschuldung, die diese Länder in der Abhängigkeit hielt. Aber nach über vierzig Jahren brauchte diese Struktur eine Auffrischung. Das ist der Punkt, an dem die Klimaideologie ins Spiel kommt.
Es war die Absicht, über eine politische Durchsetzung der Klimavorgaben die Kreditmöglichkeiten der Länder des globalen Südens so zu begrenzen, dass keine Gefahr einer wirklichen Unabhängigkeit mehr bestand, weil eine Autonomie etwa bei der Energieversorgung dauerhaft ausgeschlossen werden konnte. Was funktioniert hätte, wenn – ja wenn nicht mit China mittlerweile ein alternativer Kreditgeber zur Verfügung stände, der eben diese Auflagen nicht macht. Und der obendrein geradezu verbotene Projekte anbietet, wie Infrastruktur kreuz und quer durch Afrika, statt immer nur zum nächsten Exporthafen.
Im vergangenen Jahr gab es diese Welle, in der sich in Westafrika gleich mehrere französische Kolonien dem besonderen französischen Kolonialsystem entzogen. All der Eifer, mit dem man in Europa für die Klimaerzählung geworben, ja, die gesamte Gesellschaft geradezu darauf verpflichtet hatte, scheint vergebens gewesen zu sein, weil die Länder außerhalb des Westens sehr wohl wissen, wie sie Souveränität erlangen und verteidigen können.
Mit der abermaligen Stabilisierung des Kolonialsystems ist es also Essig. Das heißt natürlich auch, dass die auf diesem Wege erhofften Geldströme ausbleiben. Was das bedeutet, wird man demnächst an Frankreich genau beobachten können. Aber das bleibt nicht das einzige Problem.
Das nächste sind nämlich die gescheiterten Pläne Russland betreffend. Man sollte nicht allzu viel Humanität an den Spitzen von Konzernen erwarten, aber es zeigt sich gerade womöglich, dass das Schweigen bezogen auf die Folgen der Sanktionen nur deshalb herrschte, weil auch in diesen Kreisen eine Niederlage Russlands mit in der Folge entsprechend reicher Beute erwartet wurde.
Was ein wenig überrascht, weil man doch davon ausgehen müsste, dass der ökonomische Sachverstand in den Unternehmen etwas höher ist als in dieser Bundesregierung, und auch die wirtschaftlichen Gründe für das Scheitern dieses Beutezuges wenn nicht davor, so doch ziemlich bald nach Beginn erkennbar waren; aber vielleicht wurden sogar die Führungsetagen der Konzerne davon überrascht, als wie ahnungslos und dumm sich viele der Thinktanks und strategischen Planer erweisen sollten (vom NATO-Militär mal ganz zu schweigen). Und dass aus der vermutlich als vorübergehend angepriesenen Rückwirkung der Sanktionen gegen Russland eine dauerhafte Mangellage wurde, die einen Deindustrialisierungsschub auslöste.
Weder das eine noch das andere Scheitern ist noch zu übersehen; dazu kommt allerdings, dass die Vereinigten Staaten unverkennbar die Gelegenheit genutzt haben, sich europäische Konkurrenz vom Halse zu schaffen. Was zumindest für die Herren der Industrie immer noch kein Problem wäre, wenn das mit dem kolonialen System geklappt hätte (die Bedürfnisse der europäischen Bevölkerungen spielen hierbei keine Rolle); aber da ist nicht nur der Plan mit der Rekolonisierung gescheitert; die ganze Geschichte rund um den israelischen Genozid in Gaza hat auch hier die Prozesse weiter beschleunigt. Denn während man sich davor – selbst nach dem Scheitern des Russlandraubzugs – zumindest noch die Chance einbilden konnte, sich irgendwie mit einer Art "Kolonialismus light" wenigstens eine Zeit lang durchzumogeln, werden die politischen Auseinandersetzungen durch diese kleinen Massaker in Westasien so scharf, dass ein kompletter Abbruch von Beziehungen denkbar scheint. Nicht einfach nur zwischen dem einen oder anderen Land und Israel; zwischen dem globalen Süden und dem kollektiven Westen.
Ein Risiko, das eine, auf welchem Wege auch immer, vollständig in der amerikanischen Tasche steckende Bundesregierung auch noch ohne Not weiter verschärft, durch die Unterstützung der israelischen Seite beim IGH und die Entsendung einer Fregatte ins Rote Meer. Man vergisst es gern, aber diplomatische und Handelsbeziehungen sind nicht voneinander zu trennen; wenn die ersten brechen, folgen in der Regel die zweiten. Durch die Welt hampeln und unerwünschte Ratschläge erteilen kann man sich leisten, wenn man groß und stark ist. Ist man es aber nicht oder nicht mehr, sind diplomatische Fähigkeiten gefragt, die das derzeitige Angebot weit übersteigen.
Als Sahnehäubchen obendrauf kommt dann noch die drohende nächste Folge der Finanzmarktkrise, die unter anderem in den Gewerbeimmobilien lauert, was inzwischen ebenfalls bei der deutschen Wirtschaftspresse angekommen ist (lang genug hat es gedauert). Und das ist gewissermaßen das letzte Rädchen. Denn im Falle einer großen Entwertung fiktiven Kapitals verkehrt sich die in den letzten Jahrzehnten gewohnte Rangordnung der unterschiedlichen Sektoren völlig – die ganzen gigantischen IT-Unternehmen könnten sich weitgehend in Rauch auflösen, während ganz materielle Produktionsanlagen vergleichsweise wenig an Wert verlieren. Und wenn sich das Spielfeld, das man überhaupt noch bespielen kann, womöglich auf den kollektiven Westen einengt, dann wird die Bemühung der Vereinigten Staaten, Industrie in ihr deindustrialisiertes Land zurückzuzwingen, plötzlich zur existentiellen Bedrohung, weil damit auch der europäische Binnenmarkt verloren geht.
Dumm gelaufen, könnte man sagen. Der Druck ist jedenfalls hoch genug, dass jetzt, zeitgleich mit der Antwerpener Erklärung, Berechnungen in den Medien aufschlagen, wieviel "der Krieg in der Ukraine" die Deutschen gekostet habe bisher.
Zwei verschiedene Wirtschaftsinstitute kommen dabei auf bisher 200 bis 240 Milliarden Euro für die Jahre 2022 und 2023. Und das sind jetzt nicht die Kosten, die für ukrainische Flüchtlinge aufgewandt wurden, oder die Gelder, die direkt oder über die EU nach Kiew geschickt wurden, sondern die Verluste, die vor allem durch die höheren Energiekosten entstanden. Man könnte auch sagen, die Folgen der Sanktionspolitik.
Wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass schon der Bürgerkrieg in der Ukraine seit 2014 die Folge politischer Entscheidungen auch in Deutschland war. Folge der Anerkennung der Putschregierung im Februar 2014, des Schweigens über das Massaker von Odessa, des Betrugs bei den Minsker Abkommen, und zuletzt der Weigerung, über eine Erhaltung einer ukrainischen Neutralität auch nur nachzudenken. Hinter all dem stand aber noch die Hoffnung auf die russische Beute. Was die Haltung der deutschen Industrie dazu zwar weder nett noch moralisch, aber zumindest rechnerisch nachvollziehbar macht.
Nun, das ist vorbei. Spätestens jetzt, mit der Einnahme von Awdejewka, braucht es nicht mehr viel Verstand, um die verlorene Sache als verloren zu erkennen. Gleichzeitig war aber am Beispiel von VW zu sehen, dass der Druck aus den USA auf die deutschen Firmen, sich nicht nach China, sondern in die USA zu verlagern, nur noch weiter steigen wird.
Von all den drängenden Problemen gibt es nur genau eines, auf das noch eingewirkt werden kann. Militärisch ist nichts mehr zu holen. Das Kolonialsystem zerfällt mit zunehmender Geschwindigkeit, und der Aufstieg der BRICS ist kaum mehr aufzuhalten. Aber die Spielchen der Vereinigten Staaten, die müssen nicht hingenommen werden. Schon gar nicht, wenn alles, was man sich zum Ausgleich erhofft hat, ins Reich der Träume entschwunden ist.
Ein klein wenig wie in dem alten deutschen Märchen vom Fischer und seiner Frau; nachdem die Wünsche immer gewaltiger wurden und der letzte Auftrag der Frau an den zaubermächtigen Fisch lautete: "Ich will werden wie Gott!", fanden sich beide in ihrer schäbigen Hütte wieder. Die Rolle der Frau liegt in diesem Fall bei den USA, und die Deutschen sind der Mann, der versucht, vor dem absehbaren Ende unter Mitnahme einiger Reichtümer aus dem Märchen auszusteigen und der schäbigen Hütte zu entrinnen.
Dass diese Entwicklung so sichtbar gemacht wird, und derartige Erklärungen nicht mit einem orchestrierten Vorlauf in den Medien, sondern gewissermaßen abrupt und politisch nicht widergespiegelt aufschlagen, ist ein Zeichen, dass nicht nur die deutsche Industrie, sondern das gesamte Land derzeit in einer Sackgasse gefangen ist. Denn selbst, wenn diese Erklärungen ein Umlenken jener andeuten, die in der Regel in diesem Land das Sagen haben, gibt es keine politische Konstellation, die den darin verborgenen Wunsch eines Bruchs mit der US-Strategie politisch umsetzen könnten. Und all dies ereignet sich vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen Absturzes, der gerade erst am Anfang steht, weil sowohl die Politik der Ampel als auch der Verlust der französischen Kolonien auf den Gesamtkomplex EU noch gewaltige Auswirkungen haben werden.
Selbst wenn die Mittel für das gescheiterte ukrainische Projekt sofort gestoppt würden – mit Deutschland und Frankreich in ernsten und vorerst unlösbaren Problemen fehlt der EU schlicht die Finanzgrundlage. Was auch die entscheidende Information ist, um die Antwerpener Erklärung zu bewerten, denn das dürfte den betreffenden Herren mehr als bewusst sein; weshalb man getrost all die Forderungen die EU betreffend als Dekoration betrachten kann, die um die entscheidende strategische Aussage gewunden wurde. Aber niemand, auch nicht die Antwerpener Runde, hat bisher eine Antwort, wie Deutschland oder gegebenenfalls Europa aus dieser babylonischen Gefangenschaft entrinnen könnte.
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