Meinung

Auf der Suche nach Orientierung

Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Dem politischen Westen entgleitet die Welt. Das äußert sich im Wiedererstarken Russlands und dem Aufstieg von Staaten wie China. Aber auch in den Staaten der westlichen Wertegemeinschaft ist wenig geblieben von der Stabilität, die noch vor einem halben Jahrzehnt geherrscht hat. Wohin führt das?
Auf der Suche nach OrientierungQuelle: www.globallookpress.com © Lars Hallbauer

Von Rüdiger Rauls

Da hilft kein' Gewalt

In dem ermutigenden Lied von der Moldau besingt Bertolt Brecht im Jahre 1944, als die Niederlage des Faschismus sich andeutete, den Wandel der Zeiten:

"Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. […] Es wechseln die Zeiten, da hilft kein' Gewalt."

Wenn sich auch die Welt heute nicht in einem so allumfassenden Krieg befindet wie in der Zeit zwischen 1939 und 1945, so deutet doch die Vielzahl der Konflikte auf Umbruch hin.

Die derzeitigen kriegerischen Auseinandersetzungen erinnern in ihrem Ausmaß an die Zeit der Befreiungskriege gegen die Kolonialherrschaft zwischen 1945 und der Mitte der 1970er Jahre. Der Unterschied zu damals ist, dass in den meisten Fällen die USA heute nicht mehr als Ordnungsmacht auftreten können. Wo sie es versuchen, geraten sie sehr schnell an ihre Grenzen, wie aktuell im Nahen Osten.

Nach dem Systemkonflikt des Kalten Krieges hatten die USA als einzig verbliebene Weltmacht eine Zeitlang unbeschränkt über den Planeten herrschen können. Diese Zeit geht nun zu Ende. Der Krieg in der Ukraine bedeutet in zweierlei Hinsicht eine Zeitenwende. Deutschland hat seine friedliche Maske abgelegt, und am Kriegsverlauf und der geringen Wirkung der westlichen Sanktionen gegenüber Russland werden die veränderten Kräfteverhältnisse in der Welt offenbar. Sie waren in dieser Deutlichkeit bisher nicht in Erscheinung getreten.

Die Völker der Welt sind der Bevormundung durch den politischen Westen überdrüssig. Die Menschheit will anders leben, und dazu muss die Welt anders werden. Diese Veränderung der Kräfteverhältnisse scheint nun auch den NATO-Staaten bewusst zu werden. Nicht umsonst überschlagen sich die Befürchtungen, dass Russland nach der gescheiterten ukrainischen Offensive nicht nur die Ukraine selbst überrennt, sondern sogar bis ins NATO-Gebiet durchmarschiert.

Es scheint ihnen zu dämmern, dass all ihre überheblichen Einschätzungen bezüglich russischer Unfähigkeiten nichts weiter als Selbstbetrug waren. Russland ist militärisch und wirtschaftlich stärker als vermutet, seine Gesellschaft gefestigter als gehofft. Der "Regime Change", auf den viele im Westen gesetzt hatten, findet nicht statt. Vielmehr werden die Gesellschaften im Westen selbst zerbrechlicher, die Konflikte häufen sich und werden heftiger. Gegen all diese Entwicklungen scheint den Regierungen der NATO-Staaten und ihrem Anhang kein Kraut gewachsen.

Die Angst vor Russlands Ausgreifen nach dem Rest Europas ist echt. Die Eliten des politischen Westens sind verblendet durch ihre eigene Propaganda und sie fürchten, dass Russland genauso handelt, wie sie selbst. Wenn Putin erklärt, dass Russland keinen Appetit auf NATO-Staaten hat, dann glauben sie ihm nicht, weil ja auch sie einmal erklärt und versprochen hatten, die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Die eigene Verlogenheit ist der Kern ihres Misstrauens gegenüber anderen. Sie befürchten, dass nun Putin sie genauso täuschen will, wie sie damals Russland getäuscht hatten. Vor allem aber erkennen sie, dass das unterschätzte und verachtete Russland die Mittel zu einem solchen Vorgehen hätte, im Gegensatz zur NATO. Der Krieg zeigt, dass das westliche Bündnis nicht über die Waffenarsenale verfügt, die zur Austragung eines solchen Konflikts nötig sind. Es fehlen die industriellen Kapazitäten zum schnellen Aufbau und zur Versorgung einer Armee. Vor allem aber fehlt im politischen Westen die Kampfbereitschaft der Bevölkerung.

Diese soll nun wieder einmal mit der Propaganda von der drohenden russischen Gefahr geschaffen werden. Nur sieht es im Moment nicht so rosig aus mit der Bereitschaft in großen Teilen der Bevölkerung, "unsere" Demokratie zu verteidigen. Denn Demokratie macht nicht satt, aber immer mehr Menschen frieren in ihren Wohnungen und leiden unter hohen Preisen als Folge der antirussischen Politik. Was sollen sie verteidigen, wenn sie immer weniger haben?

Es wechseln die Zeiten

Die westliche Demokratie aber fühlt sich nicht nur von außen bedroht. Es brodelt auch im Inneren. Bauern, bisher eine der solidesten Stützen der Gesellschaft, blockieren Autobahnen und Parlamente. Sie sehen ihre Lebensgrundlagen bedroht durch die Brüsseler Bürokratie und durch abgehobene Wertemissionare mit ihren weltfremden Theorien und Weltbildern. Die Wirtschaftstätigkeit geht zurück wegen der hohen Energiekosten und des nachlassenden Konsums aufgrund der stark gestiegenen Preise und Zinsen. Der innere Frieden ist brüchig geworden.

Schon warnt der amtierende US-Präsident Joe Biden, "die Demokratie, individuelle Freiheitsrechte und auch die wirtschaftliche Erholung stünden auf dem Spiel", wenn sein Vorgänger Donald Trump nach den Wahlen in den USA wieder ins Amt komme. Auch in Deutschland sieht man die Demokratie gefährdet, denn im aktuellen Jahr finden nicht nur Landtagswahlen statt, sondern auch die Europawahlen. Man befürchtet das Erstarken oder gar den Sieg rechter Parteien.

Galten früher Wahlen noch als das Wesensmerkmal der Demokratie, mit dem man sich von sogenannten Schurkenstaaten zu unterscheiden vorgab, so scheinen sie inzwischen zu einer Gefahr geworden zu sein. Denn das alte Parteienkartell verliert an Zustimmung beim Volk. Stattdessen vereinnahmen unsichere Kantonisten wie die Alternative für Deutschland (AfD) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) den Wählerwillen.

Aber damit nicht genug, zerfallen die Reste der Volksparteien immer mehr in die Einzelteile gesellschaftlicher Strömungen. Die Werteunion springt von der CDU ab und will sich zur eigenen Partei machen, die dann sogar die Abgrenzung zur AfD niederreißen will. Und nun wollen sogar auch noch die Muslime, die in Deutschland eigentlich nur noch als Islamisten Beachtung fanden, eine eigene Partei gründen, eine Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (DAVA).

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung reagiert mit unvorstellbarer Heftigkeit auf dieses Vorhaben. Ihr Kommentar dazu hat wenig zu tun mit dem sonstigen Hohelied auf die Segnungen der westlichen Werte und die Freiheiten, die die Demokratie von den Autokratien unterscheidet. Philip Eppelsheim spricht von einer extremen Partei "für die Erdoğan-Fans im Lande, für Hamas-Sympathisanten, für Islamisten […] eine weitere Partei, die spalten will".

Wider besseres Wissen unterstellt der Kommentator sogar "muslimischen Anti-Semitismus [und] mangelnden Integrationswillen". Dabei handelt es sich bei den Führungspersonen um angesehene Ärzte und Anwälte, einer wurde sogar "für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet". Aber an solchen Hetzreden wird deutlich, wie sehr die Nerven bei den Meinungsmachern blank liegen. Anscheinend gehen sie davon aus, dass sich Gesellschaften nur in die Richtung verändern dürfen, die ihnen in den Kram passt.

Wen wundert es, dass Gesellschaften zerfallen, wenn ihre Mitglieder in solch unsachlicher Form verunglimpft werden, sobald sie ihre demokratischen Rechte in Anspruch nehmen wollen? Wen wundert es da, wenn Menschen, die sich vom alten Parteienkartell nicht mehr vertreten fühlen, neue Parteien schaffen, die ihren Interessen entsprechen? Es wechseln die Zeiten, und das erkennt man daran, dass Neues entsteht, weil das Alte nicht mehr funktioniert oder überholt ist.

Die Nacht hat zwölf Stunden

Das Land ist in Bewegung gekommen, aber es dreht sich im Kreis. Wenn auch nun massenhaft gegen Rechts demonstriert wird, so ist doch kein Ziel dabei zu erkennen. Wohin sollen all diese Demonstrationen führen? Die Bauern demonstrieren gegen die Auflagen für ihre Betriebe, die ihnen das Leben schwer machen. Die Gewerkschaften demonstrieren für mehr Geld, nachdem die Preissteigerungen das Leben der Arbeiter verteuert haben.

Was aber soll das Ziel der Demonstrationen gegen Rechts sein? Ein Verbot der AfD? Man muss die AfD nicht mögen, man muss auch mit ihren politischen Zielen nicht übereinstimmen. Aber was ist mit den demokratischen Rechten jener etwa 20 Prozent, die diese Partei wählen wollen? Will man denen das Wahlrecht einschränken oder sie gar aus der Gesellschaft ausschließen? Was wäre dann der Unterschied eines solchen Denkens zu dem, das man der AfD ankreidet?

Wenn auch die Parteien aus dem Boden schießen, stellt sich dennoch die Frage, was das Ziel all dessen sein soll. Mehr Demokratie, mehr Vielfalt der politischen Angebote? Machen mehr politische Angebote satt, wenn immer mehr Menschen das Geld ausgeht, um sich die Angebote in den Supermärkten leisten zu können? Vor allem aber: Was macht den grundsätzlichen Unterschied in all diesen politischen Angeboten aus? Sie alle wollen zwar den Kapitalismus verändern, was aber auch bedeutet, dass sie ihn erhalten wollen – nur eben anders.

All das bietet keinen Ausweg. Das ist die wilde Bewegung im Hamsterrad, die Fortschritt vorgaukelt. Und wenn noch 20 neue Parteien gegründet werden und weitere Hunderttausend gegen Rechts oder Links oder gegen die Mitte oder wen auch immer demonstrieren, an den Grundlagen der Gesellschaft ändert das nichts. Das weckt Hoffnungen auf Veränderung, die aber in der Zwischenzeit wenig erreichen und am Ende Enttäuschung und Verbitterung zurücklassen.

Solange sich diese Bewegungen und Parteien nur um die Demokratie drehen, also um Ideale, werden sie nicht weiter kommen als im Hamsterrad. Die Nacht bleibt so lange, wie keine dieser neuen Parteien die Interessen der einfachen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt, die früher mal als Proletariat bezeichnet wurde. Demokratie ist schön und gut, aber man muss sie sich auch leisten können, denn sie macht nicht satt und wärmt keine Wohnung. Und so, wie sie sich zurzeit zeigt und entwickelt, bietet sie auch wenig Ausblick auf eine freundliche Zukunft.

Dann kommt schon der Tag

Aber die Menschen und die Menschheit wollen Zukunft haben, freundliche Zukunft für ihre Kinder und ein menschenwürdiges Leben für sich selbst. Die Welt außerhalb des politischen Westens scheint das begriffen zu haben. Die Menschen im politischen Westen tun sich noch schwer damit. Zu sehr sind sie verfangen in den Werten und Weltbildern, die sich über die Jahrzehnte in ihren Gesellschaften entwickelt und auch lange Zeit als scheinbar richtig erwiesen haben.

Sie bewegen sich noch weitgehend in den Denkmustern und Vorstellungen derer, die öffentliche Meinung beherrschen. Das Bewusstsein darüber, dass in der Gesellschaft unterschiedliche Klassen mit unterschiedlichen Interessen und Machtfülle bestehen, ist in den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen. Aber selbst wenn dieses Bewusstsein bestünde, bedürfte es darüber hinaus einer Organisation oder Partei, die diesem besonderen Interesse der Klasse der Machtlosen Geltung verschafft.

Die Aufgabe dieser Partei wäre es, diese besonderen Interessen der einfachen Leute, die einmal als Proletariat bezeichnet wurden, herauszuarbeiten für jede Situation der gesellschaftlichen Entwicklung, den Unterschied zu den Interessen der herrschenden Klasse klar zu benennen und den Kampf dafür zu organisieren. Darin unterscheidet sie sich von solchen Parteien, die sich als links bezeichnen und in den Redeschlachten der Parlamente unter Beweis stellen wollen, dass sie die Klügeren sind und die besseren Ideen und Konzepte haben. Darum geht es einer solch klassenorientierten Partei nicht!

Ihr Augenmerk liegt einzig auf den Interessen der einfachen Leute, des Proletariats, wie es sich heute darstellt. Sie tritt nicht auf als der Kümmerer, der es – von oben herab – gut mit ihnen meint, sondern sie ist Fleisch vom gleichen Fleische. Ansehen und Anerkennung durch die anderen politischen Kräfte ist ihr nicht wichtig. Ihr geht es darum, die Interessen der eigenen Klasse in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit herauszuarbeiten und sie zu vermitteln. Letztlich ist es ihre Aufgabe, über diese täglichen Auseinandersetzungen hinaus zu klären, wohin der Weg für die einfachen Menschen führen soll. Was soll das Ziel sein: ein besserer Kapitalismus oder eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus?

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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