"Gutes Essen für Deutschland" ‒ Özdemirs Ernährungsstrategie für Federfuchser und Bußprediger
Von Dagmar Henn
Ich hätte ja nicht gedacht, dass einer der absurdesten Momente meiner Stadtratstätigkeit eigentlich schon die neue Ernährungsstrategie der Bundesregierung Jahre im Voraus passend kommentiert hat. Aber letztlich ist alles, was im neuen Papier aus dem Hause Cem Özdemir, dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das heute verabschiedet wurde, eine gigantische Wiederholung derselben Szene.
Noch einmal kurz zusammengefasst, was damals passierte: Ursprünglich hatten zumindest die Kinderkrippen in München noch eigene Küchen; in den Kindergärten waren sie schon längst abgeschafft. Nun sollte, natürlich um Geld zu sparen, das Essen fertig von Dienstleistern geliefert und vor Ort nur noch aufgewärmt werden, wofür Hilfskräfte genügen. Brav gemäß EU-Vorgaben wurde das Ganze ausgeschrieben und dabei in mehrere Lose unterteilt. Aber in der Debatte im Stadtrat wurde von allen betont, wie wichtig saisonale und regionale Produkte seien, am besten auch bio, also ungefähr all das, was auch in der neuen Ernährungsstrategie als angestrebter Standard für derartige Gemeinschaftsversorgungen steht.
Und dann ging ein großer Teil der Ausschreibung, bei der natürlich das wichtigste Kriterium der Preis ist und alle anderen mühsam in die Ausschreibung hineingebastelt werden müssen, an einen tschechischen Caterer, weshalb "regional" auf einmal bedeutete: im Umkreis von hundert Kilometern um den Sitz des Caterers erzeugt, in Tschechien.
Nun, die Verpflichtung zur europaweiten Ausschreibung für die öffentliche Hand ist seither nicht entfallen, aber das Papier mit dem Titel "Gutes Essen für Deutschland" wiederholt genau die Farce, die sich damals ereignete. Nur, dass das jetzt für alle Kindertagesstätten und Schulen und öffentlichen Kantinen gelten soll, wobei es dort genauso unrealistisch ist und genauso enden wird wie damals bei der Vergabe der Kindergartenmahlzeiten.
Und das ist nur eine der Absurditäten. Die Nächste: Wie nicht anders zu erwarten, soll natürlich alles bio und regional sein. Dabei wird durchaus zutreffend festgestellt, dass die Selbstversorgerquote in Deutschland bei Gemüse 30 und bei Obst sogar nur 20 Prozent betrage.
Andererseits werden riesige Flächen durch die Produktion von Biosprit und Biogas verbraucht, die, auch das Vorsatz dieser Regierung, nach wie vor in diesem Ausmaß erzeugt werden sollen. Von der verbleibenden Fläche (Bioanbau für Biosprit macht gar keinen Sinn, höchstens Verluste) sollen dann 30 Prozent Biolandbau werden. Was bedeuten würde, beim Gemüse und beim Obst würde dann die Selbstversorgerquote noch weiter sinken, denn der Bioanbau hat nun einmal einen niedrigeren Ertrag. Ganz zu schweigen davon, dass der Verzehr von Gemüse und Obst ja erhöht werden soll. Woher soll dann der Rest kommen, und wie sinnvoll ist das eigentlich, wenn man mal wirklich ökologisch denkt, noch mehr Kartoffeln aus Ägypten zu importieren, weil hier nur noch Biokartoffeln gepflanzt werden?
Das grundsätzliche grüne Problem mit der materiellen Wirklichkeit zieht sich durch das ganze Dokument. Der Gedanke, es wäre vielleicht hilfreich, wenn Kinder im Verlauf ihrer Schullaufbahn irgendwann in Gestalt eines Schulgartens in Kontakt mit der ganz realen Produktion von Nahrungsmitteln kämen oder in Gestalt einer Schulküche mit ganz realer Zubereitung von Nahrung, taucht in dem ganzen Papier nicht auf. Vermutlich ist das schon allein deshalb tabu, weil das die DDR so gemacht hatte.
Allerdings macht es einen bedeutenden Unterschied, ob etwas sinnlich erfahren, womöglich sogar ausprobiert werden kann, oder ob einem ein Vortrag über den Nährwert verschiedener Nahrungsmittel gehalten wird. Letzteres löst nämlich schlicht den Mechanismus aus, auf den man im deutschen Schulsystem ohnehin gedrillt wird: die nervenden Informationen bis zum nächsten Test zwischenspeichern und danach so schnell wie möglich wieder vergessen.
Bei all den Predigten über gute Ernährung und dem (wirklich nicht unumstrittenen) Ziel, den Anteil pflanzlicher Nahrung zu erhöhen und den tierischer zu senken, wird die eigentlich entscheidende Frage nur sehr knapp behandelt. Es ist nämlich durchaus nachgewiesen, dass ernährungsbedingte Erkrankungen und Armut eng miteinander verbunden sind; das nimmt das Papier sogar flüchtig zur Kenntnis, aber die "Lösungsvorschläge" sind etwas eigenartig.
Ja, es steht sogar drin, dass Arme schlicht auf ein möglichst günstiges Verhältnis zwischen Preis und geliefertem Brennwert achten müssen (was, etwas deutlicher formuliert, schlicht heißt, dass Obst für das gezahlte Geld nicht satt genug macht), aber vorgeschlagen wird eine ausführlichere Kennzeichnung der Nahrungsmittel. Die man eigentlich nicht lesen, sondern essen will, und die völlig nutzloser Aufwand ist, wenn es der Geldmangel ist, der vom Obst und vom Gemüse fernhält, und nicht der Mangel an Wissen.
Man hat nun einmal eine Fixierung auf Ideologie, und diese lästigen materiellen Gegebenheiten ignoriert man lieber. Eine Masche, die in der Sozialpolitik überaus beliebt ist. Sie löst zwar keine Probleme, aber sie schafft Stellen für Sozialbetreuer. Oder Energieberater. Oder dann eben Ernährungsberater, die die "Kunden" der Tafeln, die, so nun einmal die Gegebenheit, zu fressen haben, was übrig bleibt, dann noch mit Vorträgen über gesunde Ernährung erheitern, vermutlich garniert mit der Vorhaltung, man möge doch besser mehr Sport treiben.
Was noch so ein Punkt ist. Die Sportinfrastruktur ist ziemlich auf den Hund gekommen, und das Geld, das über das immer noch nicht abgeschaffte, hochbürokratische "Bildungs- und Teilhabepaket" (ein Erbstück von Flintenuschi aus ihrer Zeit als Familienministerin) dafür gezahlt wird, reicht vielleicht für einen Vereinsbeitrag, aber schon nicht für die erforderliche Kleidung. Von Fahrten zu Spielen oder Wettbewerben ganz zu schweigen. Nebenbei, wenn sich jemand je gefragt hat, warum Deutschland beim Sport inzwischen derart versagt – schon lange ist beispielsweise die Teilnahme an Wettbewerben abhängig vom Geldbeutel der Eltern, sprich, wenn diese das Geld nicht haben, kann das Kind nicht teilnehmen, egal, wie gut es ist. Aber der Wunsch nach Erfolgserlebnissen ist eine der stärksten Motivationen zum Sport, auch und gerade für arme Kinder; das ist nicht erreichbar, und in diese Richtung wird auch kein Handschlag getan (ganz zu schweigen davon, vielleicht dafür zu sorgen, dass es die Armut gar nicht erst gibt), aber Predigten, wie gesund doch der Sport sei, die sind im Zusammenhang mit dieser Strategie zu haben.
Sehr hübsch ist auch der Gleichklang mit der EU bei einer anderen Frage. So sehr das Bio-Saisonal-Regional in diesem Text betont wird, in Wirklichkeit ist die EU gerade damit befasst, die Beschränkungen für genmanipulierte Nahrungsmittel aufzuheben und auch deren Kennzeichnung zu untersagen. Gleichzeitig mit den Vorschriften zur Beschränkung des Kunstdüngers, übrigens. Eine hübsche Mischung. Und selbstverständlich findet das Dokument aus dem Hause Özdemir vegan ganz toll, obwohl die veganen Nahrungsmittelsimulationen tiefgekühltes Fast Food natürlich erscheinen lassen. Das Endergebnis ist dann genmanipulierte Industrie-Pseudonahrung, die auf einem ganz langen Etikett bis zum letzten Molekül durchdeklariert wird, ohne die Eigenschaften "künstlich" und "genmanipuliert" überhaupt zu erwähnen…
Man muss schon das Buch "Bullshit Jobs" von David Graeber gelesen haben, um die Strategie dahinter zu erkennen. Graeber definierte einen Bullshit-Job als eine relativ gut bezahlte, aber absolut überflüssige Tätigkeit. Davon bietet diese Strategie viele. Das fängt mit ganz vielen Erbsenzählern an, weil der genaue Zusammenhang zwischen Armut und schlechter Ernährung erst einmal gründlich untersucht und belegt werden müsse. Beispielsweise die Folgen von Kinderarmut auf die Ernährung. Kann man ja sonst nicht wissen. Und die Klimaauswirkungen der Ernährung. Außerdem braucht man nicht nur ganz viele Ernährungsberater, sondern zusätzliches Monitoring, überhaupt braucht schon das Ministerium Özdemir eine neue Geschäftsstelle für die Ernährungsstrategie, und ein Begleitforum. In Kliniken und Pflegeheimen führt man einen Nutrition Day ein, an dem ganz besonders intensiv Daten gesammelt werden (die Pflegekräfte werden von den zusätzlichen Fragebögen begeistert sein).
"Gesetzliche Verankerung der individuellen Ernährungsberatung im SGB V" klingt auch nett, vor allem nach vielen, vielen Bullshit-Jobs. Die Kurzversion der Gespräche dürfte tatsächlich so verlaufen: "Sie müssen gesünder essen." "Dafür habe ich das Geld nicht." "Gut, dass wir darüber geredet haben." Es ist ein klein bisschen so, dass man die Armen fast erfinden müsste, wenn es sie nicht gäbe, weil sonst all die großen und kleinen Prediger wieder zurück zu Keuschheit und Buße müssten…
Schön ist auch das hier:
"Zur Unterstützung der Stillförderung in den Kommunen erarbeitet der Bund einen Leitfaden zur stillfreundlichen Kommune."
Auf diesen Leitfaden hat die Welt gewartet. Vor allem, wenn er dann noch von so etwas wie "laktierenden Personen" handelt, weil es ja tabu ist, Frau und Brüste miteinander zu verknüpfen. Den Leitfaden kann man dann in den wenigen verbliebenen Geburtsstationen auslegen, das Gelächter, das er auslöst, könnte bei der schwangeren Person wehenfördernde Wirkung haben.
Nebenbei, traditionell waren die Hebammen die Ansprechpartnerinnen für solche Fragen, wenn schon keine weiteren Frauen mit kleinen Kindern in der Nähe waren. Diesen Beruf hat man ja über den Umweg der Berufsversicherung gezielt ruiniert, um damit alle Geburten in die Klinken zu lenken, die aber nun reihenweise die Geburtsstationen schließen, weil sich Geburten nicht rentieren… Auch hier wird also vor dem Hintergrund einer sich kontinuierlich verschlechternden Versorgung nette Fantasie produziert.
Niedlich ist auch beispielsweise die Sorge, es könnten der Nahrung zu viele Vitamine zugesetzt sein. Wirklich interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Vitamingehalt der verkauften Nahrungsmittel, und zwar schon in der Urgestalt von Obst und Gemüse, in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen hat. Das wirkliche Problem ist weniger ein Zuviel als eher ein Zuwenig (wenn man jetzt noch Vitamingehalt und Preis miteinander ins Verhältnis setzt, unter Einbeziehung der Inflation im Lebensmittelbereich… aber wer will schon so viel Realität).
Jedenfalls kann man nicht behaupten, es würde nicht an die Zukunft gedacht.
"Um die Umsetzung von Ernährungsempfehlungen zu beurteilen, soll der Lebensmittelverzehr der Bevölkerung regelmäßig in repräsentativen Stichproben erfasst und ausgewertet werden."
Menschen sind eben auch nur eine besondere Variante Großvieh. Und weitaus wichtiger als eine konkrete Lösung für konkrete Probleme ist es, der Öffentlichkeit etwas von schönen neuen Standards und Projekten zu erzählen und nebenbei viele neue Stellen zu schaffen, um Kalorienverbrauch und Folgsamkeit zu zählen und regelmäßig zu ermahnen. Im Mittelalter waren zeitweise zehn Prozent der Bevölkerung mit Beten beschäftigt. Würde man den Begriff des Betens etwas erweitern, sodass er auch all die Berater und Betreuer mit umfasst, könnten die zehn Prozent übertroffen werden. Und es ist auch von einer unerbittlichen Logik – schließlich ist das die sicherste Methode, eine Wählerklientel fest zu binden. Die Grünen haben damit Erfahrung.
Die kommenden Predigten werden jedenfalls zur Abkehr vom Fleischverzehr ebenso aufrufen wie zur Beendigung der sündigen Lebensmittelverschwendung, und damit auch nicht weniger tief in die private Existenz der Deutschen eindringen wie einst die Dorfpfarrer bei der Beichte. Weil aber die Grünen doch eher in der calvinistischen Tradition stehen, fehlt leider das pragmatische Angebot der Absolution. Dafür gibt es erhebende Überschriften. "Gutes Essen für uns und unsere Erde."
In der Beschreibung der "Mission", also der Zielsetzung dieses Ernährungsplans, steht großspurig etwas von "planetaren Grenzen", und dann wird getönt:
"Wir schaffen mit dieser Strategie die Strukturen, damit sich alle Menschen in Deutschland gut ernähren können."
Wobei man, jenseits des Ärgers über die permanente tiefe Einmischung, nicht übersehen sollte, dass im Grunde die ganze grüne Show den unteren politischen Ebenen keinen Deut mehr Freiheit lässt als den Armen, denen man auch am liebsten zehn Formulare statt Geld gibt. Wären die Kommunen finanziell gut ausgestattet, hätte man ihnen nicht das Brüsseler Korsett mit Ausschreibung und Co. angelegt und sie würden viele Dinge selbst erledigen. Sich um den Sport kümmern, beispielsweise. Oder, dass Kindergärten vielleicht auch Gärten haben. Aber so läuft das Spiel nicht, das wäre viel zu demokratisch. Stattdessen gibt es Fördermittel vom Bund, die man beantragen muss. Nach den Kriterien, die dann der Bund vorgibt. Was die Wirkung des eingesetzten Geldes letztlich verringert, weil deutlich mehr davon in die Verwaltung fließt, aber in Berlin die Illusion schafft, etwas geschafft zu haben.
Die Grünen sind nun einmal eine Kreuzung aus Bußprediger, Federfuchser, Werbetexter und Trickbetrüger, und auch dieses Produkt atmet den entsprechenden Geist. Guten Appetit!
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