Meinung

Angst vor dem Volk: Ein gutes Zeichen für die Demokratie

Je aussichtsloser die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Perspektiven in Deutschland werden, desto häufiger sprechen Politiker von der "Verrohung" der Gesellschaft, der Debatte oder des Widerstands. Sie sollten besser vorsichtig mit diesem Begriff sein.
Angst vor dem Volk: Ein gutes Zeichen für die DemokratieQuelle: Gettyimages.ru © vm

Von Tom J. Wellbrock

Will man den Begriff "Verrohung" in einem Satz definieren, kommt man auf der Seite verben.de zu folgender prägnanter Aussage:

"Prozess, bei dem das Verhalten oder auch die Sprache aggressiver wird."

Auf dwds werden Unterteilungen vorgenommen:

· Zunehmende Brutalität, Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit

· Niedergang gesellschaftlicher, kultureller Normen und Werte, zunehmende geistige und sittliche Verwahrlosung, Derbheit, Unkultiviertheit

· Formung von Menschen zur Ausübung von Gewalt und zur Unsensibilität gegenüber Rohheit, gezieltes Hinwirken auf den Verlust bestimmter Werte"

Es lohnt sich, etwas genauer hinzuschauen. Und es sollte keinesfalls unterlassen werden, auf die chronologischen Aspekte hinzuweisen, die sich mit der Beschäftigung mit dem Thema ergeben. Dass dies in den politischen und medialen Debatten nicht passiert, kann nicht wirklich überraschen, da es doch inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden ist, Ereignisse oder Entwicklungen gänzlich losgelöst vom Weg dorthin zu bewerten.

Die Verrohung der Wiederbewaffnung

Um die Verrohung der politischen Landschaft in Deutschland zu verstehen, müsste man zu den Anfangszeiten der Bundesrepublik zurückblicken. Man könnte die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland als Startschuss für die Verrohung nennen. Der vorläufige Höhepunkt war eine Demonstration in Essen, die sich klar gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands richtete. Nachdem die Polizei die Freigabe für den Schießbefehl auf Demonstranten erhalten hatte, starb der Kommunist Philipp Müller durch Schüsse, andere Teilnehmer wurden teils schwer verletzt.

Aus Protest gegen die Wiederbewaffnung trat der damalige Innenminister Gustav Heinemann zurück, später wurde er zunächst Justizminister und dann Bundespräsident. Er selbst bezeichnete sich als "Bürgerpräsident", der sich für das demokratische und friedliche Erbe der deutschen Geschichte einsetzte. Die Debatten um die Wiederbewaffnung können heute als Verrohung der deutschen politischen Entscheider bezeichnet werden, denn die Deutschen waren in den 1950er Jahren außerordentlich kriegsmüde und mehrheitlich gegen die Wiederbewaffnung.

Adenauer und seine Mitstreiter argumentierten mit der aggressiven Sowjetunion, die in der Diskussion mit der Gefahr des Hitler-Regimes gleichgesetzt wurde. Die Angst vor dem "bösen Russen" wurde schon in der damaligen Zeit massiv geschürt, und selbst wenn man aufgrund der zeitlichen Nähe zum Zweiten Weltkrieg eine gewisse Gefahr konstruieren konnte, fehlte dieser doch die fachliche Grundlage. Deutschland war längst unter den "Schutzschirm" der USA geschlüpft, ein sowjetischer Angriff auf die Bundesrepublik war also eher unwahrscheinlich.

Aggressive Sprache in Politik und Medien

Kommen wir zur jüngeren Geschichte und überspringen ein paar Jahrzehnte der politischen Verrohung in Deutschland. Im Jahr 2020 hatte Deutschland es mit einem neuartigen Virus zu tun, von dem schnell behauptet wurde, es würde einen Großteil des menschlichen Lebens auf der Erde auslöschen, würden nicht unverzüglich wirksame Maßnahmen ergriffen werden. Die Sorge war aus Unkenntnis und Vorsicht einige Wochen lang nachvollziehbar, denn niemand wusste, was genau da auf uns alle zukommt.

Doch die Faktenlage änderte sich recht schnell. Nach und nach zeigte sich, dass die Risikogruppe für COVID-19 überschaubar war. Sie zu schützen wäre keine Hexerei gewesen, sondern hätte besonnenen und überlegten Handelns bedurft. Nichts davon geschah! Statt auf Verständnis wurde auf Verrohung gesetzt.

Und während im Zuge der aktuellen Bauernproteste die beteiligten Täter aus der Politik nicht müde werden zu betonen, dass man sich ja in einer Demokratie streiten dürfe und miteinander reden müsse, taten dieselben Zeitgenossen das während der Corona-Episode nicht. Im Gegenteil, so etwas wie eine kritische Auseinandersetzung auf Augenhöhe fand nicht statt, auf skeptische Menschen wurde rhetorisch und physisch eingeprügelt, bis sich kaum noch jemand traute, etwas zu äußern, von dem er Gegenwind befürchten musste.

Und so verhält es sich auch bei anderen Themen, deren Gegenmaßnahmen gesellschaftlich erhebliche Auswirkungen haben.

Verrohung in Berlin

Was die Vorgängerregierung während der Corona-Episode an Zusammenhalt in der Gesellschaft zerstört hat, setzt die aktuelle Ampel-Regierung auf einem neuen Niveau fort. Jeder Appell an das Gemeinschaftsgefühl, jede Bitte um gegenseitigen Respekt, jeder Aufruf zu einer friedlichen Auseinandersetzung wird begleitet und überschattet von verbaler Hetze, Feindbildaufbau und dem Versuch, andere für das eigene Versagen verantwortlich zu machen.

Den derzeitigen Höhepunkt stellt der weinerliche Hinweis dar, die Bundesregierung könne nichts für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Desaster, und an den Bauernprotesten sei wahlweise Putin oder Merkel schuld, gern auch in Kombination. Nicht schuldlos sind zudem die Unionsparteien und das Bundesverfassungsgericht, das der Klage gegen die Ampel in Sachen Schuldenbremse inhaltlich zugestimmt und entsprechend sein Urteil gesprochen hat.

Den Gipfel der Berliner Verrohung stellt die Reaktion auf die Proteste der Bauern dar, von denen Finanzminister Christian Lindner (FDP) behauptet, sie hätten sich verrannt und sollten umkehren. Das Höfesterben deutscher (vor allem kleiner) Landwirte ist nicht neu, doch die aktuelle Regierung hat dagegen ebenso wenig etwas getan wie die Regierungen davor.

Wir erinnern uns an die Worte weiter oben im Text mit Blick auf eine Definition der Verrohung:

"Zunehmende Brutalität, Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit."

Alle drei Attribute treffen auf Politik und Medien der letzten gut drei Jahre zu. Die Brutalität zeigte sich nicht nur physisch bei Demonstranten gegen die Grundrechtseinschränkungen, sondern auch verbal durch die aggressive Beschimpfung von Kritikern der Maßnahmenpolitik, die auf Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit schließen lassen. Doch all das lässt sich nicht auf die Corona-Episode reduzieren, es ist eine bewusst eingesetzte und stetig eskalierte Strategie, um die Bevölkerung zu spalten und in Angst zu halten.

Doch das Pendel schlägt zurück.

Wieso sprechen?

Verpackt in verständnisvolle Worte, reagiert die Politik nun auf die Bauernproteste. Nachdem die Abschaffung der Kfz-Steuervergünstigung für landwirtschaftliche Fahrzeuge zurückgenommen wurde, soll die Streichung für Agrardiesel nun schrittweise statt sofort durchgezogen werden. Die Tatsache, dass die Bauern das nicht akzeptieren, wird mit Debatten in der Politik verwechselt, die von Kompromissen leben, man könnte auch sagen: von faulen Kompromissen und Absprachen hinter verschlossenen Türen.

Die Bauern sind nach Jahren der Gängelung und dem Wahnsinn der Bürokratie nicht mehr bereit, weitere Abstriche in Kauf zu nehmen, die nicht wenige von ihnen in ihrer Existenz bedrohen. Zumal ihnen täglich signalisiert wird, dass an der Streichung der Vergünstigung für Agrardiesel keine Zweifel bestehen.

Die Forderungen der Bauern sind klar, die Reaktionen der Politik sind deutlich, insofern muss man die Frage stellen, worüber jetzt noch geredet werden sollte.

Das Volk wird seit Jahren in Angst gehalten, und es sind keine äußeren Umstände, die diese Angst erzeugen, sondern es ist die Politik, die sich auf diese Strategie eingeschossen hat. Ein ängstliches Volk ist nun einmal leichter zu führen, das ist keine neue Erkenntnis. Ebenfalls nicht neu ist allerdings die sich daraus ergebende Folge: Man kann versuchen, durch Druck, Angst und Repression ein Volk in den Griff zu bekommen. Der Faktor Zeit spricht jedoch gegen diese Herangehensweise.

Inzwischen meidet die Politik den direkten Kontakt, das direkte Gespräch mit den Menschen bzw. im Speziellen mit den Bauern. Die beteiligten Politiker haben – man sieht das deutlich – Angst bekommen vor diesem Volk. Es ist unberechenbar geworden, zeigt weniger Angst und mehr Wut, weniger Zurückhaltung und mehr Kampfeswillen. Es ist kein Zufall, dass die Unterstützung der Bevölkerung für die Bauernproteste so ausgeprägt ist, dass andere Branchen sich dazugesellen, dass die politischen und medialen Versuche der Spaltung des Widerstandes weitgehend ins Leere laufen.

Diese Entwicklung hin zu mehr Selbstvertrauen der über Jahre missachteten Menschen hat nichts mit Verrohung zu tun, sie ist die Konsequenz einer verrohten Politik, die sich gegen die Menschen im Land richtet. Als die Corona-Episode begann, begann damit auch eine Phase des Ausprobierens bei Politik und Medien. Die Frage war, wie weit man gehen konnte mit dem Aufbau von Druck, dem Aussprechen von Verboten und der Aggressivität im Umgang mit Kritikern. Man konnte sehr weit gehen, und vermutlich waren nicht wenige der Entscheidungsträger selbst überrascht, wie einfach es war, durch schlichte, aber effiziente Erzählungen die Demokratie aufweichen zu können wie ein Stück Butter in der Sonne.

Faktisch waren die Grundrechtseinschränkungen der Corona-Zeit gesellschaftlich bedeutender und für die Demokratie gefährlicher als die heutigen Bauernproteste, die sich auf eine Branche beschränken. Aber die Zeit war noch nicht reif damals, sicher auch, weil die Angsterzeugung besser funktionierte. Die Menschen reagieren auf die Streichung von Subventionen nun mal anders als auf die Warnung, man müsse sich konform verhalten, weil es um Leben und Tod gehe. Doch das ist nur ein Aspekt, der andere steckt in der Tatsache, dass die eben genannte Phase des Ausprobierens seit Corona nicht beendet wurde. Sie wurde fortgesetzt bis zum heutigen Tage, und der Versuch, die verfassungswidrigen politischen Finanzentscheidungen auf dem Rücken der Bauern auszutragen, während die Ausgaben für Krieg und Rüstung nach wie vor unfassbare Dimensionen erreichen, geht nun nicht mehr auf.

Ein gutes Zeichen für die Demokratie

Verrohung? Ja, die gab es und die gibt es. Die politische Verrohung der Verantwortungsträger und der Medien ist mit den Händen zu greifen, sie ist so offensichtlich geworden, dass immer mehr der Menschen, die ihr ausgeliefert sind, die Augen davor nicht mehr verschließen können und nicht mehr verschließen wollen.

Seit fast vier Jahren wird die deutsche Bevölkerung in Angst gehalten, eine Krise löst die andere ab, und die Verursacher dieser Krisen heißen weder Putin noch Merkel noch AfD. Es sind die an den Schalthebeln der Macht sitzenden Entscheider, die die Krisen der letzten Jahre erzeugt und verursacht haben.

Man hielt das Volk in Angst, und man tat das mit einer Selbstverständlichkeit, die fahrlässig war. Immer wieder neue negative Botschaften erzeugten Angst, Unsicherheit und Zukunftssorgen bei den Menschen. Mut und Zuversicht standen ganz bewusst nicht als Angebot bereit, Maßnahmen, die die Lage der Menschen im Land verbessern, wurden nicht in Erwägung gezogen.

Nun scheint es, als würde sich die Angst der letzten Jahre bei vielen Menschen in Wut und Kraft verwandeln. Die Kompromisslosigkeit der Bauern bei ihren Forderungen, die wir (noch?) sehen, zeigt, dass sie sicher sind, das Richtige zu fordern, und dass Angst vor der Politik dabei nicht im Vordergrund steht.

Die beste aller Demokratien funktioniert so, dass es ein harmonisches Zusammenspiel zwischen Politik und Bevölkerung gibt. Sie ist wohl eher ein gedankliches Modell, das man in Schriften und Büchern formulieren kann, denn der Alltag in Systemen, die sich Demokratie nennen, ist bestimmt von Korruption, Machtspielen und egoistischen Interessen der Entscheidungsträger.

Die zweitbeste aller Demokratien ist die, in der die Politik mindestens Respekt, zuweilen aber auch Angst vor der Bevölkerung hat. Denn die Verantwortung von Politik in Demokratien sollte sein, die Bedürfnisse und den Bedarf des Volkes zu erkennen und danach zu handeln. Ein gewisses Maß an Angst auf der Entscheiderebene ist also kein Zeichen von Verrohung, sondern eines für Empathie der politischen Entscheider.

Die schlechteste aller Demokratien ist die, in der die Bevölkerung Angst vor den politisch Verantwortlichen hat. Denn bei Lichte betrachtet handelt es sich nicht mehr um eine Demokratie, sondern um eine totalitäre und autoritäre Gesellschaft, die sich nur einen anderen Namen gegeben hat.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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