Meinung

Distanzierung als Mittel der gesellschaftlichen Spaltung

Distanziert euch, was das Zeug hält! Es gibt so viel Böses und Schlimmes auf der Welt, dass es ohne Distanzierung einfach nicht mehr geht. Die Frage ist nur: Was bringt es?
Distanzierung als Mittel der gesellschaftlichen SpaltungQuelle: Gettyimages.ru

Von Tom J. Wellbrock

Die Erwartungshaltung ist klar: Alle friedliebenden Muslime in Deutschland müssen sich von der Hamas distanzieren. Von Terrorangriffen, Vernichtungsgedanken gegenüber Israel, von Selbstmordattentätern und Kopftuchbefehlen. Wer das nicht oder nicht eindeutig und mit dem passenden Vokabular tut, hat ein Problem. Denn nur eine Distanzierung mit der größtmöglichen Nähe zu dem, der die Distanzierung fordert, ist eine gute Distanzierung.

Die Distanzierung als Stimmungsmacher

Wie viele israelische Opfer hätten vermieden werden können, wenn sich nach dem 7. Oktober 2023 mehr Muslime von den Angriffen der Hamas distanziert hätten? Die Frage mag merkwürdig anmuten, kann man doch im Nachhinein eines Ereignisses durch eine bestimmte Haltung das Geschehene nicht mehr beeinflussen beziehungsweise verändern. Doch genau so wirkt es.

Es beginnt schon bei der Frage der Bezeichnung des Ereignisses. Tino Chrupalla (AfD) sprach kürzlich bei Markus Lanz von "Angriffen", als er den 7. Oktober beschrieb. Der Historiker und ehemalige israelische Soldat Michael Wolffsohn reagierte darauf zutiefst empört. Eine Verharmlosung der barbarischen Bluttaten sei die Bezeichnung Chrupallas. Das Gespräch über das angemessene Vokabular wurde vertieft. Ob Iran ein "Schurkenstaat" sei, wollte Lanz von Chrupalla wissen. Der stellte die Gegenfrage, was eine solche Titulierung in den internationalen Beziehungen zu suchen habe und dass vermutlich Annalena Baerbock (die Grünen) als Außenministerin bei einem Besuch in Iran diese Benennung unterlassen würde.

Aber wir sind hier, polterte Wolffsohn dem AfD-Mann entgegen. Und es sei richtig und wichtig, eine Diktatur wie Iran mit dem übelsten Wort zu titulieren, das zur Verfügung stünde. Es lief auf etwas Anderes hinaus: Lanz wollte wissen, ob man mit Iran und anderen Ländern überhaupt Beziehungen pflegen sollte. Ja, meinte Chrupalla, das sollte man. Überhaupt sollte Deutschland zu möglichst allen Ländern der Welt gute diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen pflegen. Er räumte noch ein, dass das politische System in Iran ein anderes sei als in Deutschland, dass man davon aber nicht die Antwort auf die Frage nach internationalen Beziehungen abhängig machen sollte. Deutschland habe eine Botschaft in Iran, ob es "uns" nun passe oder nicht, und damit einher gehe der Anspruch, miteinander in einer positiven Beziehung zu stehen.

Das war für Lanz und Wolffsohn dann doch deutlich zu wenig Distanzierung Chrupallas zu Iran. Er würde Länder wie Iran mit den USA (unserem jahrzehntelangen Beschützer) gleichsetzen. Gleiches mache er mit Russland, das er als ebenso wichtig wie die USA hinstellte, wenn es um wirtschaftliche Beziehungen gehe. Unmöglich sei das, erboste sich Wolffsohn, und Lanz stimmte ein in den destruktiven Zwei-Mann-Chor. Wie genau sich die beiden Chorsänger das richtige Verhalten vorstellten, verrieten sie nicht. Klar war aber, dass sich Chrupalla nicht angemessen distanzierte und "Schurkenstaaten" nicht als solche bezeichnete, das war die packende Analyse der beiden besten Deutschen mit der richtigen Haltung.

Präventive Distanzierung

Man stelle sich die deutschen Männer vor, und zwar alle deutschen Männer. Oder zumindest die, die noch den Mut haben, sich als biologischer Mann zu bekennen. Über den Daumen sind das ungefähr 35 Millionen, vielleicht mehr, vielleicht weniger, das kümmert uns jetzt nicht. Dieser beachtliche Haufen von Kerlen hat bisher als Kollektiv eines versäumt: Er hat sich nicht von den Vergewaltigern distanziert. Jeden Tag werden in Deutschland Frauen vergewaltigt. Wie kann es also sein, dass sich all die Männer, die keine Vergewaltiger sind, von diesen grauenvollen Taten bisher nicht ausdrücklich und sprachlich adäquat distanziert haben?

Sie machen sich damit nicht nur mit den Tätern gemein ‒ wenn man genau darüber nachdenkt, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sich ganz auf die Seite der Vergewaltiger zu schlagen und in gewisser Hinsicht ebenfalls Vergewaltiger zu sein. Daran führt kein Weg vorbei, denn sonst hätten sie sich ja längst distanziert. Und hätten sie wiederum das schon getan, sähe die Statistik der vergewaltigten Frauen ganz anders aus, es wären deutlich weniger Opfer männlicher Gewalt.

Sie meinen, das ist albern und absurd? Das ist es nicht, denn hinter der Forderung nach Distanzierung steckt etwas anderes, aber das wissen Sie sicher längst.

Aus Unbeteiligten werden Täter konstruiert

Wenn wir bei dem Beispiel der Vergewaltiger bleiben und Sie als männlicher Leser jetzt darüber nachdenken sollten, sich präventiv von den Tätern zu distanzieren, sitzen Sie tief drin in der Falle. Denn bis zu Ihrer Distanzierung waren Sie weder Täter noch Unterstützer von Vergewaltigern, Sie hatten sicherlich auch nicht die Spur des Verständnisses für Männer, die Frauen vergewaltigen. Die Vorstellung, dass ein Mann eine Frau vergewaltigt, erzeugte in Ihnen sicher Abscheu, Ekel und den tiefen Wunsch, die Täter mögen bestraft werden. Im besten Fall, so mochten Sie gedacht haben, gibt es mittelfristig Wege, um Vergewaltigungen aus der Gesellschaft zu verbannen. Wie das realisiert werden kann, mag Ihnen nicht klar sein, aber wichtig wäre es, es würde die Welt zu einem besseren Ort machen.

Doch nun stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, die Sie fixiert, wenn das Thema Vergewaltigung aufkommt. Stellen Sie sich eine Medienlandschaft vor, die Sie direkt anspricht, die Ihr (öffentliches) Schweigen verurteilt. Stellen Sie sich Politiker vor, die mit dem Gedanken spielen, alle Männer des Landes zu verweisen, die sich nicht klar zum Wert der Nichtvergewaltigung bekennen. Sie sind hin- und hergerissen, sehen keine Notwendigkeit, sich von Vergewaltigern zu distanzieren, hatten Sie doch schon vor der politischen und medialen Kampagne mit diesen abscheulichen Taten nichts zu tun und verurteilten diese aus voller Überzeugung und tiefstem Herzen.

Doch da der Druck stetig wächst, entscheiden Sie sich für eine öffentliche Distanzierung. Und damit beginnt das Drama erst richtig. Es heißt irgendwo, Ihre Distanzierung sei nicht überzeugend, nicht glaubwürdig. Woanders lesen Sie, dass sie zu spät kommt, man wirft Ihnen vor, zu lange geschwiegen zu haben. Jemand gräbt einen Kommentar von Ihnen auf Facebook aus, der sich unvorteilhaft für Sie auswirkt. Der Kontext des Kommentars war ein anderer, hatte mit dem Thema Vergewaltigung überhaupt nichts zu tun, zumal es damals im Kommentarverlauf recht humorvoll zuging und Zynismus mitschwang. Doch jetzt stecken Sie richtig in der Klemme. Nach Ihrer anfänglichen Distanzierung müssen Sie inzwischen immer häufiger Angriffen widerstehen, sich erklären, ihre tatsächliche Überzeugung verliert in der öffentlichen und veröffentlichten Wahrnehmung zunehmend an Bedeutung.

Am Ende ist Ihre Reputation so beschädigt, dass Sie keine Hoffnung mehr haben, sie wiederherzustellen. Und all das begann mit Ihrem ehrenwerten Versuch, sich von Vergewaltigungen zu distanzieren, mit denen Sie nichts, aber auch gar nichts zu tun hatten.

Haltung als Waffe

Es reicht heute nicht mehr, Täter für ihre Taten zu verurteilen, insbesondere dann nicht, wenn eine politische Motivation hinzukommt. Taschendiebe etwa sind Taschendiebe, bei denen ist nichts zu holen, was sich politisch ausschlachten ließe (Stand: 15. Dezember 2023). Der Angriff der Hamas auf Israel aber zum Beispiel muss schon in der Wortwahl als brutal, barbarisch, blutig und unmenschlich bezeichnet werden. Man erkennt das unter anderem daran, dass Tino Chrupalla für das Wort "Angriff" selbst angegriffen wurde, obwohl die Attacken der Hamas faktisch Angriffe waren. Brutal, ja, barbarisch, sicher, unmenschlich, auf jeden Fall. Doch die Heftigkeit der verbalen Zuschreibungen verhindert rückwirkend nicht die Taten. Nach Angriffen wie denen durch die Hamas auf Israel kann es also nur darum gehen, die Gegenwart und die Zukunft so zu gestalten, dass sich vergleichbare Taten nicht wiederholen.

Aber die Eskalationsbereitschaft ist in Deutschlands politischer Landschaft bekanntermaßen unverhältnismäßig ausgeprägt. Sie muss begründet werden mit pseudo-moralischen Überzeugungen, die am besten funktionieren, wenn der Gegner in möglichst aggressiven Nuancen dargestellt wird. Wie will man beispielsweise die Akzeptanz von zigtausend toten palästinensischen Zivilisten rechtfertigen, wenn nicht durch die Zuschreibung von Attributen für die Hamas, die weit mehr als eine Verurteilung der Taten impliziert, sondern sie als "menschliche Tiere" darstellt? Das ist das außenpolitische Prinzip deutscher Politik.

Innenpolitisch funktioniert es nach einem ähnlichen Prinzip. Durch die mal direkt, mal indirekt ausgesprochene Kollektivschuld einer bestimmten Gruppe wird diese für Ereignisse oder Entwicklungen verantwortlich gemacht, denen sie faktisch gar nicht zugerechnet werden kann. Und während das außenpolitische Vorgehen und Argumentieren in Form aggressiver Sprache dafür sorgt, selbst die grauenvollsten eigenen Taten zu rechtfertigen, werden innenpolitisch ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und der Aufbau von Hass geschürt. Beides dient als Nebenprodukt dafür, die eigenen politischen Grausamkeiten aus dem Fokus der Wahrnehmung der Bevölkerung zu nehmen.

Was am Ende übrigbleibt, sieht man an den Ergebnissen der aktuellen Haushaltsplanung in Deutschland. Da wird mit Inbrunst die "Solidarität" mit der Ukraine gefeiert und als unverzichtbar und notwendig verkauft. Gleichzeitig muss die deutsche Bevölkerung unter dem Sparzwang des sozialen Teils des Haushalts leiden, dem sie ausgesetzt ist. Doch genau das ist das größte und seit Jahren wachsende Problem Deutschlands: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich stetig weiter, Armut breitet sich aus, immer mehr Menschen sind nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Es ist einfach, von Gruppe A oder B die Distanzierung von was auch immer zu verlangen. Es dient der Rechtfertigung politischer Verbrechen und schürt die Spaltung der Gesellschaft. Von der Verantwortung für die wachsende Armut in Deutschland distanziert sich jedoch kein Politiker. Was sicher daran liegt, dass das Geld kosten würde. Geld, wohlgemerkt, das in das Leben der Menschen, nicht in die Rüstung und den Krieg investiert werden müsste. An diesem Punkt ist die Grenze der Bereitschaft zur Distanzierung erreicht.

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Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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