Die Grauzone deutscher Kriegsbeteiligung
Von Dagmar Henn
Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben auf Verlangen der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (Die Linke) zum zweiten Mal zu der wichtigen Frage Stellung genommen, wann eine Unterstützungshandlung gegenüber der Ukraine als direkte Kriegsbeteiligung gewertet werden könne. Man kann aus dem Text förmlich herauslesen, dass es zu einem gewünschten Ergebnis kam – das erste Papier vom 16.März des vergangenen Jahres zog die Grenze noch deutlich enger:
"Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen." (Anm. d. Red.: alle Hervorhebungen hier und im Weiteren wie im Original)
Eben diese Grenze wurde von der Bundesrepublik bereits mit der Ausbildung an den Panzerhaubitzen 2000 überschritten. Also mussten die Juristen diesmal eine völlig neue Antwort liefern, und in manchen Passagen blitzt auf, dass sie es mit einem gewissen Unbehagen taten.
"Politische Faustformeln wie: 'Wer lediglich Waffen liefert, wird nicht zur Konfliktpartei' verkürzen allerdings rechtlich komplexe Debatten und bilden die Rechtslage nur ungenau ab."
Aber zuerst wird folgsam das westliche Narrativ wiedergegeben, wonach Russland bereits im ukrainischen Bürgerkrieg ab 2014 eine Kriegspartei gewesen sei; man will sich keinen Spreißel einziehen, indem man darauf hinweist, dass mit dem Putsch in Kiew die ukrainische Verfassung außer Kraft gesetzt und damit die Abspaltung von Landesteilen, die diesen Putsch ablehnten, legitim gewesen sein könnte. Das würde schließlich die ganze Frage, ob es sich überhaupt um einen "völkerrechtswidrigen Angriffskrieg" von russischer Seite handele, sehr verkomplizieren. Wie überhaupt die Wirklichkeit an mehreren Stellen mit der Darstellung kollidiert.
Die Mühe, irgendwie eine Ausarbeitung zu zimmern, die der Bundestagsmehrheit nicht allzu sehr missfällt, lässt sich allein an der Tatsache erkennen, dass ausnehmend viele völkerrechtliche Texte aus dem vergangenen Jahr zitiert werden, und es handelt sich dabei samt und sonders um westliche Autoren. Es kann also keinesfalls ausgeschlossen werden, dass es sich dabei um politisch motivierte Auftragsarbeiten handelt. Die älteren Texte, die gelegentlich zitiert werden, sehen die Grenzziehung zwischen Waffenlieferungen und Konfliktbeteiligung in der Regel deutlich enger, so wie das auch in einem kurzen Verweis auf das "Nicaragua"-Urteil des Internationalen Gerichtshofs der Fall ist:
"Im 'Nicaragua'-Urteil befand der IGH, dass das Bewaffnen und Trainieren (training and military support) der sog. 'Contra'-Rebellen durch die USA als Form der Gewaltanwendung angesehen werden könne."
Gewaltanwendung ist der Punkt, der die Nichtkriegführung von der Beteiligung trennt. Und die Wissenschaftlichen Dienste machen da der bundesdeutschen Politik einen leisen Vorwurf:
"Die in der öffentlichen Debatte rezipierte Rechtsfigur der Nichtkriegführung ('non-belligerency') diente im weiteren Verlauf des Ukrainekrieges als (politischer) Referenzpunkt für die zunehmende Ausweitung von Waffenlieferungen einschließlich von Ausbildungsunterstützung ukrainischer Soldaten an westlichen Waffensystemen außerhalb des Territoriums der Ukraine, ohne dass deutlich wurde, wann der gesicherte Bereich der Nichtkriegsführung verlassen würde."
Wie gesagt, die Stellungnahme im letzten Jahr sah dies bereits bei der Ausbildung als gegeben an. Wobei die Wissenschaftlichen Dienste sorgfältig so tun, als wäre das Völkerrecht, auf das sie sich berufen, ein Gegenstand, der von politischen Machtverhältnissen völlig unabhängig ist.
"In der Staatenpraxis gab es Situationen, wo Waffenlieferungen nach Auffassung der Beteiligten keinenKonfliktparteistatus des unterstützenden Staates begründet haben: So hat die Unterstützung Saudi-Arabiens durch die USA im Jahre 2015 letztere nicht zur Partei im bewaffneten Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen gemacht."
Auch hier gilt nämlich der alte Satz: "Wo kein Kläger, da kein Richter." Dass Nicaragua es geschafft hat, eine Verurteilung der USA zu erzwingen, war weltweiter Unterstützung geschuldet. Aber diese Entscheidung fiel 1984, als die Sowjetunion als Gegenspieler der USA noch existierte. Die USA ignorieren dieses Urteil übrigens bis heute.
Seitdem haben die USA mehrere weitere völkerrechtswidrige Angriffskriege geführt, ohne je vor Gericht gestellt zu werden. Die Tatsache, dass die US-Unterstützung gegen den Jemen damals nicht dazu führte, dass die USA als Kriegspartei behandelt wurden, lag schlicht daran, dass weit und breit niemand war, der sie mit den entsprechenden Folgen als solche hätte behandeln können. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Lage in Bezug auf den Krieg in der Ukraine eine völlig andere ist. Im Gegensatz zum Jemen ist Russland ein Gegenüber, das militärisch jederzeit in der Lage wäre, Länder, die es als Kriegsbeteiligte sieht, auch als solche zu behandeln.
Wie gesagt, das Gutachten behandelt an vielen Stellen eine Realität, die es so nicht gibt:
"In der Völkerrechtslehre wird zudem vertreten, dass der gemeinsame Artikel 1 der Genfer Konventionen die Staaten verpflichte, von Waffenlieferungen an Konfliktparteien abzusehen, wenn die Unterstützerstaaten positiv Kenntnis davon haben, dass diese Waffen regelmäßig zur Begehung von Kriegsverbrechen eingesetzt werden."
Keine Kenntnis davon haben zu wollen, dass 155mm-Geschütze der NATO vielfach eingesetzt wurden, um das Atomkraftwerk in Energodar sowie die Zivilbevölkerung im Donbass zu beschießen, erfordert schon, dass man beide Augen fest geschlossen gehalten hatte. So blind ist aber nicht einmal der BND. Auch die Tatsache, dass HIMARS-Raketen auf Wohngebiete niedergingen, dürfte bekannt sein, von der Verwendung der berüchtigten Schmetterlingsminen ganz abgesehen. Sämtlich Kriegsverbrechen. Aber weil das dazu führen müsste, "von Waffenlieferungen abzusehen", wird folgender Satz angefügt:
"Im Ukrainekrieg deutet indes nichts darauf hin, dass die Lieferung westlicher Waffen gegen die genannten Vorschriften verstoßen könnte."
Wirklich heikel wird es nach Ansicht der Wissenschaftlichen Dienste in dem Moment, in dem Funktionen von Kommando und Kontrolle übernommen werden:
"Nach Auffassung von Teilen der Literatur erschöpft sich der Begriff der 'Teilnahme an Feindseligkeiten' nicht in der unmittelbaren Anwendung militärischer Gewalt, sondern kann u.U. auch Vorbereitungs- und Unterstützungshandlungen zugunsten einer Konfliktpartei umfassen."
Um diese Frage zu entschärfen, wird später noch erwähnt: "So betonte ein US-Militär, dass die US-Geheimdienste, die der Ukraine Informationen zur Verfügung stellen, sich nicht in den targeting-Prozess einmischen würden."
Nun, es gibt faktische Beweise aus der Kommunikation der NATO mit den ukrainischen Truppen, dass bereits im vergangenen Sommer ganze Listen von Zielkoordinaten zugeschickt wurden. Die beständigen Flüge von AWACS-Flugzeugen und Aufklärungsdrohnen etwa in der Nähe der Krim, gegen die immer wieder Raketen gestartet wurden, wirken auch nicht gerade wie eine Maßnahme zur Wettervorhersage. Aber der zitierte US-Militär spricht ja von den US-Geheimdiensten und nicht vom Pentagon, von EUCOM oder der NATO-Zentrale in Brüssel.
Es muss nicht erstaunen, dass so getan wird, als gäbe es bisher keine personelle Beteiligung. Auch an diesem Punkt ist im Grunde klar, dass längst Personal aus NATO-Staaten in die Kampfhandlungen involviert ist, schon allein aus technischen Gründen, weil es zeitlich unmöglich ist, ukrainisches Personal an komplexen Waffensystemen in kürzester Zeit auszubilden. Das betrifft die HIMARS-Raketenwerfer ebenso wie die Leopard-Panzer oder gar die Patriot-Batterien.
Es wäre interessant zu wissen, was die Wissenschaftlichen Dienste zu sagen hätten, wenn sie gefragt würden, ob eine verdeckte Mitwirkung deutschen Personals nicht doch eine klare Beteiligung darstellt. Es gibt genug Indizien dafür, dass es nicht nur angeblich freiwillige Söldner aus NATO-Ländern in der Ukraine gibt, sondern auch NATO-Offiziere.
Die russische Regierung hat sich bisher nach Kräften bemüht, den Punkt zu vermeiden, an dem sie gezwungen wäre, die NATO-Staaten nicht nur in öffentlichen Äußerungen Beteiligte zu nennen, sondern sie auch als solche zu behandeln. Das dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass zwar allerlei Indizien für die Tiefe dieser Beteiligung im Internet kursieren, aber die entsprechenden Dokumente und Aussagen nicht Teil der offiziellen russischen Kommunikation werden. Der Druck aus der Bevölkerung, härter zu reagieren, ist jetzt bereits beträchtlich. Das ist eine weitere Tatsache, die von den verantwortlichen deutschen Politikern gerne ignoriert wird.
Übrigens findet sich ein kleiner, unauffälliger Tritt vors Schienbein in dem Text. "Im Jahre 2015 hatte Deutschland seine Beteiligung an der Bekämpfung des 'Islamischen Staates' (IS) in Syrien und im Irak durch ein entsprechendes Schreiben an den VN-Sicherheitsrat angezeigt." Gegenüber Syrien war das eine Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, denn der syrische Staat hatte niemals um eine deutsche Unterstützung gebeten. Offenkundig war damals das Rechtsgefühl zumindest noch genau genug, sich dessen auch bewusst zu sein.
Ein neuer Aspekt, der so im vergangenen Sommer noch gar nicht existierte, betrifft die Quantität und die Qualität der Waffenlieferungen. Was, wenn der Staat, der diese erhält, ohne diese gar nicht mehr zu Kriegshandlungen imstande wäre? Faktisch ist das längst der Zustand, in dem sich das Kiewer Regime befindet. Ohne den regelmäßigen – und auch noch kostenlosen oder auf Kredit gewährten – Nachschub an Munition, Geschützen und Fahrzeugen wäre keine Fortsetzung der Kampfhandlungen möglich.
Das ist natürlich etwas ganz anderes, als einem kriegsführenden Staat ein paar Waffen zu liefern, die seine Performance vielleicht etwas verbessern. Dieser Punkt wird im Gutachten auch gesehen, denn auch eine Unterstützungsleistung kann sich in eine Kriegsbeteiligung verwandeln:
"Letztlich muss die Unterstützungsleistung das Geschehen auf dem Schlachtfeld in einer Weise prägen, dass der unterstützte Staat ohne sie nicht in der Lage wäre, Gewalt von vergleichbarer Intensität und Effektivität auszuüben."
Wenn dies der Fall ist (und jeder, dessen Lektüre sich nicht auf den westlichen Mainstream beschränkt, weiß, dass dem so ist), wird auch die Waffenlieferung zur Kriegsbeteiligung. Weshalb die Juristen der Wissenschaftlichen Dienste am Ende doch nicht umhin können, eine Warnung auszusprechen.
"Seit Frühjahr 2022 lavieren die NATO-Staaten zwischen (gewollter) Konfliktunterstützung zugunsten der Ukraine und (nicht gewollter) Konfliktbeteiligung. Derzeit dürften die Regierungen der Unterstützerstaaten kaum einen Grund haben, die Rhetorik der 'Nicht-Kriegspartei', die womöglich mehr an die eigene Bevölkerung als an die russische Gegenseite gerichtet ist, aufzugeben. Das 'Narrativ der Nichtkriegsführung' gerät jedoch in dem Maße argumentativ unter Druck, wie sich westliche Hilfeleistungen am Maßstab von rechtlich ausdifferenzierten und weithin akzeptierten Kriterien der Konfliktteilnahme messen lassen müssen."
Besonders interessant ist in diesem Absatz die Formulierung, die Rhetorik sei "womöglich mehr an die eigene Bevölkerung als an die russische Gegenseite gerichtet". Man kann das offener aussprechen: die Bevölkerung soll mit solchen Aussagen in Sicherheit gewiegt werden, auch wenn sich die staatlichen Handlungen schon längst zumindest tief im Graubereich bewegen. Russland trifft ohnehin seine eigenen Entscheidungen, auf die die Völkerrechtssicht des Westens wenig Einfluss hat, erst Recht nicht, wenn die meisten Staaten der Welt diese nicht teilen.
Letztlich werden es diese Staaten sein, die das Urteil fällen, was an den Handlungen westlicher Regierungen noch legitim war und was gegen das Völkerrecht verstoßen hat. Da wird auch der Betrug bei den Minsker Abkommen eine Rolle spielen, der eben nicht nur eine geschmacklose Handlung zweier westeuropäischer Regierungschefs war, sondern ein Verstoß gegen das Völkerrecht, der die Fortsetzung des Bürgerkriegs im Donbass erst ermöglicht hat, der wiederum letztlich den russischen Militäreinsatz auslöste. Dabei kann auch die Bundesregierung nicht auf Richter hoffen, die derart bereit sind, sich zu winden und Rechtfertigungen zu finden, wie das die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in diesem Fall taten.
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