Das verratene Wunder: Was die Geschichte Deutschland nach 1945 lehren wollte
Von Alexej Danckwardt
Zu den Wundern der Weltgeschichte zählt die Schnelligkeit, mit der das russische und das deutsche Volk nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem normalen Zusammenleben zurückkehrten. Der deutsche Faschismus verübte auf dem Gebiet der Sowjetunion, einschließlich des heutigen Russlands, abscheuliche Verbrechen, denen Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, Tausende von Dörfern niedergebrannt, der Tod suchte fast jede sowjetische Familie heim. Nach alledem schien eine Versöhnung über Hunderte von Jahren hinweg unmöglich. Vielleicht sogar absolut unmöglich.
Und doch versöhnten sich unsere Völker, und zwar unglaublich schnell. Schon die erste Nachkriegsgeneration von Deutschen und Russen schloss über die Gräben des Weltkrieges hinweg Freundschaften und verliebte sich sogar. Ich selbst bin ein Produkt einer solchen Nachkriegsehe. Meine Mutter, eine 1945 geborene Russin, und mein Vater, ein Deutscher aus der DDR, der am Tag der Landung der Amerikaner und Briten in der Normandie geboren wurde, begegneten sich Ende der 1960er Jahre in Moskau, verliebten sich, heirateten und sind einander bis heute treu geblieben.
Die Deutschen, die den Krieg oder zumindest die schweren Nachkriegsjahre überlebt haben, wussten die russische Großzügigkeit, den weitgehenden Verzicht auf Rache und die Größe der russischen Seele zu schätzen.
Der 2020 verstorbene Cornelius Weiss, Professor für Chemie an der Universität Leipzig und lange Jahre Vorsitzender der SPD in Sachsen, dessen Vater in den Nachkriegsjahren an der Entwicklung sowjetischer Atomwaffen beteiligt war, hat ein bewegendes Buch über Russland und die herzliche Einstellung einfacher Russen gegenüber ihm, einem Deutschen, geschrieben.
Noch in den neunziger Jahren, so lange ist das nicht einmal her, produzierte das deutsche Fernsehen Dokumentarfilme, in denen ehemalige deutsche Soldaten, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, unter Tränen die zum Abschied gesprochenen Worte einer einfachen russischen Frau wiederholten:
"Söhnchen, besuch uns wieder. Aber komm ohne Waffen."
Heute beherrscht eine andere Generation Deutschland. Eine Generation, die mit amerikanischer Kultur und allgegenwärtiger russenfeindlicher Propaganda aufgewachsen ist. Sie hat den Krieg und die Verbrechen des eigenen Volkes (mit Ausnahme lediglich des Völkermordes an den Juden) vergessen. Sie hat die Schuld gegenüber den Sowjetvölkern ebenso verdrängt und aus ihrem Bewusstsein gestrichen wie den sowjetischen Verzicht auf Rache und die russische Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung.
Nur so konnte geschehen, was sich nach 1945 nie hätte wiederholen dürfen: Deutsche Waffen töten wieder russische Soldaten, aber auch Frauen, Kinder und alte Menschen im Donbass. Und die deutsche Gesellschaft ist dreigeteilt: eine kleine Minderheit, vielleicht 20 Prozent, ärgert sich über die Rückkehr zur militanten Russophobie; eine viel größere Gruppe, vielleicht ein Drittel, feiert die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Russland unverhohlen ab und fordert immer mehr Waffen, die noch mehr Russen töten sollen; eine Mehrheit, die im Grunde nur der eigene Kühlschrank interessiert, billigt unter dem Einfluss massiver antirussischer Propaganda den neuen europäischen "Drang nach Osten" stillschweigend.
Hätte es anders kommen können?
Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv, und es ist schwer zu glauben, dass die hysterischen Russophoben, die offensichtlich von dem Wunsch getrieben werden, sich an Russland für die Niederlage ihrer Vorfahren zu rächen, plötzlich in der Versenkung verschwunden wären. Wäre nicht Olaf Scholz nach den Wahlen 2021 Kanzler geworden, wäre es Friedrich Merz, ein noch schlimmerer Transatlantiker, Revanchist und Russenhasser. Das Problem sind weniger die Personen an der Spitze, das Problem sind die herrschenden Strukturen: die Meinungsführer in allen Parteien, in den Medien und in den Thinktanks. Die Nord Stream-Pipelines wären übrigens so oder so gesprengt worden.
Woher soll eine russlandfreundliche Kanzlerin kommen, wenn in allen Parteien Russophobe das Sagen haben? Selbst die bei russischen Bloggern beliebte Sahra Wagenknecht hat sich in den Chor der Russland-Anprangerer eingereiht, und ihre Partei ist längst fest in der Hand von Russlandhassern und Anhängern des Kiewer Regimes. Ich kenne persönlich Mitglieder dieser Partei, die noch vor fünf Jahren stolz darauf waren, zu Empfängen im russischen Konsulat eingeladen zu werden, jetzt aber nur noch Galle spucken und sich immer und überall antirussischen Interpretationen anschließen. Ich kenne andere "Linke", frühere Anwaltskollegen, die gerne Honorare der russischen Botschaft kassierten, und jetzt jeden noch so absurden Unfug der ukrainischen Propaganda bereitwillig aufsaugen und damit ihren lodernden Hass füttern.
Die Partei "Alternative für Deutschland" arbeitet äußerlich darauf hin, die mehr oder weniger russlandfreundlichen unter den Wählern für sich zu gewinnen. Allerdings... Lesen Sie die Beiträge und die Kommentare in AfD-Foren an einem 8. Mai, und Sie werden sehen, dass die angebliche "Russland-Freundlichkeit" nichts anderes ist als Polittechnologie. So etwas Ähnliches sahen wir vor ein paar Jahren bei der FDP, die heute ganz vorn dabei ist bei Kriegstreiberei, der Verhängung von Blockaden und Sanktionen und der Verbreitung ganz und gar nicht liberaler Kollektivschuld-Thesen.
Ich versuche ja, den Standpunkt meiner ehemaligen Genossen und meiner früheren Nachbarn zu verstehen. Sie verstehen nicht, wie man ein Land "angreifen" kann, das fast acht Jahre lang zwei seiner (damals noch) eigenen Regionen mit Artillerie beschießt und keinen Hehl daraus macht, dass es beabsichtigt, gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Ein Land, das laut und mitten in München über Atomwaffen nachdenkt.
Nun, die Deutschen wurden von ihren Massenmedien nicht darüber informiert und sie haben kein Völkerrecht studiert (vor allem der Bundeskanzler und die Außenministerin nicht), haben nichts vom Selbstbestimmungsrecht und dem Verbot der Aggression gegen "stabilisierte De-facto-Regime" gehört. "Responsibility to protect" ist für sie nur eine Aneinanderreihung von Fremdwörtern.
Aber eines sollte doch selbst einem juristischen Laien einleuchten: Hat etwa noch nie jemand in der Geschichte jemanden angegriffen? Ist Russland der erste Staat, der seine Truppen außerhalb seiner Grenzen einsetzte? Zu Lebzeiten aller heute aktiven Berliner Politiker haben die USA mehrfach Kriege geführt: in Somalia, in Afghanistan, im Irak... Und das damals zur Rechtfertigung des Überfalls auf den Irak erfundene "Recht auf präemptive Selbstverteidigung" (wo bitte sind die USA und wo ist der Irak?) ist seitdem nicht abgeschafft worden.
Niemandem, nicht einmal den fanatischsten der Antiamerikaner unter den Deutschen (ich zählte dazu), ist damals die Idee gekommen, amerikanische Medien verbieten zu wollen, Flüge über den Ozean zu streichen, amerikanische Kultur zu boykottieren oder Diplomaten auszuweisen. Als Russland aber die Ukraine "angriff", wurden es und seine Bürger binnen weniger Tage aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gecancelt, was seitdem auch Millionen von deutschen Bürgern mit Verbindungen zu Russland das Leben erschwert.
Diese unterschiedliche Behandlung von Sachverhalten, die sich, wenn überhaupt, so doch nur zu Gunsten der russischen Sache unterscheiden, zeigt, wie tief der Nazismus in seiner russophoben Ausprägung noch immer in den Deutschen steckt. Es ist dieselbe Verachtung und dieselbe Ignoranz wie schon vor 82 Jahren, die im Frühjahr 2022 wieder zum Vorschein kam. Und sie ist nicht nur transatlantisch auferlegt. Sie ist eigen, authentisch, selbst gezüchtet.
Russland hat den Deutschen tatsächlich jahrzehntelang die Hand zur Freundschaft gereicht. Die Deutschen haben das nicht verstanden. Die Position eines gleichberechtigten Partners, die ihnen für die kommenden Jahrhunderte eine komfortable Existenz gesichert hätte, reichte ihnen nicht.
Es ist alles banal und einfach: Wie der Rest Europas fühlen sich die Deutschen von den russischen Ressourcen angezogen: Öl, Gas, Diamanten, Gold, fruchtbares Land, Holz und die größten Süßwasserreserven der Welt. Die Europäer wollen das alles selbst besitzen, um es nicht von "den Russen" kaufen zu müssen, die damit vielleicht zum ersten Mal seit Jahrhunderten in Wohlstand leben könnten. Vielleicht sogar besser als die Deutschen. Oder sie beschließen, ihre eigene Industrie und ihre eigene Wissenschaft zu entwickeln und verkaufen Gas, Öl und Holz irgendwann nur noch aus Mitleid mit dem abgewirtschafteten Europa.
Deshalb ist Russland nun auch offiziell zum Feind erklärt und als das Böse deklariert worden. Es geht um einen Vorwand für einen neuen Eroberungskrieg im Osten. Zumindest darum, die Russen so in die Enge zu treiben, dass sie den Deutschen und anderen Europäern "freiwillig" und zum Selbstkostenpreis das geben, was diese wollen. Nothing personal, just business. In Europa erfundener und patentierter Kolonialismus in Reinkultur.
Das macht die bisherigen Ereignisse und das, was noch kommen wird, verständlich. Aber es entschuldigt nichts.
Nach 1945 und ganz besonders nach der russischen Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung hätte sich der gierige deutsche Blick nie wieder gen Osten richten dürfen. Gegnerschaft zu Russland, lange Besserwissernasen in fremder Völker Angelegenheiten, Hochmut und Oberlehrertum, "am deutschen (Variante: europäischen) Wesen soll die Welt genesen" – all das musste tabu sein und für die Ewigkeit tabu bleiben. Das war die Lehre, die die Geschichte Deutschland 1945 eintrichtern wollte.
Und nun wiederholt sich das Muster zum bereits dritten Mal in nur wenig mehr als 100 Jahren (und wenn man bedenkt, dass die europäische Kolonisierung der Ukraine mit dem Maidan im Herbst 2013 begonnen hat, dann in exakt 100 Jahren): Deutschland ist wieder die aggressive Räuberin im Osten, wieder einmal in der Ukraine, die es wieder einmal von Russland zu reißen versucht. Was soll man von einem derart lernunwilligen Land halten? Ich meinerseits werde dieses Mal nichts vergeben und nichts verzeihen. Und ich werde alles dafür tun, dass auch Russland nicht verzeiht und nicht vergibt. Das war jetzt definitiv ein Mal zu viel.
Alexej Danckwardt studierte Jura und Völkerrecht an der Universität Leipzig und war anschließend 18 Jahre als Rechtsanwalt tätig. Von 2014 bis 2019 war er im Leipziger Stadtrat aktiv, zunächst für DIE LINKE, nach einem innerparteilichen Streit über die Rolle von Angela Merkel im Ukraine-Konflikt im Frühjahr 2016 als Parteiloser. Derzeit lebt er im russischen Exil.
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