Roderich Kiesewetters Tränen der Kriegsniederlage
Von Tom J. Wellbrock
Man könnte Kiesewetter dankbar für seine Ehrlichkeit sein. Immerhin umkreist er seine Gesinnung nicht wortreich, sondern sagt, was er denkt. Dennoch ist Dankbarkeit der falsche Reflex, denn der CDU-Politiker drückt – man kann sich des Eindrucks nicht erwehren – die Bereitschaft aus, einen aus seiner Sicht unvollendeten Krieg zu beenden, und zwar mit einem neuen Sieger.
Kiesewetters Äußerung kann noch weit verstörender interpretiert werden: Wenn die Deutschen 1945 den Umgang mit der Niederlage gelernt haben, so sind sie Russland voraus und somit moralisch überlegen, denn offenbar weigert sich Russland ja kategorisch, die Niederlage anzuerkennen. Aber es geht noch weit verstörender. Denn einmal mehr wird der deutsche Nationalsozialismus auf eine Stufe mit dem Ukraine-Konflikt gestellt. Russland wird also mit der deutschen Schreckensherrschaft gleichgesetzt.
Im Übrigen: Haben die Deutschen denn die Niederlage 1945 überhaupt gelernt? Sieht man sich das größenwahnsinnige Gebaren deutscher Außenpolitik heute an, darf man daran ernsthaft zweifeln, ja, man muss es sogar.
Deutschland will siegen lernen
Niemand scheint darüber noch nachzudenken, aber wir befinden uns in einem massiven Konflikt mit Russland, einem Land, dem die Deutschen unendliches Leid zugefügt haben. Doch statt am 9. Mai in Moskau gemeinsam den "Tag des Sieges" zu feiern (das wäre durchaus möglich) und den Nationalsozialismus in Erinnerung zu halten, schießen wir verbal und mit Waffen auf russische Soldaten, sperren Russen in Deutschland aus Restaurants, Kultur und Beruf aus und geben uns moralisch überlegen.
Das ist nicht nur geschichtsvergessen, es ist geradezu eine Weigerung, dieser Geschichte die Bedeutung zukommen zu lassen, die sie verdient. Doch von all dem wollen die Kiesewetters, Baerbocks und Strack-Zimmermanns nichts (mehr) wissen. Sie haben nur auf einen Anlass gewartet, das Verhältnis mit Russland nachhaltig zu zerstören, und sie nehmen, was sie kriegen können. Denn ausgerechnet die Ukraine als Grund zu benutzen, um deutsche Großmannssucht wieder weltweit in die Öffentlichkeit zu bringen, ist perfide.
Wir sprechen hier immerhin von einem Land, in dem Korruption, Staatsstreiche und Faschismus eine selbstverständliche Rolle spielen. Deutschland stellt sich treu an seine Seite und verkündet, dass es genauso ein Land ist, in dem unsere "Werte" zu Hause sind und verteidigt werden müssen. Damit sagt man mehr über die eigenen "Werte" aus als es zehn Historiker zusammen könnten.
Ein Hoch auf die Hetzer!
Wäre Roderich Kiesewetter jemand, der im stillen Kämmerlein von einem militärischen Sieg gegen Russland träumt, könnte man das unter der Rubrik "Persönlichkeit mit morbiden Auffälligkeiten" abhaken. Aber dem ist ja nicht so. Politiker wie er bekommen eine große Bühne, sie können ihren Fantasien freien Lauf lassen und werden sogar dafür gefeiert.
Erst kürzlich verkündete Kanzler Olaf Scholz im Bundestag nach der Bestellung von amerikanischen F-35-Tarnkappen-Jets:
"Wir leisten weiter unseren deutschen Beitrag zur nuklearen Teilhabe in der Allianz."
Nukleare Teilhabe? Deutscher Beitrag? Auf jeden Fall, findet die US-Botschaft in Deutschland. Dies "werde die glaubwürdige Abschreckung der NATO auch in Zukunft gewährleisten", lässt sich vernehmen. Und sämtliche Persönlichkeiten mit morbiden Auffälligkeiten tanzen auf den Tischen.
Jene Persönlichkeiten sitzen übrigens nicht nur an den gut bezahlten Schreibtischplätzen in den politischen Büros, sondern auch in diversen Redaktionen der Medien, deren Job es wäre, eine aggressive Politik kritisch zu hinterfragen. Wie das (nicht!) geht, zeigt die Tagesschau:
"Große Worte, aber wenig geht voran: Bei der Bundeswehr herrscht weiter Mangelwirtschaft ‒ trotz eines 100-Milliarden-Topfs. Zeitenwende? Fehlanzeige. Nun aber soll es losgehen mit den Rüstungsprojekten."
Es ist kein Wunder, dass ein Kiesewetter so unverhohlen und vor allem unwidersprochen seine militärischen Siegesträume über Russland zelebrieren kann. Er ist in bester und zahlreicher Gesellschaft, die von den Spitzenplätzen in Berlin bis in die staubigsten Redaktionsstuben am Rande von Bielefeld reicht.
Dem Autor bleibt am Ende dieses Textes nur wenig Hoffnung auf Besserung von Politik und Medien. Gänzlich getrieben vom Wunsch, diesmal auf der Seite der Gewinner zu stehen, schreitet die Eskalation voran, es gibt schon längst kein Halten mehr.
Und so bleibt für den Fall der Fälle nur ein Wunsch übrig: Mögen die Deutschen am Ende wieder einmal erkennen, dass sie die Niederlage lernen müssen.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Moderator und Mitherausgeber des Blogs "neulandrebellen".
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