Das westliche Verständnis von Gerechtigkeit ist dem Rest der Welt nicht vermittelbar
Von Fjodor Lukjanow
Militärische und politische Spannungen in Europa waren seit jeher ein Katalysator für tiefgreifende Veränderungen in der Struktur der Weltpolitik und der Weltwirtschaft. Und natürlich haben diese Veränderungen auch Russlands Platz in dieser Welt oft neu definiert.
Während die Anzeichen für Spannungen in Europa seit mindestens einigen Jahren offensichtlich geworden sind, ist die Neudefinition Russlands jetzt deutlich sichtbar. Das Jahrestreffen des Waldai International Discussion Clubs im Oktober 2022 in Moskau hat diesen Trend deutlich gemacht und wichtige Fragen aufgeworfen.
Viele in Russland sprechen seit langem von der Notwendigkeit, sich von dem westlich zentrierten Weltbild zu lösen, das unserem politischen Bewusstsein seit Jahrhunderten innewohnt. Es geht dabei nicht um Sympathien oder Antipathien, sondern um das Verstehen von Veränderungen in der Weltordnung: Man kann nicht einen großen Teil der Welt völlig außer Acht lassen, in dem die globale Mehrheit der Weltbevölkerung lebt und wo die intensivsten wirtschaftlichen Entwicklungen stattfinden. Aber es ist schwierig, die tief verwurzelte Gewohnheit zu überwinden, das eigene Handeln durch das Prisma der Beziehungen zum Westen zu bewerten. Die Ereignisse des Jahres 2022 erzwangen diese Überwindung schließlich im Schnelldurchlauf – und der Westen selbst ergriff dabei die Initiative.
Die Veranstaltung des Waldai-Clubs war in dieser Hinsicht aufschlussreich, da es bei der Teilnehmerschaft selbst eine Erneuerung gab. Die üblichen Gäste aus Westeuropa und den USA erschienen mehrheitlich nicht – einige aus prinzipiellen Gründen, andere, weil sie von ihren Arbeitgebern daran gehindert wurden. Somit bot das anwesende Publikum die Möglichkeit, einen repräsentativen Querschnitt der globalen Mehrheit und deren Haltungen und Forderungen zu beurteilen.
Um mit dem Offensichtlichen zu beginnen: Man kann sagen, dass die nicht-westliche Welt dem Bestreben Russlands, das System der westlichen Vorherrschaft auf der internationalen Bühne zu brechen, mit Sympathie begegnet. Die Haltung zur Militäroperation in der Ukraine reicht von Verständnis für die Gründe bis hin zum Bedauern über die humanitären Folgen. Aber es gab praktisch keine Verurteilung – geschweige denn Forderungen nach Bestrafung dafür, dass Russland den Westen herausgefordert hat. Und das liegt nicht an der Billigung des Vorgehens in der Ukraine, sondern gerade daran, dass die Bewohner der ehemaligen Dritten Welt es für richtig und historisch gerecht halten, sich gegen ehemalige Kolonialherren zu stellen. Mit anderen Worten: Die aufgestaute Irritation gegenüber dem Westen manifestiert sich in diesem Fall in einer entschiedenen Weigerung, die westlichen Haltungen einzunehmen.
Und daraus folgt, dass sich ein unerforschter Pfad aufgetan hat. Russland spricht jetzt von der Notwendigkeit einer Weltordnung, in der alle Staaten ihre kulturellen und nationalen Besonderheiten frei entfalten können, ohne von außen auferlegte Werte.
Diese Idee findet begeisterte Zustimmung. In Asien, Afrika und Lateinamerika formt ein feiner Sinn für die Ungerechtigkeit, die das gesamte westlich geführte Wertesystem durchdringt, seit jeher die Ansichten der Menschen auf diesen Kontinenten. Dass auch Russland auf diese Denkweise umgeschwenkt ist, wird begrüßt. Das Land wird aber nicht als Initiator dieses Trends wahrgenommen, sondern eher als Neuankömmling in der Bewegung, der nach langer Irrfahrt hinzugestoßen ist. Natürlich hilft hier die sowjetische Vergangenheit. Die Welt erinnert sich an die Rolle, welche die UdSSR bei der Entkolonialisierung weiter Teile des Planeten gespielt hat. Aber es gibt auch ein Verständnis dafür, dass das moderne Russland nicht die Sowjetunion ist, sondern ein Land mit einer vielfältigeren Identität.
Zudem ist Gerechtigkeit kein universelles Konzept. Die Interpretation von Gerechtigkeit ist ein Produkt der individuellen Kultur einer Gemeinschaft – vor allem im internationalen Bereich, wo das Verständnis für das, was richtig ist, untrennbar mit der Verwirklichung nationaler Interessen verbunden ist. So ist "Gerechtigkeit" als Schlagwort zwar gut und als Handlungsleitfaden richtig, aber in der Praxis kaum anwendbar. Genauer gesagt muss Gerechtigkeit von sehr konkreten Taten begleitet sein, die ein Partner als nützlich empfindet und die neue Möglichkeiten eröffnen.
Die nicht-westliche Welt, wie auch immer die einzelnen Länder zur NATO stehen, hat kein Interesse an unnötigen Konflikten und Komplikationen. Zumindest vorerst nicht, während die Umstrukturierung der globalen Ordnung erst noch an Fahrt gewinnen muss. Der Vorteil, den der Westen gegenüber dem Nicht-Westen hat, ist immens, aber er schrumpft. Und ebenso das Ausmaß des westlichen Einflusses auf die globalen Prozesse.
Bei der Verwirklichung von Ideen der Gerechtigkeit ist folglich in erster Linie die Schaffung von Alternativen zu dem bisherigen internationalen Monopol erforderlich. Und es ist ebenso notwendig, den Aufbau von wirksamen Formen der Interaktion und Entwicklung zu ermöglichen – nicht gegen den Westen, sondern an ihm vorbei und ohne dessen Beteiligung. Jeder hat ein Interesse daran und die Ereignisse des Jahres 2022 haben gezeigt, dass eine solche Möglichkeit besteht. Umso mehr, als der Westen selbst bei der Sanktionierung Russlands gezeigt hat, wie weit er bereit ist zu gehen, um die eigenen Vorteile auszunutzen. Und um noch weiter über das Thema Gerechtigkeit zu spekulieren: Die Aufregung um das ukrainische "Getreideabkommen" hat gezeigt, dass das Gerede von der "Fürsorge für die Schwachen und die Armen" leicht für spezifische politische, wirtschaftliche und sogar militärische Zwecke ausgenutzt werden kann.
Russland steht vor einer Herausforderung von wahrhaft historischer Komplexität. Erstens muss das Land die nicht-westliche Welt nicht etwa für eine ideologische Agenda begeistern, sondern für die absolut praktischen Vorteile einer Interaktion. Zweitens muss Russland parallele Kanäle für derlei Interaktionen öffnen, die vor einem strafenden Einfluss unfreundlicher Länder geschützt sind. Dies erfordert maximale Kreativität, da fast alles von Grund auf neu aufgebaut werden muss.
Um die Probleme im neuen Kontext allgemein anzugehen, ist eine Voraussetzung erforderlich: Man muss verstehen, dass dies keinen Angriff auf den Westen darstellt. Vielmehr ist es die einzige Möglichkeit für Russland, sich an die veränderten Umstände anzupassen und zu überleben.
Die Umstände, an die sich Russland in der Vergangenheit gewöhnt hat, gelten nicht mehr.
Aus dem Englischen
Fjodor Lukjanow
ist Chefredakteur von "Russia in Global Affairs", Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, und Forschungsdirektor des Valdai International Discussion Clubs.
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