Teilrückzug Russlands aus Cherson: Drei mögliche Erklärungen
Von Andrew Korybko
Die Ankündigung des russischen Verteidigungsministeriums am Mittwochabend, dass sich seine Streitkräfte über den Dnjepr in das neu eingegliederte südliche Gebiet Cherson zurückziehen, verursachte bei denjenigen, die mit Moskaus Spezialoperation in der Ukraine sympathisieren, einen gewaltigen Schock. Obwohl die Behörden im vergangenen Monat alle Zivilisten vom rechten Ufer evakuierten und Armeegeneral Surowikin zuvor gewarnt hatte, dass in Zukunft möglicherweise mit harten militärischen Entscheidungen gerechnet werden muss, haben nur wenige tatsächlich mit einem erneuten Rückzug gerechnet.
Dieser jüngste Rückzug folgt auf den Rückschlag im Gebiet Charkow vor zwei Monaten, der viel chaotischer und desorganisierter war als der jetzige Rückzug aus dem Gebiet Cherson, wobei Charkow – im Gegensatz zu Cherson – nicht Bestandteil der Russischen Föderation war. Die Optik der neuesten Entwicklung ist daher äußerst unbequem und kann nicht beschönigt werden – und das russische Verteidigungsministerium hat das auch nicht versucht. Stattdessen informierten Armeegeneral Surowikin und Verteidigungsminister Schoigu das russische Volk offen darüber, warum dieser neueste Rückzug zwingend wurde.
Nach Meinung des russischen Verteidigungsministeriums ist es militärisch wenig sinnvoll, dieses Territorium zu halten, zumal ein Damoklesschwert über dem nahe gelegenen Staudamm von Kachowka schwebt, der von Kiew jederzeit angegriffen und zerstört werden könnte, was letztendlich – nebst verheerenden Flutschäden – die am rechten Ufer verbliebenen Streitkräfte isolieren würde. Vor diesem Hintergrund wurde die Entscheidung getroffen, mit dem Rückzug der Streitkräfte zu beginnen. Am schmerzlichsten ist jedoch, dass im Zuge dieses Prozesses auch die gleichnamige Hauptstadt der Region evakuiert wird. Aus diesem Grund bejubeln Kiew, seine westlichen Gönner und Unterstützer wie von Sinnen, was gerade vor sich geht.
Die folgenden drei Theorien liefern die wahrscheinlichsten Erklärungen für die jüngste Entwicklung:
1. Kiew drängt die russischen Streitkräfte mit westlicher Unterstützung erfolgreich zurück.
Diese konventionelle Theorie der Ereignisse postuliert, dass der von den USA geführte Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland durch die Ukraine, der Moskaus militärische Spezialoperation überhaupt erst provozierte, sich so weit entwickelt hat, dass Kiew die russischen Streitkräfte erfolgreich aus dem Gebiet zurückdrängt, das Russland jetzt als sein eigenes Territorium beansprucht.
2. Moskau stellt seinen Gegnern eine clevere militärische Falle.
Die zweite, eher spekulative Theorie ist der Verdacht, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen und dass Moskau seinen Gegnern eine clevere Falle stellt, um sie dazu zu verleiten, ihre Versorgungslinien zu überdehnen, sich somit Luft- und Artillerieangriffen auszusetzen und einen Stalingrad ähnlichen Schlüsselmoment im Kampf um die Stadt Cherson zu erzwingen.
3. Ein teilweiser Rückzug aus Cherson ist die Voraussetzung für einen Waffenstillstand.
Diese letzte Theorie ist rein spekulativ und stützt sich auf die Abfolge von Signalen, die diese Woche aus den USA gesendet wurden und die Bekräftigung der Interessen Russlands durch die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, am Mittwoch. Dies könnte darauf hinweisen, dass dieser Rückzug die Voraussetzung für einen Waffenstillstand ist.
In Bezug auf die erste Theorie kann sie als wahrscheinlich angesehen werden, wenn Folgendes passiert: Die vom Westen unterstützten ukrainischen Streitkräfte besetzen erfolgreich das gesamte rechte Ufer des Dnjepr, von dem sich Russland zurückgezogen hat; sie überqueren dann erfolgreich den Dnjepr im Gebiet Cherson; und dies führt dann dazu, dass Russlands "Korridor zur Krim" entweder unterbrochen oder rasch vollständig zerstört wird.
Die zweite Theorie erfordert Folgendes, um als wahrscheinlich zu gelten: Die vom Westen unterstützten ukrainischen Streitkräfte kämpfen darum, das gesamte rechte Ufer der Region Cherson zu besetzen; sie kämpfen ebenso darum, die Stadt Cherson zu besetzen; ihre Bemühungen enden damit, dass das rechte Ufer des Gebiets Cherson zu einer – eventuell entmilitarisierten – Pufferzone wird.
Schließlich muss Folgendes passieren, damit die dritte Theorie nicht als Hirngespinst abgetan werden kann: Das rechte Ufer des Gebiets Cherson bleibt entweder entmilitarisiert oder wird von Kiew nur schwach militarisiert; die Kämpfe zwischen den vom Westen unterstützten ukrainischen Streitkräften und den Streitkräften Russlands im Gebiet Cherson verlieren an Intensität und enden irgendwann; ein diplomatischer Durchbruch wird vor, während oder unmittelbar nach dem G20-Treffen in Indonesien in der nächsten Woche erzielt.
Um das Ganze zusammenzufassen, sind hier die drei wichtigsten Erkenntnisse aus dem, was gerade passierte:
1. Russland hat sich zur Enttäuschung aller seiner Unterstützer von einem Territorium zurückgezogen, das es für sich als Staatsterritorium beansprucht.
2. Es ist wahrscheinlich, dass Kiew weiter vorrücken wird oder in einem Sumpf stecken bleibt, als einem Waffenstillstand zuzustimmen.
3. Es besteht die Möglichkeit, dass Kiew und/oder Russland asymmetrisch auf die jüngste Entwicklung reagieren.
Übersetzung aus dem Englischen.
Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas "Neue Seidenstraßen"-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.
Mehr zum Thema - "Wir werden so viele Leben wie möglich retten" – Evakuierung von Cherson geht weiter
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.
Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.