Droht bei einer neuen bipolaren Weltordnung ein großer Krieg?
Von Timofei Bordatschow
Was wir derzeit erleben ist nicht der Kalte Krieg und Russland ist nicht die Sowjetunion. Eines der Zeichen der derzeitigen Veränderungen ist nicht die Spaltung der Welt in gegensätzliche Lager, sondern die Anpassung an veränderte Bedingungen infolge eines Konflikts unter Großmächten. Dies könnte sehr wahrscheinlich ein Signal dafür sein, dass wir in Zukunft keine Wiederherstellung der bipolaren internationalen Ordnung erleben werden, wie sie von 1945 bis 1990 Bestand hatte.
Die Haltung des größten Teils der Welt zu dem Konflikt zwischen Russland und dem Westen zeigt, dass die Menschheit jetzt viel geeinter und fähiger ist, sich den Gegebenheiten anzupassen; selbst an große Herausforderungen, die bis vor Kurzem noch nicht in Betracht gezogen wurden. Das widerlegt die Vorstellung, der amerikanische Zentrismus mache in Weltangelegenheiten weiterhin jedes Problem, das im Zusammenhang mit Washington steht, zum bedeutsamsten in der Welt und könne zu einer globalen Spaltung führen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Russland glauben sollte, sich automatisch die Unterstützung der Mehrheit der Staaten sichern zu können, wenn es bloß auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Daran muss noch gearbeitet werden. Aber es wäre leichtsinnig anzunehmen, dass die mehrheitliche Weigerung der Nationen der Welt, sich dem Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland anzuschließen, eine Unterstützung für Moskaus Verhalten bedeutet, wenngleich diese Nationen auch insgesamt 85 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren.
Sechs Monate nach Beginn der Militäroperation in der Ukraine zeigt die Dynamik der internationalen Haltung gegenüber dem politisch-militärischen Konflikt und seinen Teilnehmern, dass die meisten Länder bereit sind, sich zu distanzieren. Die große Ausnahme bildet hier China, dessen Politik zunehmend prorussisch ist und mit der Eskalation seiner eigenen Probleme mit den USA weiterhin die wahre Tiefe des gegenseitigen Vertrauens zwischen Moskau und Peking unter Beweis stellt. Dieser Zusammenhang ergibt sich jedoch aus der Entwicklung der beiden Länder in den vergangenen zwanzig Jahren und der objektiven Konvergenz ihrer Herangehensweisen an große systemische Probleme – also nicht durch die unmittelbare Krise in Europa. Natürlich ist es noch zu früh, um zu sagen, wie die internationale Ordnung in Zukunft aussehen wird, nachdem der Westen gezwungen wurde, seine historische Niederlage im Kampf um die Aufrechterhaltung der globalen Vorherrschaft einzugestehen. Sie wird allmählich geformt, auch wenn die führenden Mächte auf oft sehr gefährliche Weise die Grenzen ihrer Machtfähigkeiten und die Grenzen dessen definieren, was zulässig ist.
Angesichts der Irrationalität eines großen länderübergreifenden Krieges und dem Ausmaß von seit langem bestehenden Problemen, wird dieser Prozess wahrscheinlich viel länger dauern als frühere Episoden radikaler Veränderungen in der internationalen Ordnung. Wir erleben jetzt eine der ersten Etappen einer dauerhaften weltpolitischen Neuausrichtung. Wir sprechen in der Tat vom Ende einer mehrere hundert Jahre dauernden Periode. Aber selbst in diesem Stadium können wir bereits einige Anzeichen für das Verhalten von Mächten erkennen, die systemische Faktoren in der Entwicklung der internationalen Politik sein werden. Es ist daher wichtig, dass ein Zeichen der stattfindenden Veränderungen nicht die Teilung der Welt in gegensätzliche Lager ist, sondern – größtenteils – die Anpassung an die veränderten Bedingungen, die sich aus dem Konflikt ergeben.
Aber selbst in diesem Stadium können wir bereits einige Anzeichen für das Verhalten von Mächten erkennen, die systemische Faktoren in der Entwicklung der internationalen Politik sein werden.
Das Flaggschiff einer solchen Anpassung ist natürlich Indien, einer der bevölkerungsreichsten Staaten, mit sehr ernsthaften Ambitionen in Bezug auf seine Rolle in der Welt. Bisher hat es noch nicht das wirtschaftliche, militärische oder gesellschaftliche Stadium erreicht, das den Subkontinent zu einer wahren Großmacht machen würde. Aber gleichzeitig ist Indien der Vorreiter einer Mehrheit, die nicht die Absicht hat, sich in gegnerische Lager spalten zu lassen oder eine Quelle von Ressourcen für Rivalen wie Amerika, Russland oder China zu werden. Neu-Delhi hat beständig Handelsbeziehungen zu Moskau gepflegt und sich in den vergangenen Monaten zu einem der größten Außenhandelspartner Russlands entwickelt.
Indische Beamte betonen fortwährend, dass ihre Weltanschauung nicht antirussisch ist. Die Zurückhaltung in einigen Bereichen, in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Russland, hängt nur mit einer wohlbegründeten Angst zusammen, dass inländische Geschäftsinteressen den Repressalien der USA ausgesetzt werden. Zudem wird Indien von den meisten Entwicklungsländern in Asien, Afrika und Lateinamerika als Vorbild betrachtet. Wir sehen aber vor allem eines: Sechs Monate, nachdem sich die Krise zwischen Russland und dem Westen in einen politisch-militärischen Zusammenstoß verwandelt hat, wurde die Zahl der Länder, die auch nur verbal bereit sind, die USA in ihrem Kampf gegen Moskau zu unterstützen, mehr als halbiert.
So wurde vergangene Woche versucht, die Unterstützung der UN-Mitglieder für eine neue Erklärung zu gewinnen, mit der Russlands Vorgehen in der Ukraine-Frage verurteilt werden sollte. Während mehr als 140 Länder bei der UN-Generalversammlung im vergangenen März eine ähnliche Resolution unterstützten, folgten ihr diesmal nur 58 Länder. Darunter sind insgesamt 30 formelle Mitglieder der von den USA geführten NATO, und mehrere weitere sind durch bilaterale Verteidigungsabkommen an Washington gebunden. Somit haben es mehr als zwei Drittel der internationalen Gemeinschaft vermieden, ihre Position zu europäischen Angelegenheiten festzulegen. Dies ist natürlich teilweise ein Ergebnis der russischen und chinesischen Diplomatie, die beständig darauf hinweist, dass die wahre Ursache des Krieges in Europa die Politik der USA ist.
Diese Dynamik zeigt vor allem, dass die Entwicklungsländer verstehen, dass sie die Möglichkeit haben, eine bestimmte Wahl nicht zu treffen. Stattdessen ist eine Strategie der Distanz zu einem Konflikt vernünftiger, und im aktuellen Kontext gerechtfertigt. In Europa ziehen sich die Angelegenheiten hin, und es bilden sich die Konturen eines langen Konflikts zwischen Russland und dem Westen, mit unterschiedlichen Graden von Spannungen. Der größte Teil der Welt indes wird sich zunehmend an das Leben unter diesen neuen Umständen anpassen. Für die USA selbst hat die Abnahme ihrer Fähigkeit, ihren Willen durchzusetzen, zu einer Strategie der Einschüchterung und des Drucks auf unabhängige Akteure in der internationalen Gemeinschaft geführt.
Aber auch diese Politik wird nicht erfolgreich sein. Selbst wenn Washington über einen enormen Repressionsapparat verfügte, würde dieser völlig wirkungslos, wenn die US-Regierung all ihre internationalen Aktivitäten in die Durchsetzung von "Sanktionen" konzentrierte. Allerdings können wir ein solches Szenario auch nicht gänzlich ausschließen. Infolgedessen werden immer mehr Länder sowohl mit Russland als auch mit dem Westen zusammenarbeiten. Und das Tempo dieser Zusammenarbeit wird von der Möglichkeit abhängen, etwas von beiden Seiten zu bekommen.
Der Konflikt in Europa wiederum wird sich zunehmend lokalisieren und nur noch für die Hauptbeteiligten von unmittelbarem Interesse sein. Während der Rest der Welt versuchen wird, sich nicht daran zu beteiligen. Für Russland bedeutet dies, dass es offen und in der Lage sein muss, den Entwicklungsländern das anzubieten, was sie brauchen – in den Bereichen Energie, Handelsgüter, Wissenschaft oder Bildung. Aber es besteht absolut keine Notwendigkeit, irgendjemanden in den Kampf um russische Interessen und Werte zu locken – genau das, was der Großteil der Welt vermeiden möchte. So können wir relativ entspannt bleiben. Die Teilung der Welt in gegnerische Lager, die eine wesentliche Bedingung für den Ausbruch eines größeren Krieges ist, wird dadurch vermieden.
Übersetzt aus dem Englischen
Timofei Bordatschow ist Programmdirektor beim Waldai-Klub. Als Forscher ist er auf internationale Beziehungen und aktuelle Fragen der Weltpolitik sowie insbesondere auf die russisch-europäischen Beziehungen spezialisiert.
Mehr zum Thema - Lawrow: Kiew meidet Verhandlungen, kollektiver Westen für Situation in der Ukraine verantwortlich
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.
Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.