von Dagmar Henn
Wusste Olaf Scholz, was er da schrieb, als er in seinem Gastbeitrag für die FAZ die Vorbereitungen seiner Regierung auf die Russland-Sanktionen mit einem Datum versah? Diese Aussage muss man sich genauer ansehen:
"Schon im vergangenen Dezember, also zwei Monate vor Kriegsbeginn, haben wir uns mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir im Fall der Fälle die Energieversorgung unseres Landes sicherstellen können."
Ein Blinder mit dem Krückstock erkennt, dass diese Vorbereitung allerdings nicht allzu viel wert war, außer sie wäre mit dem Ziel erfolgt, die breiten Massen in Deutschland möglichst sicher verarmen zu lassen. Aber das ist noch nicht einmal das Entscheidende in dieser Aussage.
"Schon im vergangenen Dezember ..."? Am 15. Dezember übergab das russische Außenministerium den russischen Forderungskatalog mit gegenseitigen Sicherheitsgarantie-Angeboten, der im Kern eine Neutralität der Ukraine und einen Verzicht auf eine weitere Ausdehnung der NATO verlangte. Realisierbare Forderungen, sollte man meinen. Dass seitens der USA ein Eingehen darauf nie auch nur in Erwägung gezogen wurde, überrascht nicht. Aber dass sich – wenn man Scholz' Aussage ernst nimmt – auch die deutsche Bundesregierung sofort auf ein Ignorieren der dringenden Aufrufe und damit auf eine Eskalation eingestellt hätte, das wundert doch ein wenig.
Der Dezember ist ein kurzer Arbeitsmonat; die erwähnte Auseinandersetzung muss demzufolge zwischen dem 15. Dezember als Tag der offiziellen Übergabe und dem 1. Weihnachtsfeiertag erfolgt sein. Unmittelbar davor hatte sich Scholz noch mit Macron und Selenskij in Brüssel getroffen und angeblich die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen besprochen.
Im Rückblick wirkt das noch bizarrer als damals schon. Diese Mischung aus Gerede über diese Vereinbarungen, das nie wirklich ernst gemeint war, und Aufrüstung der Ukraine wie der NATO, gekoppelt mit der immerwährenden Behauptung einer russischen Aggressivität, während in Wirklichkeit die ukrainischen Truppen im Donbass stetig heftiger in die abtrünnigen Städte feuerten.
Noch Mitte Januar – während Baerbocks Besuch in Moskau – sollten eigentlich die Minsker Vereinbarungen das Mittel sein, mit dem ein größerer militärischer Konflikt in der Ukraine hätte verhindert werden können. Hätte ... es wurde wohl nichts. Inzwischen wissen wir – dank Petro Poroschenko – dass die neuen Regierungen in Kiew seit 2014 nie vorhatten, die Minsker Vereinbarungen jemals umzusetzen. Weil Scholz schon im Dezember 2021 "im Fall der Fälle die Energieversorgung sicherstellen" wollte, wissen wir jetzt auch nachweislich, dass offenbar auch die deutsche Bundesregierung dies ebenfalls nicht wollte.
Seit dem Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine wird im Westen so getan, als gäbe es da eine klar erkennbare Linie, als ließe sich die Zeit ordentlich in einen Abschnitt "Frieden" und einen Abschnitt "Krieg" teilen und als sei diese Linie eindeutig von einem einzigen Schuldigen – nämlich Russland – überschritten worden.
Ende Januar gab es noch einmal ein Treffen im sogenannten Normandie-Format, jener Zusammensetzung, bei der die französischen und deutschen Vertreter dem direkten Zusammentreffen mit Vertretern der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk erfolgreich entrinnen konnten. Auch das war solch eine wohlorganisierte Heuchelei, denn nach allen ernstzunehmenden Kriterien einer wirklichen Entwicklung hin zu einem Frieden wäre die direkte Beteiligung der Donezker und Lugansker Vertreter an Verhandlungen mit Erfolgsaussicht unabdingbar gewesen.
Ende Dezember wurde übrigens gemeldet, Nord Stream 2 sei mit technischem Gas befüllt und damit technisch betriebsbereit. Da hatte die Regierung Scholz angeblich aber schon den "Fall der Fälle" bearbeitet. War sie von den US-amerikanischen "Freunden" da bereits über den Inhalt des beabsichtigten Sanktionspakets informiert worden?
Mitte Januar hatte Olaf Scholz bei seinem Besuch in Moskau noch getönt: "Es ist unsere verdammte Pflicht und Aufgabe als Staats- und Regierungschefs zu verhindern, dass es in Europa zu einer kriegerischen Eskalation kommt." Am 8. Februar stellten sich Macron, Duda und Scholz vor die Presse und erklärten, "Frieden ist unser größter Schatz". Am Vortag erst hatte Scholz nicht reagiert auf die Ankündigung des US-Präsidenten Joe Biden bei der gemeinsamen Pressekonferenz in Washington, der nämlich werde dafür sorgen, dass Nord Stream 2 nicht in Betrieb geht.
Die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hatte zu diesem Zeitpunkt übrigens bereits angekündigt, "man" sei bereit, für die Ukraine "einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen". Das wirkte damals noch wie ein unkontrolliertes Vorpreschen des grünen Koalitionspartners, dessen transatlantische Unterwürfigkeit ohnehin keine Grenzen kennt.
Was aber war wirklich Beschlusslage der Bundesregierung zwischen Anfang Dezember und Ende Februar? Hat man sich überhaupt ernsthaft mit den Angeboten und Forderungen befasst, die das russische Außenministerium am 15. Dezember überreicht hatte? Oder war nicht vielmehr von vornherein klar, dass man den US-amerikanischen Eskalationskurs mittragen werde, und diente also das ganze Friedensgerede nur der Täuschung des Publikums?
Es gibt einige Punkte, die klar sind. Die Bundesregierung war über den ukrainischen Aufmarsch im Donbass und die entsprechenden Angriffsvorbereitungen der ukrainischen Armee informiert – wenn nicht von den US-Amerikanern, dann aus öffentlich zugänglichen Quellen sowie aus der eigenen Aufklärung durch Satelliten der Bundeswehr. Sie kannte auch die bedrohliche Aussage des ukrainischen Präsidenten Selenskij auf der Münchner Sicherheitskonferenz, er wolle das Budapester Memorandum ignorieren – sprich, nach atomarer Bewaffnung der Ukraine streben. Sie wusste durch die OSZE, welche Intensität der ukrainische Beschuss des Donbass angenommen hatte. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wusste sie von Anbeginn, dass für Kiew die Minsker Vereinbarungen nur ein Mittel waren, um Zeit zu gewinnen; und wenn nicht, dann hätte sie zumindest starke Vermutungen in diese Richtung hegen müssen.
Bis zur Anerkennung der Donbass-Republiken durch Russland am 21. Februar bestand objektiv die Möglichkeit, die "verdammte Pflicht" zu erfüllen, indem auf die Ukraine endlich Druck ausgeübt worden wäre, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen. Dass mit der Anerkennung durch Russland auch sehr bald ein Beistandsabkommen geschlossen würde, war leicht vorherzusehen; der erste Schritt war schlicht die notwendige Voraussetzung des zweiten.
Aber die Bundesregierung hat sich – nach jetzigem Eingeständnis von Olaf Scholz – im Dezember bereits "mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir im Fall der Fälle die Energieversorgung unseres Landes sicherstellen können". Das legt zumindest nahe, dass erstens die von den USA geplanten Sanktionen zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt waren, und zweitens auch, dass diese Bundesregierung nicht nur keine Absichten hatte, eine Eskalation im Donbass zu verhindern, sondern ebenso keine Absichten, sich gegen die geplanten Sanktionen zur Wehr zu setzen. Warum? Weil der Wille, sich zu wehren, eine andere Fragestellung ausgelöst hätte.
Die Entwicklung seitdem lässt eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten zu – entweder, dieses angebliche Befassen mit der Frage der Sicherung der Energieversorgung war derart oberflächlich und faktenfrei, dass das Ergebnis der Erörterungen katastrophal falsch war. Oder die jetzige Entwicklung wurde tatsächlich annähernd richtig prognostiziert (dafür brauchte es nicht einmal allzu große hellseherische Fähigkeiten) und diese Situation wurde wissent- wie willentlich herbeigeführt. Sprich, die Regierung Scholz hat sich für den größtmöglichen Schaden für alle Beteiligten – außer einer kleinen Milliardärs-Kaste – entschieden.
Allerdings würde Scholz heute, Monate nach diesem Bewertungsauftrag, nicht mehr davon sprechen – geschweige denn, ihn in einem Gastkommentar in der FAZ erwähnen –, wenn die Ergebnisse gar zu weit von der heutigen Wirklichkeit (in welcher der bayerische Wirtschaftsminister bereits die Ausrufung der dritten Stufe des Gasnotstands und damit den Beginn der Rationierung fordert) entfernt lagen. Damit wird die zweite Variante zur wahrscheinlicheren.
Das bedeutet zusammengefasst, dass die Regierung unter Olaf Scholz nicht nur alle Möglichkeiten, eine militärische Eskalation im Donbass zu verhindern, ungenutzt ließ und dass sie die Bevölkerung gezielt über ihre Absichten täuschte. Sie führte vielmehr auch die Notlage in der Energieversorgung und die für viele Menschen bedrängende Inflation wissentlich herbei und gab somit das Interesse der deutschen Bevölkerung an gesicherten Lebensverhältnissen ohne jeden Widerstand gegen die US-Interessen preis. Der Moment des Verrats lag nicht erst im Februar dieses Jahres, als Scholz ein Ende von Nord Stream 2 öffentlich akzeptierte, der Zeitpunkt lag mindestens bereits im Dezember des vergangenen Jahres, als sich die Bundesregierung in vorauseilendem Gehorsam daranmachte, sich auf Sanktionen vorzubereiten, die angeblich wegen eines russischen Militäreinsatzes erfolgen würden, den die USA zu jenem Zeitpunkt erst noch zu erzwingen beabsichtigten.
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