Meinung

Sanktionen: Die Bundesregierung hat nicht einmal nachdenken lassen – Teil 2

"Gründlich vorbereitet" sollen die Sanktionen gewesen sein, mit denen die Bundesregierung Deutschland gerade den Stecker zieht. Dann werfen wir doch einmal einen Blick auf die Veröffentlichungen der Stelle, die für das Nachdenken über die Risiken zuständig gewesen wäre.
Sanktionen: Die Bundesregierung hat nicht einmal nachdenken lassen – Teil 2Quelle: www.globallookpress.com © G. Vockel

von Dagmar Henn

Teil 1 finden Sie hier.

Kommen wir zum nächsten dieser Arbeitspapiere. Der Titel lautet "Mehr Realismus und Fantasie: Gedanken zu einer zukünftigen deutschen China-Politik." Der Autor arbeitet bei einer Brüsseler Denkfabrik und war zuvor bei der Konrad-Adenauer-Stiftung für Asien und den Pazifik zuständig.

Er ist strammer Transatlantiker, und das zeigt sich auch an seiner Kritik der bestehenden "Leitlinien zum Indo-Pazifik": "Die Hoffnung, sich mit der Dreifaltigkeit von "Partner, Wettbewerber und systemischem Rivalen" einen flexiblen Handlungsraum deutscher (und europäischer) China-Politik schaffen zu können, dürfte sich allerdings als trügerisch erweisen. Denn hier wird doch suggeriert, dass die europäische, insbesondere aber deutsche Politik noch einen erheblichen und eigenständigen Einfluss darauf hätte, wie die bilateralen Beziehungen zu Peking ausgestaltet werden können – und dies gegebenenfalls auch im Widerspruch zu den Vereinigten Staaten, sollten hier Interessengegensätze existieren. Ein solcher Gestaltungsanspruch kann aber nur in engem Verbund mit den anderen Mitgliedsstaaten der EU, den USA und weiteren demokratischen Partnerländern in Asien-Pazifik erreicht werden. Das bedeutet jedoch auch, dass offen über die Kosten verschiedener Handlungsoptionen debattiert werden muss. Davor scheut die deutsche Politik bislang zurück, insbesondere vor einer klaren Positionierung etwa in einem möglichen Konflikt zwischen den USA und China um Taiwan."

Der Gedanke, es gäbe keinen Spielraum für eine eigenständige Position unabhängig von den Vereinigten Staaten zieht sich, trotz der Betonung einer Notwendigkeit einer "europäischen Position", durch den ganzen Text. Die Frage ökonomischer Verwundbarkeiten findet sich nur an einer Stelle, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Lage schon erheiternd ist: "Der Krieg in der Ukraine hat einen unerwarteten Quantensprung in der strategischen Kultur Europas und Deutschlands bewirkt. Das wird sich auch positiv auf eine Reihe von transatlantischen, nichtmilitärischen Kooperationsfeldern auswirken, etwa bei der Entwicklung von Hochtechnologien und der Resilienz von Lieferketten, aber auch bei Klimaschutz und der Durchsetzung von Standards und Normen."

Resilienz von Lieferketten ist eines der Stichworte, die eigentlich bearbeitet werden sollten, ehe man solche Konflikte vom Zaun bricht. Aber sei's drum – auch dieser Autor hat den Schuss nicht gehört und schlägt allen Ernstes gegen Ende vor, doch ein bisschen enger mit Taiwan zusammenzuarbeiten, also im Grunde zusammen mit den US-Amerikanern die Chinesen zu reizen. Die Position, die er letztlich empfiehlt, ist also bei einem Konflikt zwischen den USA und China die Seite der USA.

Was überhaupt nicht überrascht. Aber man hätte doch auch hier ein, zwei konkrete Gedanken über die möglichen Konsequenzen erwartet. Spätestens, seit sichtbar ist, dass diese Russlandsanktionen in die Hose gingen. Das Papier erschien im April, da war das eigentlich schon erkennbar. Und hätte sämtliche Alarmsignale aufleuchten lassen müssen, was ähnliche Überlegungen gegen China angeht. Nein, solche Alarmsignale scheint es nicht zu geben. Wenn die Sanktionen gegen Russland schon drohen, die deutsche Industrie zu töten, dann wären solche Sanktionen gegen China eine Beerdigung in zehn Metern Tiefe mit anschließender Komplettbetonierung der Oberfläche.

Gehen wir zum dritten Papier, noch einen Monat später. Diesmal ist der Autor ein aufstrebender Doktorand, und der Titel erweckt erst einmal den Eindruck, da habe jemand angefangen, nachzudenken: "Warum Rohstoffsicherheit ein Teil der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands werden sollte." Aha. Immerhin. Da steht jemand mitten im Gewitterregen und sinniert, dass Regenschirme vielleicht doch eine sinnvolle Erfindung sind.

Natürlich folgt auch dieser Autor dem gegebenen Narrativ, Klimawandel eingeschlossen. Und stellt fest: "Bei der Verkündung des European Green Deal im Jahr 2019 war die EU bereits hochgradig abhängig von ausländischen Rohstofflieferungen; auch fördert sie bislang nicht die eigenen Vorkommen in Europa. Die Kehrseite der angestrebten erneuerbaren "Freiheitsenergien" (Bundesfinanzminister Christian Lindner) sind somit die benötigten Rohstoffe aus China, Russland und autokratischen Staaten in Afrika und Asien, auf die Deutschland und die EU auch in Zukunft nicht verzichten können."

Böse Menschen vermuteten hinter dem Putsch in Bolivien, den auch die Bundesregierung mitgetragen hatte, ja den Griff nach den bolivianischen Lithium-Vorkommen. Das ist einer der Rohstoffe, die hier gemeint sind, neben seltenen Erden und einigen Metallen. Wie groß die politischen Folgen für Länder mit wichtigen Rohstoffen zu sein pflegten, zeigte auch der Putsch gegen Allende in Chile 1973, bei dem es um Kupfer ging. Der Bedarf nach und die Abhängigkeit von Rohstoffen haben sich im Verlauf der gesamten Industriegeschichte nicht geändert, nur die konkreten Materialien waren jeweils andere.

Manchmal stößt ein Mangel sogar weltbewegende Entwicklungen an, wie die Erfindung der Kokskohle durch die Brauer von Derbyshire im 18. Jahrhundert, die durch ein Fehlen importierter Holzkohle ausgelöst wurde und mit dem Koks einen der Bausteine der industriellen Revolution lieferte. Nein, das, was neu ist und nicht richtig benannt werden darf, ist, dass die globalen Machtverhältnisse sich ändern und die Kernländer des Westens nicht mehr darauf setzen können, jede Regierung, die ihnen nicht zusagt und die dem Griff nach bestimmten Ressourcen im Weg steht, stürzen zu können.

"Der russische Überfall auf die Ukraine hat mit Blick auf die deutsch-russischen Energiebeziehungen unmittelbar existenzielle Fragen nach gesicherten Lieferoptionen, volkswirtschaftlicher Versorgungssicherheit und politischen Erpressbarkeiten aufgeworfen – bei einer vergleichsweise weniger hohen Abhängigkeit als im Fall kritischer Metalle."

Also noch einmal, diesmal von einem anderen Autor: es wurde vorher nicht nachgedacht. Mal abgesehen davon, dass es nicht die EU oder Deutschland ist, die erpresst werden oder wurden, sondern vielmehr diese zu erpressen suchen, aber dabei scheitern - "volkswirtschaftliche Versorgungssicherheit" ist etwas, das eigentlich im Kern jedes Regierungshandelns stehen müsste. Schon seit dieser alten Geschichte mit Joseph, dem Pharao und den sieben fetten und den sieben mageren Jahren.

Oder, schärfer formuliert – eine Regierung, die besagter "volkswirtschaftlicher Versorgungssicherheit" keinen Gedanken widmet, weil sie lieber Großmacht oder Großmachtdiener spielt, vergisst völlig jenen Teil staatlichen Handelns, der dem Staat überhaupt eine Legitimität verleiht.

"Die bisherige deutsche Rohstoffpolitik ist für eine Welt konzipiert worden, in der die geltenden internationalen Handelsregeln durch alle Staaten weitgehend respektiert werden." Das ist ein Teil des Problems. Es ist schließlich die EU, es ist die Bundesregierung, die durch die Sanktionspolitik eben diese internationalen Handelsregeln untergräbt. Was sich der Westen lange erlauben konnte, weil er erstens kleinere Gegner wählte, und zweitens stark genug war.

Aber mit den Sanktionen gegen Russland, mit der Beschlagnahmung russischen Vermögens, Anlandeverboten für russische Schiffe und Ähnlichem werden Regeln außer Kraft gesetzt, die den internationalen Handel überhaupt erst möglich machten. Und was lernen wir aus dem obigen Satz? Auch in dieser Hinsicht ist über die Konsequenzen der politischen Handlungen nicht nachgedacht worden.

Eine mögliche Antwort auf die gerade in Bezug auf Materialien für die Lieblingsprojekte Wind- und Solarenenergie gegebene Abhängigkeit von China sieht er in der Diversifizierung der Lieferströme. Das ist nett gedacht, setzt aber voraus, dass die anderen Anbieter gern mit diesem Abnehmer handeln.

Allerdings hat sich auch das durch diese Sanktionen geändert. Es sind erstaunlich viele Staaten auf diesem Planeten, die, vom Westen vor die Wahl gestellt, mit ihm oder mit Russland und China Handel zu treiben, klar letztere wählen. Und dann? Die Bundesmarine hinschicken? Oder ins Eck kriechen und weinen?

Der letzte Vorschlag, den der Autor liefert, lautet "Lagerhaltung." Sprich, unter Bundeskontrolle angelegte Lager für sensible Rohstoffe zu schaffen. Auch das im Grunde kein verkehrter Gedanke. Aber es gilt das Gleiche wie bei allen anderen – zu spät. Denn die globalen Frontlinien sind bereits gezogen, und die möglichen Lieferanten, auch jene, die nicht Russland oder China heißen, liegen auf der anderen Seite.

Zum Zwecke historischer Bildung würde ich in diesem Zusammenhang eine alte DDR-Serie empfehlen: "Über ganz Spanien wolkenloser Himmel". Die spielt im Jahr des Franco-Putsches und erzählt, auf welche spanischen Rohstoffe es das Nazireich abgesehen hatte. Im Jahr 1936. Oder, um es deutlich zu sagen, die machten sich solche Gedanken vor dem Krieg, nicht mittendrin. Und verloren haben sie ihn trotzdem.

Diese Papiere sind wirklich erschütternd. Sie zeigen nicht nur, dass selbst minimale Überlegungen bezüglich der "volkswirtschaftlichen Versorgungssicherheit" nicht Teil der angeblich sorgfältigen Vorbereitungen der Sanktionen waren, und wohl nichts als transatlantische Hybris die Feder führte. Sie zeigen auch, dass mit keiner funktionsfähigen Antwort auf das angerichtete Chaos zu rechnen ist. Und sie zeigen weiter, dass nicht einmal Ansätze von Überlegungen dafür bestehen, wie man mit der multipolaren Welt umgehen könnte, die gerade entsteht.

Die Schwäche des kollektiven Westens ist für die Welt drumherum längst offensichtlich. Wenn dieser Groschen auch bei ihm selbst irgendwann gefallen ist, wird er, wird auch Deutschland seinen Rohstoffbedarf (sofern dann noch Industrie übrig ist) auf kooperativem Wege befriedigen müssen.

Das ist ein grundsätzlich anderes Umfeld als in den Jahrhunderten zuvor. Wären in den Denkfabriken auch entsprechende Denker am Werk, sie würden, selbst als eingefleischte Transatlantiker, längst auf zwei Schienen denken und jede Zukunftsplanung auch in einer Variante für den Fall der eigenen Niederlage entwickeln. Falls die Menschheit mit heiler Haut aus diesem Konflikt herauskommt, wird die völlige Unfähigkeit, vor dem Handeln auch nur ansatzweise nachzudenken, und dadurch den eigenen Untergang zu beschleunigen, in künftigen Jahrhunderten als abschreckendes Beispiel in den Geschichtsbüchern stehen.

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