Meinung

Reisen unter falscher Flagge

Die Regierungschefs dreier NATO-Staaten reisten am vergangenen Dienstag in das belagerte Kiew. Was im Westen als heldenhafter Einsatz gefeiert wurde, scheint eher aus der Not geboren. Hatte man der Ukraine das Einlenken gegenüber Russland nahelegen wollen?
Reisen unter falscher FlaggeQuelle: www.globallookpress.com © President Of Ukraine/Keystone Press Agency

von Rüdiger Rauls

Die westliche Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine wird beherrscht von der Emotionalisierung der Vorgänge, Wunschdenken und Wirklichkeitsferne. Es kommt den sogenannten Experten, die versuchen, die Ereignisse zu deuten, nicht in den Sinn, dass Russlands Strategie eine andere sein könnte, als sie selbst annehmen und als nach ihren eigenen Theorien zu erwarten wäre. Dabei hat Putin nie die Strategie des russischen Vorgehens offengelegt. Aber westliche Experten tun so, als wüssten sie bestens Bescheid, quasi aus erster Hand, von Putin persönlich.

Stockt ein kilometerlanger Militärkonvoi in Richtung Kiew, dann ist das für westliche Kommentatoren der Beleg, dass der russische Angriff an Schwung verliert, weil der Armee der Nachschub ausgeht oder ukrainischer Widerstand sie dazu zwingt. Dringen russische Soldaten nicht in die Städte ein, um dort ein Blutbad im Häuserkampf anzurichten, so ist das zum Beispiel für Christoph Wanner, Russland-Korrespondent der Nachrichtensendung Welt, ein Hinweis auf die nachlassende Kampfmoral der russischen Soldaten.

Wie oft haben sogenannte Experten im Westen schon eine Niederlage Russlands in der Ukraine angekündigt? Andere sagten schon nach wenigen Tagen den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft unter den erdrückenden westlichen Sanktionen voraus. Proteste in Russland wurden gewertet als der Anfang von Putins Ende. Und weil Kiew und andere ukrainische Millionenstädte nach drei Wochen Krieg immer noch nicht erobert sind, gehen westliche Experten davon aus, dass Putins Rechnung in der Ukraine nicht aufgeht. Woher wollen sie wissen, wie Putin rechnet?

Allmählich aber scheinen die Siegesgewissheit und der Optimismus im Westen zu schwinden. Die Sanktionen erweisen sich zunehmend als zweischneidiges Schwert. Wenn auch Solidarität und Hilfsbereitschaft in den westlichen Medien immer noch als ungebrochen dargestellt werden, so scheint angesichts der Flüchtlingsströme die Begeisterung nachzulassen, angesichts der explodierenden Preise bei Strom, Gas und Sprit, der leer gehamsterten Regale und der sich beschleunigenden Inflation. Zudem drängt die Corona-Diskussion sich wieder in den Vordergrund.

Aber auch in der Ukraine selbst scheint sich keine Entscheidung anzubahnen. Die russische Armee rückt unaufhaltsam vor, kreist die Städte ein und beschießt inzwischen auch Nachschub und militärische Ziele in der Nähe der polnischen Grenze. Aber die Stimmung in Russland selbst scheint nicht so verzweifelt, wie der Westen angesichts der Sanktionen und der gelegentlichen Demonstrationen erwartet hatte. Russland knickt nicht ein.

Andererseits bittet Selenskij händeringend um Hilfe. Aber außer zu Waffenlieferungen ist die NATO nicht zu weiterer Unterstützung bereit. Eine Flugverbotszone über der Ukraine lehnt der Westen ab. Zu groß ist die Angst, tiefer in den Konflikt hineingezogen zu werden, und die Furcht vor einem dritten Weltkrieg. Auffällig ist auch die Zurückhaltung der USA. Sie eskalieren nur so weit, wie es die Drohungen des russischen Atomarsenals zulassen. Ansonsten belässt man es bei wohlwollenden Worten und donnerndem Applaus, wenn Selenskij auf den Leinwänden der Welt das Wort ergreift.

Angesichts dieser schwierigen Lage überrascht die Reise, die die Präsidenten aus Slowenien, Polen und Tschechien nun nach Kiew unternommen haben. Noch befremdlicher sind die Motive und Erklärungen, die man dem westlichen Publikum dazu unterbreitet. Die Reise sollte als ein Akt der Solidarität verstanden werden und dementsprechend überschlagen sich die westlichen Medien mit überschwänglichen Lobliedern und Heldengesängen. Eine anschauliche Sammlung von Superlativen bietet die FAZ vom 16. März 2022 in ihrem Beitrag Im Zug nach Kiew.

Den Ukrainern hat es bisher nicht an westlichen Solidaritätsbekundungen gemangelt. Kaum eine Veranstaltung oder Großdemonstration, bei der Selenskij nicht per Video zugeschaltet wurde. In welchen Parlamenten der westlichen Welt hatte er nicht seine Stimme an die Abgeordneten richten können und dafür tosenden Applaus und Standing Ovations erhalten? Ganz zu schweigen von den Waffen, die der Westen lieferte.

Was Selenskij aber wirklich brauchte, bekam er nicht: militärische Unterstützung durch die NATO. Denn mit Standing Ovations kann er die Russen nicht bezwingen und Waffenlieferungen alleine reichen dafür auch nicht. Aber auch die Europäer würden lieber heute als morgen diesem Krieg und den Folgen der ausufernden Sanktionen ein Ende machen. Denn die soziale und wirtschaftliche Lage in der EU wird immer brenzliger.

Unter diesen Umständen stellt sich die Frage umso mehr, was tatsächlich den Polen Morawiecki, den Slowenen Jansa und den Tschechen Fiala bewogen hat, die nicht ungefährliche Fahrt nach Kiew anzutreten? Nur um Selenskij ihre Solidarität zu bekunden? Deshalb solch ein Risiko? Unwahrscheinlich! Das hätte man auch auf den bisher bekannten Kanälen öffentlichkeitswirksam übermitteln können. Es muss also noch andere Gründe geben für diesen Husarenritt.

Diese Reise war nicht das Ergebnis eines Deliriums nach durchzechter Nacht, kein unüberlegter Schritt. Im Gegenteil: Die Reise war im kleinen Kreis während des EU-Gipfels von Versailles wenige Tage zuvor besprochen und geplant worden. Dass es sich dabei um keine Schnapsidee handelte, zeigt auch, dass sie mit den höchsten Repräsentanten der EU abgesprochen war, mit der Kommissionspräsidentin von der Leyen und dem Ratspräsidenten Charles Michel.

Die drei Regierungschefs waren in offizieller Mission unterwegs und sollten als "Vertreter des Europäischen Rates" (FAZ-Artikel vom 16. März 2022: Im Zug nach Kiew) eine Botschaft überbringen. Diese schien wohl so geheim zu sein, dass sie persönlich überbracht werden sollte. So verhinderte man, dass sie wie bei einer Übermittlung über elektronische Medien abgehört werden konnte, und die Exklusivität des kleinen Kreises sollte wohl auch gewährleisten, dass nichts durch geschwätzige Zeitgenossen vorzeitig in die Öffentlichkeit getragen wird. Aber so viel Aufwand für simple Solidaritätsadressen?

Andererseits scheint diese Botschaft aber auch recht heikel gewesen zu sein, denn als Überbringer hatte man gerade jene Staatschefs beauftragt, die in Kiew einen guten Ruf haben, den Polen Morawiecki, den Slowenen Jansa und den Tschechen Fiala. Polen hatte sich bisher als Hardliner gegenüber den Russen gezeigt, indem es immer wieder auch militärische Maßnahmen der NATO ins Gespräch brachte.

"Gerade Slowenien und Polen sind schon unmittelbar nach Beginn des Krieges als Fürsprecher der Ukraine aufgetreten" und hatten sich "für den zügigen Beitritt des Landes zur EU starkgemacht" (FAZ-Artikel vom 16. März 2022: Im Zug nach Kiew). Dass also gerade die treusten Anhänger der Ukraine unangenehme Botschaften überbrachten, sollte Selenskij wohl den Ernst der Lage deutlich machen.

Nun dürfte es nicht mehr allzu schwierig sein, den Inhalt dieser Botschaft zu erahnen. Er könnte sinngemäß lauten: "Wir, die Europäische Union, wollen, dass dieser Krieg ein schnelles Ende hat und dass die ukrainische Führung mit Russland eine Vereinbarung trifft über die Einstellung der Kampfhandlungen." Denn langsam gehen dem Westen die Sanktionsmöglichkeiten aus und die bisher auf den Weg gebrachten zwingen Russland nicht zum Rückzug aus der Ukraine.

Zwar kommen die Strafmaßnahmen gegen weitere Oligarchen in der westlichen Öffentlichkeit gut an, haben aber offensichtlich wenig Einfluss auf die Politik Russlands. Die wirklich harten Maßnahmen jedoch wollen die Regierungen der EU gar nicht mehr ansprechen: den Einfuhrstopp von russischem Öl und Gas. Die Folgen für die westlichen Gesellschaften wären unkalkulierbar. So werden denn auch die Warnungen besonders vonseiten der deutschen Industrie vor solchen Maßnahmen immer deutlicher.

War also der Ausflug nach Kiew ein unnötiges Risiko? Keineswegs, denn in den Folgetagen beschäftigte sich die Medienlandschaft ausführlich mit dem Thema der ukrainischen Neutralität. Schon der Vorschlag des israelischen Ministerpräsidenten Bennett an seinen ukrainischen Kollegen, vor Russland zu kapitulieren, um noch mehr Menschenleben und Verwüstungen zu vermeiden, war in der EU auf ein lautstarkes Schweigen gestoßen. Man schien froh zu sein, dass jemand ausgesprochen hatte, was viele im Westen wohl denken, ohne es selbst tun zu müssen.

Anfangs schien auch Selenskij den Gedanken der ukrainischen Neutralität aufgreifen zu wollen, doch wolle er sich nicht von Russland die Ausgestaltung einer eventuellen Neutralität diktieren lassen, wie er sagte. Schon des Öfteren hat Selenskij auf diese Weise versucht, Zeit zu gewinnen und eine Entscheidung hinauszuzögern. Erneute Lieferzusagen der USA über zusätzliche Waffen haben Selenskijs Gesprächsbereitschaft über die Neutralitätsfrage dann aber schnell wieder abebben lassen.

Den USA selbst scheint nicht an einer Beilegung des Konflikts gelegen zu sein. Immer wieder befeuert sie die Hoffnungen und den Kampfeswillen der Ukrainer mit neuen Waffenlieferungen und Kreditzusagen. Denn je länger dieser Krieg dauert, umso größer ist der Schaden für Russland. Gleichzeitig aber machen die Amerikaner aber deutlich, dass ihre Unterstützung nur so weit geht, wie sie selbst nicht in die Reichweite russischer atomarer Drohungen kommen. Das bedeutet für die USA: Waffen ja, aber keine Unterstützung durch Soldaten oder Luftraumüberwachung vonseiten der NATO.

Während also die USA in aller Ruhe der Entwicklung zusehen können, gerät die EU in eine immer schwierigere Lage. Russland kann bisher seine Ziele in der Ukraine erfolgreich umsetzen und hat deshalb keinen Grund, die Kampfhandlungen einzustellen. Große Teile der russischen Bevölkerung scheinen weiterhin hinter Putin zu stehen, auch wenn die westlichen Medien ein anderes Bild vermitteln.

Die Europäer, besonders die Deutschen, würden lieber heute als morgen diesen Konflikt beendet sehen, können aber die Ukraine nicht öffentlich zur Kapitulation auffordern. Denn Selenskij, der inzwischen die Popularität eines Medienstars erreicht hat, scheint auch weiterhin bereit, bis zur letzten Patrone zu kämpfen, solange er damit versorgt wird.

Anscheinend hat man jetzt in Berlin einen Weg aus der Sackgasse gefunden. Die deutsche Verteidigungsministerin erklärte am Samstag (19. März 2022), dass Deutschland der Ukraine keine weiteren Waffen mehr liefern kann, weil die eigenen Bestände erschöpft seien. Deshalb konnte man bisher auch weniger liefern als bei früherer Gelegenheit zugesagt. Es bleibt zu beobachten, ob sich hier eine neue Politik gegenüber der Ukraine andeutet, mit der man sie an den Verhandlungstisch mit Russland zwingen will, indem man von europäischer Seite den Nachschub an Waffen versiegen lässt.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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