Meinung

Ukrainischer Vertreter vor der UNO – Tränen als Propaganda

Seit Kurzem gibt es in der Ukraine zwei Kriege. Der eine bleibt nach wie vor verborgen, über den anderen wird jetzt mit viel Pathos geredet. Leid und Not gibt es aber nur im zweiten. Und Geschichten, die die Seele anrühren sollen und die Emotionen an die Stelle des Verstandes setzen.
Ukrainischer Vertreter vor der UNO – Tränen als PropagandaQuelle: www.globallookpress.com © Wang Ying

von Dagmar Henn

Der im Westen am häufigsten gebrauchte propagandistische Trick ist die emotionale Überwältigung. Gefühle werden benutzt, um den Verstand auszuschalten und gleichzeitig einige subtile Botschaften im Gedächtnis zu verankern. Die raffinierte Form davon liefert Hollywood; die schäbige Variante täglich die Bild-Zeitung. Oder die Ukraine.

Der ukrainische UN-Botschafter Sergei Kisliza begann seinen Auftritt vor der Sondersitzung der UN-Vollversammlung mit einer kleinen Inszenierung.

"Ich würde Ihnen gerne den Screenshot vom Smartphone eines getöteten russischen Soldaten vorlesen", begann er und hielt eine bedruckte Seite in die Höhe, die einen Handybildschirm voller Text zeigte.

"Ljoscha, wie geht es dir, warum antwortest du so lange nicht? Seid ihr auch wirklich", fragte die Mutter des getöteten Soldaten.

"Mama, ich bin nicht mehr auf der Krim, nicht auf Manöver."

"Wo denn? Papa fragt, ob man dir ein Paket schicken kann."

"Was denn für ein Paket, Mama?" ...

"Wovon redest du? Was ist passiert?"

Dieser Teil entfaltet seine volle Wirkung natürlich nur bei jenen, die noch die alte Propaganda über die sowjetische Armee im Kopf haben. Da wurde erzählt, die Soldaten wüssten gar nicht, was sie tun sollten, würden ahnungslos verheizt. Das wird dadurch wachgerufen, dass das Gegenüber die Mutter ist und nicht die Freundin. Das Paket, das geschickt werden soll, erinnert an die Geschichte, die Soldaten würden schlecht versorgt. Denn warum sonst sollte eine Mutter ihrem Sohn bei der Armee unbedingt ein Paket schicken wollen?

Der letzte Teil des Dialogs geht dann in die Vollen:

"Mama, ich bin in der Ukraine. Hier ist ein echter Krieg. Ich habe Angst. Wir führen Angriffe auf alle Städte. Nacheinander. Sogar gegen Zivilisten. Uns hatte man gesagt, dass sie uns willkommen heißen. Und sie werfen sich stattdessen vor unsere Fahrzeuge und lassen uns nicht weiterfahren, nennen uns Faschisten. Mama, das ist so schwer für mich."

"Und das war nur Augenblicke, ehe er getötet wurde", erzählt der Ukrainer dann.

Wie tragisch. Und diese heldenhaften (aber erkennbar ziemlich dummen) Ukrainer, die so patriotisch sind, dass sie sich unbewaffnet vor Schützenpanzer werfen. Nicht, dass das einen Schützenpanzer sonderlich beeindruckt, der fährt noch über ganz andere Dinge. Und nicht, dass das einen Sinn ergibt oder Nutzen bringt. Aber es klingt irgendwie beeindruckend, oder?

Nach Angaben der russischen Armee sind zum einen nur Vertragssoldaten und Offiziere im Einsatz, und zum anderen herrscht striktes Telefonverbot. Das mag nicht immer eingehalten werden, aber es macht diese Kommunikation doch recht unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher ist allerdings, dass in einem tatsächlich zufällig gefundenen Telefon so viele aus jahrzehntelanger Propaganda bekannte Elemente auf einmal bedient werden. Der junge, ahnungslose Soldat, der mit seiner Mutter kommuniziert, die von nichts weiß, der ganz nebenbei die Opferbereitschaft der Ukrainer belegt, die russische Armee als verbrecherisch darstellt und dann passenderweise "getötet wird" – von wem eigentlich?

Natürlich nennt Kisliza zu diesem Screenshot keinen Ort, keinen Namen und kein Datum. Das verhindert jede Überprüfung (inzwischen kann man das bei den jungen Leuten ganz gut, man sucht den Namen in den sozialen Netzen – wie auch bei gewöhnlicher Fahndung), aber macht jeden stutzig, der schon mal irgendeine Form einer militärischen Meldung gelesen hat. Wenn eines dabei nie fehlt, ist das der Ort. Das nächste wäre dann die Uhrzeit, minutengenau.

Es fragt sich allerdings, woher dieser eine russische Soldat, der irgendwie nicht so recht weiß, was er da soll, trotzdem weiß, dass "wir alle Städte nacheinander bombardieren", mal abgesehen davon, dass die Formulierung "Städte bombardieren" ein Bild im Kopf hervorruft, das aus jeder US-amerikanischen Kriegsführung stammt: Bombenteppiche, die aus Flugzeugen abgeworfen werden und ganze Städte zerstören, wie im Irak. Aber in der Ukraine werden bisher vor allem Artillerie und Raketen eingesetzt werden, sehr gezielt und punktuell, wie es heißt. Wie weiß dieser unschuldige junge Mann – wie der Text suggerieren soll –, was in anderen Städten passiert, gesetzt den Fall, er hätte sich bei einer befunden? Und warum spricht er von einer Art des militärischen Vorgehens, die im russischen Militär nicht üblich ist?

Die Antwort ist simpel: Der ganze Auftritt ist auf ein westliches Publikum zugeschnitten, vor allem auf ein US-amerikanisches, das noch einen Tick sentimentaler ist als das europäische. Das nicht darüber stolpert, wenn im weiteren Verlauf der russischen Armee vorgeworfen wird, Brücken zu sprengen. So etwa das Dümmste, was eine Armee, die sich irgendwo hineinbewegt, tun könnte. Brücken werden entweder gesprengt, um eine andere Armee am Vordringen zu hindern oder um den eigenen Rückzug zu decken; aber nie, wenn man ein Gebiet unter Kontrolle bringen will.

Aber zurück zu unserem Dialog. "Sie nennen uns Faschisten." Das ist der eindeutige Beleg, dass das nicht an ein ukrainisches Publikum adressiert ist. Denn da sind die Faschisten die Guten, schließlich war Nationalheld Bandera auch einer, vom Nationalhelden Schuchewitsch ganz zu schweigen. Man muss sich geistig doch einigermaßen verrenken, um sich diese Beschimpfung vorzustellen. Außer natürlich, man weiß einfach nichts über den Zustand der Ukraine und ihre augenblicklich herrschende Ideologie.

"Dutzende getöteter Kinder" beschwört der Redner herauf, und erklärt, neben jedem Sitz in der UN-Vollversammlung stünden die Geister von 30 getöteten russischen Soldaten. Nein, der Tonfall der Seifenoper hört nicht auf in seinem Vortrag. Auch seine anderen Reden, etwa jene drei Tage früher vor dem Weltsicherheitsrat, sind derart gestrickt. Tatsächlich bringt er es fertig, nach acht Jahren Dauerbeschuss des Donbass, wo Kinder, die zu Kriegsbeginn geboren wurden, inzwischen im zweiten oder dritten Schuljahr sind, mit bebender Stimme und pastoralen Gesten zu beklagen, dass ukrainische Kinder jetzt Unterricht verpassen würden und er sich deshalb bereits an UNICEF gewandt habe.

Die Russen, das betont er noch einmal in der Vollversammlung, würden Kindergärten und Waisenheime angreifen. Sie teilten tödliche Luftschläge gegen Zivilisten im ganzen Land aus. Da ist es wieder, das Bild mit den Bombenteppichen. Aber es ist falsch.

Die einzige Stadt, die ein russischer Soldat, der von der Krim kam, vor dieser Rede gesehen haben kann, ist Melitopol. Mariupol und Nikolajew wurden erst am Tag der Rede erreicht. Dörfer aber, das ergibt sich aus den Berichten, werden sogar öfter ganz ohne Kampfhandlungen eingenommen. Die Nazibataillone sitzen in den größeren Städten, aber nicht in jedem Dorf. Und manche Einheit der regulären ukrainischen Armee ergibt sich einfach, statt sich vor die Räder der Schützenpanzer zu werfen.

Die russische Militäroperation vergleicht Kisliza mit dem Überfall auf die Sowjetunion. Das müsste eigentlich wahrhaft verwirren, schließlich war das Bataillon Nachtigall unter dem Kommando von Schuchewitsch an eben diesem Überfall beteiligt. Auf Seiten der Hitlerarmee. Und wenn Kisliza ausgerechnet Russland "spirituelle Mentoren aus dem dritten Reich" vorhält, ist endgültig klar, dass diese Darstellung für ein Publikum vorbereitet ist, dessen historische Kenntnisse nahe null sind. Für ein Publikum, das vom Zweiten Weltkrieg gerade mal weiß, dass die Nazis die Bösen waren, das aber mit ziemlicher Sicherheit nicht weiß, dass die Helden der heutigen ukrainischen Regierung auf Seiten dieser Bösen gekämpft haben.

Für die versammelten Botschafter war diese Rede jedenfalls nicht. In dieser Umgebung war der Auftritt ähnlich deplatziert wie jener, den Petro Poroschenko einst in Davos lieferte, bei dem er ein durchlöchertes Stück Blech in die Höhe hielt und, nicht ganz nüchtern, aber zu Tränen gerührt, dem versammelten Finanzmanagement eine rührende Erzählung von dem Bus bei Wolnowacha lieferte, der von Splittern einer Landmine getroffen wurde, die angeblich die bösen Separatisten, in Wirklichkeit aber die Ukrainer gelegt hatten. Wenn es zwei Umgebungen gibt, in denen Gefühle schlicht nicht gefragt sind, dann solch eine Versammlung von Wirtschaftsfürsten wie in Davos und jene von Berufsdiplomaten wie die Vollversammlung der UN.

Aber um die Abstimmungen oder die Bewertung seiner Ausführungen brauchte sich Kisliza keine Sorgen zu machen. Dafür muss man nur die Pressekonferenz von EU-Außensprecher Josep Borrell und seinen Gesichtsausdruck dabei betrachten, während er erzählt, wie fleißig die EU-Diplomatie diese Vollversammlung vorbereitet hätte, und man weiß, dass vom Einfordern ausstehender Gefälligkeiten bis hin zur blanken Erpressung alles genutzt wurde, um möglichst viele Stimmen hinter die Ukraine zu bringen, selbst wenn der ukrainische Vertreter in der Versammlung einen Nackttanz aufgeführt hätte.

Ich nehme an, für die vernünftigen Ukrainer sind seine Auftritte ähnlich schmerzhaft peinlich wie für unsereins die der Außenministerin Annalena Baerbock. Man sehnt sich regelrecht körperlich nach etwas mehr Nüchternheit und Rationalität. Wenn man weiß, was all die Jahre über im Donbass geschehen ist, verschwiegen und missachtet, dann wirkt diese überdrehte Emotionalität nur noch zynisch.

Die Sprache der wirklichen Tragödie hingegen ist absolut trocken. Es kann gar nicht anders sein. Echter Schmerz führt eher zum Verstummen als zum dramatischen Auftritt. So klingen die Meldungen aus dem Donbass, hier vom Bürgermeister von Gorlowka, kurz vor dem Auftritt von Kisliza vor der UNO:

"Die Tragödie in Donezk. Bei Wiederherstellungsarbeiten geriet ein Arbeitstrupp von Donbassgas unter Granatbeschuss. Ein Mechaniker starb. Zwei wurden schwer verletzt. Die Jungs waren dabei, die Folgen des Beschusses zu beheben, der eine Stunde zuvor stattfand."

Der Bürgermeister von Gorlowka schreibt solche Meldungen täglich, seit Jahren. Und während die Erzählungen von Kisliza im Westen begierig aufgesogen werden, könnte der ostukrainische Bürgermeister seine Wahrheit so laut schreien, wie er wollte – niemand würde sie hören wollen.

Im Gegenteil. Ein Video aus seiner Stadt, das den Abschied eines Vaters von seiner Tochter zeigt, und das er, der Bürgermeister, ins Netz gestellt hatte, wird weltweit mit falscher Bezeichnung verbreitet – es zeige einen ukrainischen Vater, der daheim bliebe, um für die ukrainische Armee zu kämpfen – für eben jene Truppen, die die Stadt beschießen, weshalb das Mädchen tatsächlich evakuiert wurde.

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