Meinung

Erste offizielle Weigerung Kiews, die Minsker Abkommen umzusetzen: Was sagt der Westen nun?

Die jüngste Äußerung des Leiters des ukrainischen Sicherheitsrates, die Umsetzung der Minsker Abkommen würde die Ukraine zerstören, ist auf diesem Niveau und in dieser kategorischen Qualität bisher einmalig. Wird sie im Westen deswegen so geflissentlich übersehen?
Erste offizielle Weigerung Kiews, die Minsker Abkommen umzusetzen: Was sagt der Westen nun?Quelle: Sputnik

Kommentar von Maxim Jussin

In der Ukraine hat sich ein äußerst bedeutsames Ereignis zugetragen. Es blieb jedoch aus irgendeinem Grund im Westen bisher unbemerkt und rief weder offizielle Kommentare noch verwunderte Fragen hervor – das müsste es aber! Alexei Danilow, der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine und damit der oberste Sicherheitsbeamte des Landes, erklärte, die Minsker Abkommen seien nicht umsetzbar, würden zur Zerstörung des ukrainischen Staates führen – und stattdessen müsse ein neues Dokument unterzeichnet werden.

So eindeutig und kategorisch hatten sich die höchsten Vertreter der ukrainischen Regierungs- und Sicherheitsbehörden bislang nicht geäußert: Sowohl der Präsident als auch der Außenminister wiederholten, wenn auch widerwillig, Routinefloskeln über Kiews Eintreten für, Festhalten an und Bekenntnis zu den Minsker Vereinbarungen – vor allem aber über die grundsätzliche Bereitschaft, sie umzusetzen. Und noch am Ende des letzten Telefongesprächs von Wladimir Selenskij mit US-Präsident Joe Biden verkündete das Weiße Haus auf seiner Webseite die Notwendigkeit, diese Vereinbarungen umzusetzen.

Und jetzt also eine solche Wendung – um es offen zu sagen, eine gänzlich demonstrative. Just in dem Moment, als die internationalen Vermittler (z. B. Frankreich und Deutschland) versuchen, wenigstens irgendwelche Fortschritte bei der Umsetzung von Minsk zu erzielen, als die nächsten Gespräche im Normandie-Format demnächst in Berlin anstehen: Genau jetzt hören wir solch radikale Äußerungen aus Kiew, durch die alle Karten neu gemischt werden.

Denn was ergibt sich daraus? Wenn die Ukraine sich weigert, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen, dann bricht das gesamte logische Konstrukt zusammen, das Präsident Selenskij seinerzeit aufgebaut hatte. Schließlich war er es, der seinen innenpolitischen Konkurrenten einfältig und zynisch zugleich erklärte, warum Kiew nicht aus den Minsker Vereinbarungen aussteigt: nämlich, um die westlichen Sanktionen gegen Russland so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Doch nun ist auch dieses – zudem ohnehin höchst umstrittene – Argument hinfällig: Von welchen antirussischen Sanktionen soll denn die Rede sein, wenn sich die Ukraine selbst weigert, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen? 

In höchst heikler Lage finden sich derweil auch Kiews westliche Verbündete und Sponsoren wieder, vor allem Washington. Wie Russlands Außenminister Sergei Lawrow kürzlich Journalisten mitteilte, hatte sich US-Präsident Biden zu Beginn seines Gesprächs mit Wladimir Putin in Genf bereit erklärt, die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu unterstützen. Kiew kann diese Position Washingtons nicht unbekannt gewesen sein. Und dennoch hat man dort beschlossen, eine eigene Linie durchzusetzen – hartnäckig, stur, voller hochmütiger Selbstsicherheit, herausfordernd. Wie denn nun, wedelt der Schwanz jetzt mit dem Hund? Man verspricht sich jedenfalls Erfolg davon. Ob diese Taktik des unverschämten Drucks aufgeht, wird sich in naher Zukunft zeigen – und zwar anhand der Reaktion der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Staaten.

Und darum, dass eine Reaktion wenigstens in irgendeiner Form erfolgt, wird sich unter anderem Moskau kümmern. Es ist schwer vorstellbar, dass russische Vertreter bei Gesprächen mit ihren westlichen Gegenübern oder auch bei gemeinsamen Pressekonferenzen die Gelegenheit verpassen, ihren Gesprächspartnern eine – scheinbar – sehr einfache Frage zu stellen: Wie bewerten Sie die Kiewer De-facto-Weigerung, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen?

Die Antwort der US-Amerikaner, der Franzosen, der Deutschen und anderer westlicher Partner hierauf zu hören, wird überaus interessant sein.

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Übersetzt aus dem Russischen.

Maxim Jussin ist russischer Journalist und politischer Beobachter für die Zeitung "Kommersant".

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