Meinung

Man stelle sich vor, Assange hätte Verbrechen Chinas aufgedeckt statt jener der USA

Wäre Julian Assange ein chinesischer Journalist und Verleger, hätte er mittlerweile den Nobelpreis erhalten, wäre er das zentrale Thema des Menschenrechtstages, und sein Porträt wäre diese Woche auf dem Demokratiegipfel von Präsident Joe Biden herumgetragen worden.
Man stelle sich vor, Assange hätte Verbrechen Chinas aufgedeckt statt jener der USAQuelle: Sputnik © Sputnik

Ein Kommentar von George Galloway

Der Name von Assange wäre der erste auf der Liste von 350 bedrohten Journalisten des US-Außenministers Antony Blinken, die ohne Ironie just an dem Tag veröffentlicht wurde, an dem seine Regierung vor einem britischen Gericht versuchte, Assange ausgeliefert zu bekommen, um ihn anschließend 175 Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis einzusperren. Hätte Assange chinesische statt US-Verbrechen aufgedeckt, wäre er jetzt das Aushängeschild der Boykottkampagne der Olympischen Winterspiele in Peking. Jede Nachrichtensendung hätte mit seinem Schicksal die Nachrichten eröffnet und diese groß aufgemacht, jede noch druckende Presse hätte die Empörung über das Zerquetschen dieses Schmetterlings der Freiheit bis zum Blattrand ausgebreitet. Armer Julian, wäre er doch nur als Chinese geboren worden.

Sein "Verbrechen" besteht jedoch darin, dass er unter anderem US-Kriegsverbrechen im Irak aufgedeckt hat, darunter Morde und mehr als 15.000 nicht gemeldete Todesfälle von Zivilisten; die Folter von Männern und Jungen im Alter zwischen 14 und 89 Jahren in Guantánamo; das illegale Ausspionieren der UN-Generalsekretäre und weiterer Diplomaten durch die USA; den von der CIA initiierten Militärputsch in Honduras im Jahr 2009; den geheimen Krieg der USA gegen den Jemen, bei dem bislang Tausende getötet wurden.

In verhangener Pracht hat der Hohe Gericht in London am vergangenen Freitag nicht nur den Fragmenten, den Fetzen der britischen Justiz, den Todesstoß versetzt, sondern auch den Journalismus selbst ermordet. Und da der vierte Stand theoretisch als Wächter für die Demokratie selbst steht, haben sie den Anschein zerstört, dass Großbritannien überhaupt eine Demokratie ist. Und das alles innerhalb der Woche, in der selbst ernannte "Demokratien" sich auf ihre Überlegenheit gegenüber anderen einen runtergeholt haben. Der Fall Assange hätte schon bei der ersten gerichtlichen Hürde in sich zusammenfallen sollen, ganz zu schweigen von den unzähligen Hürden seither. Im Auslieferungsvertrag zwischen Großbritannien und den USA wird ausdrücklich ausgeschlossen, dass jemand wegen einer politischen Anklage von einem Staat an den anderen ausgeliefert werden kann.

Ironischerweise war dieser Auslieferungsvertrag damals verabschiedet worden, damit die USA die Möglichkeit abwenden konnten, dass irisch-republikanische Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten an Großbritannien ausgeliefert werden, wo sie sich dann politischen Anklagen zu stellen hatten. Jeder US-Präsident – sogar Obama – hat irgendwo einen lange verschollenen irischen Ahnen. Bei 30 Millionen irisch-amerikanischen Stimmen, die auf dem Spiel standen, konnte man mit politisch motivierten mutmaßlichen Kriminellen kein Risiko eingehen.

Als ich den damaligen Innenminister David Blunkett, der diesen Vertrag mit den USA heimlich abgeschlossen hatte, persönlich damit herausforderte, dass zukünftige Nelson Mandelas möglicherweise wegen politischer Anklagen ausgeliefert werden könnten, versicherte er mir persönlich, dass so etwas nie passieren könne. Zusicherungen, die jetzt so abgenutzt erscheinen wie einer der mittelalterlichen Wandteppiche, die im britischen Oberhaus hängen. Unzählige ungeheuerliche Verstöße gegen ein ordnungsgemäßes Verfahren hätten die geringste Chance auf eine Auslieferung von Assange zunichtemachen sollen. Lassen Sie mich nur drei hervorheben:

Als sich herausstellte, dass die US-Regierung über mehrere Jahre hinweg jedes Treffen zwischen Julian Assange und seinen fähigen und angesehenen Anwälten heimlich auf Video aufgezeichnet hatte, hätte der Fall von jedem Richter mit Selbstachtung in jeder Demokratie abgewiesen werden müssen.

Als sich herausstellte, dass es sich bei dem Hauptzeugen gegen Assange um einen isländischen Dieb, Betrüger und verurteilten pädophilen Lügner handelt, der zudem freimütig zugab, dass seine Aussage, auf der die Anklage beruht, aus einem Haufen Lügen bestanden hatte, hätte der Fall von jedem Richter mit Selbstachtung in jeder Demokratie abgewiesen werden müssen.

Und als bekannt wurde, dass die US-Regierung sorgfältig geplant hatte, Assange in London zu entführen oder ihn notfalls am helllichten Tag in den Straßen rund um die ecuadorianische Botschaft zu ermorden, erreichte der Wert jeglicher US-"Zusicherungen" über das, was mit Assange nach einer Auslieferung passieren würde, den absoluten Tiefpunkt. Den USA kann man kein Vertrauen schenken, und es wurde unmöglich, eine Auslieferung Assanges zu befürworten.

Die Druckmaschinen der Presse laufen für Assange jedoch nicht heiß, der im Belmarsh-Gefängnis schleichend umgebracht wird. Die westlichen "Journalisten", die im Stil von Stewardessen für ihre Fähigkeiten im Ablesen vorgedruckter Checklisten gut bezahlt werden, schweigen über sein Schicksal und über das Schicksal ihres "Berufs". Sie wissen, dass das, was Assange widerfährt, auch ihnen widerfahren könnte. Für diese Leute wird es jedoch keinen fröhlichen, zuversichtlichen Morgen geben. Nur Knechtschaft und Silberlinge. Und so zerschmettert der US-Moloch erneut die Justiz unter den Augen einer schweigenden Presse. Das ist der Punkt beim Zerquetschen eines Schmetterlings – niemand kann ihn schreien hören.

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Übersetzt aus dem Englischen. George Galloway war fast 30 Jahre lang Mitglied des britischen Parlaments. Er moderiert TV- und Radiosendungen – auch auf RT. Er ist Filmemacher, Autor und ein renommierter Redner. Man kann ihm auf Twitter unter@georgegalloway folgen.

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