Meinung

Steinmeier, Babi Jar und die Geschichtsfälscher

Frank-Walter Steinmeier und die Ukraine, das ist eine lange, hässliche Geschichte. In wenigen Tagen wird er abermals in Kiew eintreffen. Kaum anzunehmen, dass er sich diesmal an die historische Wahrheit hält. Schließlich geht es um den 80. Jahrestag des Massakers von Babi Jar.
Steinmeier, Babi Jar und die GeschichtsfälscherQuelle: www.globallookpress.com © Bernd von Jutrczenka

von Dagmar Henn

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will wieder einmal in die Ukraine reisen, und es fragt sich, welchen Schaden er diesmal hinterlassen wird. Anlass seiner Reise ist die Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Massakers von Babi Jar am 6. Oktober, zusammen mit dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij und dem israelischen Präsidenten Jitzchak Herzog, und sie führt mitten in die Auseinandersetzung um die Geschichte.

Schließlich hat die Ukraine einen Nationalhelden namens Roman Schuschkewitsch, der als Kommandeur des Bataillons Nachtigall höchstpersönlich an der Ermordung der Juden in Lwow beteiligt war.

In Babi Jar fand an zwei Tagen, am 29. und 30. September 1941, eines der größten Massaker der Nazibesatzer statt – über 30.000 Menschen wurden an diesen beiden Tagen erschossen, überwiegend jüdische Sowjetbürger aus Kiew. Die wenigen Täter, die vor Gericht kamen, klagten noch darüber, wie mühsam diese Morde gewesen seien.

Beteiligt an diesem Massaker waren aber nicht nur Wehrmachtseinheiten, deutsche Polizisten und die SS, auch ukrainische Hilfstruppen waren vor Ort und trieben die Opfer an die Hinrichtungsstätte. Diese ukrainischen Hilfstruppen rekrutierten sich aus den Reihen der ukrainischen Nationalisten, auf die sich der gegenwärtige ukrainische Staat in seiner Geschichtsschreibung und Symbolik beruft. Zu sagen, das macht den offiziellen ukrainischen Umgang mit Babi Jar etwas schwierig, ist eine grobe Untertreibung.

Vor fünf Jahren begannen Bemühungen, ein Museum am Ort der Tat einzurichten. Eine private Stiftung will das Gedenkzentrum finanzieren; die Geldgeber sind vor allem zwei in der Ukraine geborene, aber in Russland lebende Unternehmer, Michail Fridman und German Chan. Sobald bekannt wurde, dass in der Gedenkstätte auch die Beteiligung ukrainischer Faschisten thematisiert werden sollte, stand den ukrainischen Nationalisten der Schaum vor dem Mund.

"Wir glauben, dass die Geschichte der Ukraine nur von Ukrainern erzählt werden sollte!", erklärte der Vorsitzende des Weltkongresses der Ukrainer, einer Organisation, die seit Jahrzehnten die ukrainischen Nazikollaborateure und ihre Nachfahren in der Diaspora versammelt. Diese fordert nicht nur, dass die Gedenkstätte ein staatliches, kein privat finanziertes Projekt sein müsse (was prinzipiell nachvollziehbar ist); sie fordert zudem, dass in ebendieser Gedenkstätte auch ukrainischer Nationalisten gedacht werden solle, die nach der Niederlage der Hitlerfaschisten dort als Kollaborateure erschossen wurden, was in etwa so passend ist, wie in der Gedenkstätte des KZ Dachau ein Denkmal für SS-Leute zu fordern, die von den US-Truppen bei und nach der Befreiung erschossen wurden. Der ukrainische Weltkongress jedenfalls sammelt für ein Gegenmuseum und erklärte bereits, dafür stünden 20 Millionen Dollar eines "Philanthropen" zur Verfügung.

Dass der US-Propagandasender Radio Liberty diesen Positionen breiten Raum einräumt, muss nicht erstaunen. "Kiew könnte die Schlacht mit Moskau um das historische Narrativ in Babi Jar verlieren", lautet eine seiner Schlagzeilen. Verständnis äußert auch der Spiegel und achtet sorgsam darauf, sich einen jüdischen ukrainischen Nationalisten zu suchen, der dann mit der Aussage zitiert wird: "Diejenigen, die das Projekt mitfinanzieren wollen, sollen erst mal sagen, dass sie Putins Politik verurteilen und sie mit der Adolf Hitlers auf eine Stufe stellen." Und dann wird der Beitrag, den ukrainische Faschisten zum Holocaust leisteten, kleingeschrieben: Es wird zwar erwähnt, dass eine ihrer Zeitungen zur Denunziation untergetauchter Juden aufrief und dass "ukrainische Milizionäre (…) beim Massaker für die Absperrung" sorgten, aber weder Lwow noch Schuschkewitsch noch die berüchtigten ukrainischen KZ-Wachen kommen zur Sprache.

"50 Prozent der Ukrainer halten die Sowjetunion und Nazi-Deutschland für verantwortlich für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs", zitiert ein anderer Artikel auf Radio Liberty einen Historiker aus Kiew. "Das heutige Russland Putins leugnet die Verantwortung der Sowjetunion." Das ist dreist, passt aber zur aktuellen Neigung, die Geschichte so lang zu drehen, bis sie zur antirussischen Haltung passt; ein Ansatz, der leider auch in der Bundesrepublik immer mehr Anhänger findet.

"Russland wird jede Entwicklung um Babi Jar nutzen, um entweder die Rolle der Ukrainer im Zweiten Weltkrieg oder der Ukrainer jetzt zu diskreditieren und zu sagen, sie sind gegen die Gedenkstätte in Babi Jar", so derselbe Historiker weiter.

Nicht, dass an der Rolle der ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg etwas zu diskreditieren wäre. Es gibt Aussagen, dass es selbst der SS vor ihnen graute. Die anderen, die gegen die Nazi-Wehrmacht kämpften, waren Sowjetbürger. Auch jene, die aus der ukrainischen Sowjetrepublik stammten.

Es gibt in der Ukraine auch andere Stimmen, die aber dem Spiegel wohl nicht ukrainisch genug waren. So schrieb beispielsweise Wassil Rassewitsch im August: "Ich finde, dass das grundlegende Problem um die Memorialisierung von Babi Jar das untaugliche Konzept der ukrainischen Geschichtspolitik des vergangenen Jahrzehnts ist. Welcher die Tätigkeit der ukrainischen Nationalisten zugrunde gelegt wurde, die am Vorabend und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eng mit den Nazis kollaborierten."

Und er verurteilt den Ansatz des "Gegenmuseums" sehr deutlich: "Der Höhepunkt des Zynismus war die Einbeziehung der ukrainischen Nationalisten zu den unterschiedlichen Opfern der Tragödie. Der Zynismus lag darin, dass in der Liste der Nazis der Kategorien, die der Ermordung unterlagen, Juden, Roma, psychisch Kranke waren, doch die ukrainischen Nationalisten haben in dieser Zeit Bekanntmachungen über die Sammlung der Juden in Babi Jar plakatiert und standen Wache, als das schreckliche Massaker verübt wurde. Daher: wie kann man unschuldige zivile Opfer mit denen in eine Reihe stellen, die den Nazis beim Morden halfen und danach diese durch irgendetwas enttäuschten und selbst den Kopf verloren?"

Oder in der Ukrainskaja Prawda: "Auf Europäischsein und Zivilisiertheit pochend, gedenkt die Ukraine der Tragödie der 1940er. Sich selbst als Nationalstaat behauptend, ehrt die Ukraine die Helden der 1940er. Doch zwischen dem ersten und dem zweiten balancierend, bemüht sich die Ukraine nicht darüber nachzudenken, dass die geehrten Helden den Holocaust nicht als Tragödie ansahen, sondern komplett andersherum."

Wohlgemerkt, die Autoren beider Texte sind nicht weniger russlandfeindlich als die oben Zitierten. Aber sie machen sich zumindest nicht mit Nazikollaborateuren gemein und wenden die Barbarei des ukrainischen Antisemitismus nicht in eine Heldengeschichte.

Das offizielle Kiew will aber die historische Wahrheit nicht hören; nicht einmal von israelischen Präsidenten. "Als Israels damaliger Präsident Rivlin 2016 vor dem ukrainischen Parlament die Rolle der OUN ansprach, griff ihn das Staatliche Institut für Nationale Erinnerung wegen der Verbreitung 'sowjetischer Mythen' an", schrieb diese Woche die Jüdische Allgemeine.

Steinmeier, der als deutscher Außenminister im Februar 2014 den Putschisten die Tür in Kiew geöffnet hatte und der drei Monate später nicht den Anstand besaß, bei seinem Besuch in Odessa wenige Tage nach dem Massaker vom 2. Mai der Opfer zu gedenken, wird bei seinem Besuch in Kiew kaum Kritik an der offiziellen Version üben. Im günstigsten Fall drückt er sich darum, die Fakten zu deutlich werden zu lassen, wie der Spiegel. Im schlimmsten verbrüdert er sich mit den ukrainischen Fälschern.

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