Warum hat Deutschland keine Verfassung?
von Jochen Mitschka
Auf diese Frage gibt es viele und keine Antworten. Da fehlt nur noch meine allgemeinverständlich, ohne juristische Spitzfindigkeiten erklärte Begründung. Eine Verfassung ist nur eine solche, wenn sich ein Volk diese selbstbestimmt und in freier Entscheidung gibt, was bedeutet, dass die Menschen insgesamt darüber abstimmen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist zwar einer der besten Verfassungsentwürfe der Welt, da es in den Artikeln 1 bis 19 die wichtigsten Forderungen der Menschenrechte spiegelt. Es ist aber keine Verfassung, weil sie dem Volk "gegeben wurde". Und dieses Volk durfte seit dessen Verkündung im Jahr 1949 weder über die Erstfassung noch über irgendeine der unzähligen späteren Änderungen, die durch die politische Elite des Landes betrieben wurden, in direkter und freier Wahl abstimmen.
Als die Besatzungsmächte nach dem Krieg beschlossen, Deutschland eine Art von Verfassung zu ermöglichen, wollte man aus zwei Gründen nicht das Risiko eingehen, die Bevölkerung dazu zu befragen. Der erste Grund war das tiefsitzende Misstrauen gegenüber den Menschen, die das Nazireich so willig unterstützt hatten, und der zweite Grund war die Tatsache, dass es einen Alternativentwurf im Osten des Landes gab. Und man wollte nicht riskieren, dass der kapitalistische Verfassungsentwurf im Westen mit Blick auf die Teilung des Landes und den Gesellschaftsentwurf im Osten möglicherweise abgelehnt werden könnte.
Zwar hatte man durch die Montanmitbestimmung, die angeblich auf die ganze Gesellschaft ausgerollte werden sollte, eine Alternative zu einer Gesellschaftsreform wie im Osten angeboten. Aber die wichtigen politischen Akteure dieser Zeit waren sich doch nicht ganz sicher, wie diese kriegsmüde und von den Nazis in Zusammenarbeit mit den Großindustriellen ausgebeutete Gesellschaft reagieren würde.
Aber warum hat Deutschland heute keine Verfassung?
Die Antwort nimmt etwas Zeit in Anspruch. Durch die Nachkriegsbedingungen und das fehlende Vertrauen in die Bevölkerung konnte sich eine neue Parteienaristokratie etablieren, die sich selbst als Kontrollinstanz gegenüber dem Volk ansieht. Dies hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede im Jahr 2010 ganz deutlich ausgedrückt:
"Aber genau deshalb bin ich auch zutiefst davon überzeugt, dass es richtig ist, dass wir eine repräsentative Demokratie und keine plebiszitäre Demokratie haben und dass uns die repräsentative Demokratie für bestimmte Zeitabschnitte die Möglichkeit gibt, Entscheidungen zu fällen, dann innerhalb dieser Zeitabschnitte auch für diese Entscheidungen zu werben und damit Meinungen zu verändern. Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, der NATO-Doppelbeschluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt – fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt."
Diese "Wächter der Demokratie" sehen Wahlen lediglich als Bestätigungsritual einer Politik an, die die politischen Führungen im besten Konsens bestimmen. Und die Meinung der Bürger ist lediglich Maßstab dafür, welchen propagandistischen Aufwand die politische Führung benötigt, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen. Dies drückte Angela Merkel durch folgenden Satz aus:
"Die Politik kann allerdings lernen, welche Sorgen und Hoffnungen mit einem bestimmten Projekt verbunden sind. Man kann erahnen, wie viel Überzeugungskraft gegebenenfalls notwendig ist, um ein wichtiges, notwendiges Projekt durchzusetzen."
Und so verhindert die Politik bis heute, dass sich die Menschen selbstbestimmt und eigenverantwortlich eine Verfassung geben, und damit den Einstieg in die Mitbestimmung der Politik. Sie kann dies erfolgreich tun, weil im Laufe der Jahrzehnte der Staat auf die Bedürfnisse der Parteien zugeschnitten wurde. Nicht zuletzt durch unzählige Einschränkungen der Grundrechte, über die in keinem Fall der Souverän, die Bevölkerung, der Wähler entscheiden durfte. Folgende Faktoren waren für diesen Erfolg der Übernahme der Macht des Staates durch den Konsens der Parteien erfolgreich.
Es entscheidet nicht der Souverän über die Politik, sondern die eigentlich als Diener des Souveräns gedachten Vertreter. Und diese bestimmen dann anhand des Widerstands in der Bevölkerung, welche Menge an Propaganda benötigt wird, um diese Politik durchzusetzen.
Die Meinungsbildung
Propagandawerkzeuge haben sich die "staatstragenden" Parteien im Laufe der Jahrzehnte in einem weltweit unerreichten Maße zugelegt. Da ist zunächst ihr Einfluss auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dieser war ursprünglich als "Markt der Meinungen in einer pluralistischen Gesellschaft" gedacht, damit sich jeder Bürger, unabhängig von wirtschaftlichen Interessen privater Medien oder politischer Ideologien, eine Meinung bilden kann.
Diese Medien müssen im Zusammenspiel mit sogenannten "politischen Stiftungen" gesehen werden, die die Ideologien der Parteien im In- und Ausland propagandistisch vertreten. Sie finanzieren sich aus Steuergeldern, die bald eine Höhe von einer Milliarde Euro erreicht haben dürften. Und so greifen die öffentlich-rechtlichen Medien gerne den Ball auf, wenn eine dieser Stiftungen etwas sagt, und erklären das zur Meinung aus der "Zivilgesellschaft" oder von "Nichtregierungsorganisationen".
Die einzige nennenswerte Gefahr für die Meinungsbildung im Sinne des Konsenses der politischen Parteien des Landes geht von den privaten Medien aus. Falls jedoch, wie derzeit, die Politik in erster Linie die Interessen der wichtigsten Kapitalgeber der privaten Medien unterstützt, gibt es keinen grundsätzlichen Dissens zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien. Gut zu beobachten zum Beispiel in der Berichterstattung über die Ukraine, Afghanistan oder Corona.
Wie erfolgreich die Meinungsbildung ist, wenn politische und private Interessen im Zusammenklang arbeiten, kann man bei Fragen der Globalisierung, der Privatisierung, der Bankenrettung oder der Corona-Krise erkennen. Zum Beispiel, wenn politische Stiftungen von Privatisierung reden und private Stiftungen wie Bertelsmann dann die passenden Modelle bewerben, was dann gemeinsam von öffentlich-rechtlichen und privaten Medien als Meinung "der Zivilgesellschaft" oder der Wissenschaft zum Medienkonsumenten getragen wird.
Die Wissenschaft
Ähnlich wie die Medien wird die Wissenschaft aus zwei Töpfen finanziert. Einmal die der Unternehmen, andererseits die der Ministerien mit ihren Steuergeldern, die durch die politischen Parteien kontrolliert werden. Und so ist die Idee der freien Wissenschaft längst dem "Markt" untergeordnet worden. Wenn Politiker die Meinung von Wissenschaftlern einholen, achten sie darauf, dass diese auch die "richtige" Meinung vertreten, ignorieren jene, die vielleicht nicht mit ihnen übereinstimmen. Sehr gut zu beobachten daran, dass Wissenschaftler, die keine Sorge mehr um ihre Karriere haben und deshalb freimütig ihre Meinung äußern, wie Prof. Sucharit Bhakdi oder der weltweit wohl anerkannteste Epidemiologe John Ioannidis, vollkommen ignoriert wurden, während solche, die an einem der Regierung unterstehenden Institut arbeiten oder mithilfe von privaten Unterstützern eine wichtige Position erlangt haben, den exklusiven Zugang zur Politik erhalten – selbst wenn sie eine persönliche Geschichte der falschen Voraussagen und Entscheidungen zu verantworten haben.
Aus diesem Grund ist Wissenschaft in der modernen Zeit Auftragserfüller für Politik und Wirtschaft geworden und nur noch in seltenen Fällen kritischer und unabhängiger Geist, der hinterfragt, forscht und die Wahrheit sucht. Ganz einfach, weil solche Wissenschaft keine Finanzmittel hat, um Forschung zu betreiben. Aber selbst wenn verbliebene kritische Wissenschaftler durch Analysen von wissenschaftlichen Arbeiten der von Politik und Wirtschaft finanzierten Forschung Fehler nachweisen, hat das keine Auswirkungen, wenn diese Ergebnisse von den privaten und öffentlich-rechtlichen Medien ignoriert werden, weil sie den entsprechenden Interessen – oder nennen wir es Glaubensgrundsätzen – nicht entsprechen.
Die Rechtsprechung
Jeder dürfte inzwischen wissen, dass in Deutschland die Staatsanwälte ihre Weisungen von den politischen Parteien erhalten, genauer gesagt, von den Justizministern der Länder und des Bundes. Das führt nicht nur dazu, dass sie im internationalen Rahmen keine Haftbefehle mehr ausstellen können, sondern auch, dass teilweise mit obskuren Gründen strafrechtliche Ermittlungen gegen Politiker abgelehnt werden.
Die Richter ihrerseits werden ebenfalls bezahlt von den Politikern, und ihre Karriere hängt von der Gunst der politischen Parteien ab. Am deutlichsten zu erkennen ist dies am Verfassungsgericht. Wikipedia erklärt dort freundlicherweise, welche politische Partei welchen Politiker empfohlen hat, die dann von den politischen Parteien in Hinterzimmern vereinbart wurden. Und nicht zuletzt hat ein ehemals führender Politiker der Regierungspartei CDU sogar einen Vorsitz übernommen.
Das heißt, auch die Meinungsbildung durch die Rechtsprechung liegt in den Händen des politischen Konsenses der Parteien, nicht in denen unabhängiger Ankläger und Richter, die im alleinigen Interesse der Menschen handeln, nur dem Gesetz verpflichtet, ohne von politischen Parteien abhängig zu sein oder als treuer Diener solcher Parteien ihre Ideologien vertreten zu haben. So erklärt sich, dass führende Politiker, in deren Umfeld rechtliche Begründungen für den Betrug des Staates, zum Beispiel im Fall von CumEx entwickelt wurden, auch zu höchsten richterlichen Würden aufsteigen können.
Gesetzgebung
Die vollkommene Übernahme der Macht durch Politiker wurde aber nicht nur durch die Nichterfüllung des Versprechens, im Grundgesetz die Gewaltenteilung zu realisieren, möglich, sondern auch durch eine Gesetzgebung, die durch die führenden Kader der politischen Parteien beherrscht wird. Wodurch zum Beispiel die Gebote und Verbote des Grundgesetzes niemals durch Gesetze im Strafrecht geschützt wurden. Die einzige grundgesetzliche Regelung, die nach dem Krieg den Eingang in das Strafgesetz gefunden hat, war der §80 StGB, der aber zum 1. Januar 2017 gelöscht wurde. Ganz offensichtlich war es zu lästig geworden, wenn der Generalbundesanwalt Anzeigen wegen Vorbereitung von Angriffskriegen wegargumentieren musste. Und nein, der Verweis auf das Völkerstrafrecht ersetzt in keiner Weise den §80, denn das Völkerstrafrecht kennt weder die Vergangenheit Deutschlands noch den Geist oder Text des Grundgesetzes. Und nach dem letzten Krieg sollte Deutschland gelernt haben, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen sollte, was aber leider für die Politik nicht gilt.
Und so ist das Schlimmste, was einem Politiker passieren kann, wenn er gegen das höchste deutsche Gesetz verstößt, der warnende Finger eines von ihm selbst eingesetzten Verfassungsrichters, mit der höflichen Aufforderung, den Verstoß doch bitte zu unterlassen.
Warum reicht das Grundgesetz nicht?
Die Qualität des Grundgesetzes geht nicht nur von den Artikeln aus, die die Menschenrechte als Basis haben, sondern auch von Artikel 20, der von den Parteien unsichtbar gemacht wird. Darin wird bestimmt, wer der Souverän ist, und ist ansonsten offen für gesellschaftliche Entwicklungen. Aber dadurch, dass die Vertreter des Volkes selbst alle Kontrollinstanzen besetzt haben, ergibt sich die Frage aus der Antike: "Wer kontrolliert die Kontrolleure?" Denn wir haben ja gesehen, dass die politische Führung dieses Landes sich selbst kontrolliert.
In der Antike kam man zu der Ansicht, dass diese Frage unbeantwortbar ist oder dass das Problem dadurch aufgelöst werden kann, dass man sagt: Die Kontrolleure kontrollieren sich selbst! Durch ihre Ethik und Moral sind sie über jeden Zweifel erhaben. Nun schauen Sie sich die Bundesrepublik Deutschland und deren führende Politiker an und bestätigen Sie, dass diese über jeden Zweifel erhaben, nur von höchsten ethischen und moralischen Gedanken geleitet werden.
Selbst wenn Sie zu der Auffassung kommen sollten, dass sie das sind oder dass sie sich vielleicht gegenseitig kontrollieren, was man angesichts der Kriegsbeteiligungen und Corona-Krise heftig bestreiten müsste, bleibt die Frage danach, wodurch ein Missbrauch der Macht in der Zukunft ausgeschlossen werden kann. Niemand wird bestreiten, dass es einfacher ist, 700 Politiker in Deutschland zu "überzeugen" als über 80 Millionen Menschen.
Gleichzeitig muss man feststellen, dass das Grundgesetz so weit durch Gesetze ausgehöhlt wurde, dass man es inzwischen fast als leere Hülle betrachten muss. Ja, in der Corona-Krise wurden Menschen verhaftet, weil sie das Grundgesetz als politisches Statement hochhielten. Wenn man diese Aussage als These akzeptiert, muss man sagen, dass es höchste Zeit wird, dass die Kontrolleure kontrolliert werden, und zwar durch den Souverän.
Der erste Schritt dazu wäre eine verfassungsgebende Versammlung, bei der die politische Führung nicht die Kontrolle über den Ausgang erhält. Dies wird vehement von den politischen Köpfen des Landes bekämpft, ebenso wie von den zu ihnen gehörenden Medien sowie der Justiz. Zu groß ist die Gefahr, dass Privilegien gestrichen, Macht verringert oder Rechtfertigung gefordert werden könnte. Verschiedene Initiativen mit und ohne Anmeldung beim Bundespräsidenten werden belächelt und notfalls bekämpft.
Nun gäbe es aber auch die Möglichkeit, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in den Verfassungsrang zu erheben, indem die Wahlberechtigten des Landes erklären, dass dies ihr Wille ist. Artikel 146 GG eröffnet diesen Weg. Und eine neue Bewegung hat sich entschlossen, diesen Weg zu gehen.
Es wird spannend zu sehen, ob die politische Elite des Landes den Menschen weiter verweigert, über die Grundsätze der Politik und Gesellschaft aktiv mitzubestimmen, ob man ihnen das Recht vorenthält, welches die Wähler in Russland, Iran oder China haben. Denn selbst in diesen autoritären Ländern müssen alle Verfassungsänderungen über Referenden bestätigt werden. 72 Jahre nachdem dem deutschen Volk das Grundgesetz gegeben wurde, wäre es doch langsam Zeit, es dazu zu befragen.
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