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Syrien: UN-Sicherheitsrat findet Kompromiss im Streit über grenzüberschreitende Hilfslieferungen

Nach langem Streit über den Grenzübergang Bab al-Hawa, der von der Türkei in die syrische Provinz Idlib führt, hat der UN-Sicherheitsrat vor einer Woche einem Kompromiss zugestimmt. Syrien – das kein Stimmrecht in der Sache hat – lehnt den "politisierten Mechanismus" ab.
Syrien: UN-Sicherheitsrat findet Kompromiss im Streit über grenzüberschreitende HilfslieferungenQuelle: www.globallookpress.com © Juma Mohammad

von Karin Leukefeld

Nach wochenlangem Streit darüber, ob der aus der Türkei nach Idlib führende "humanitäre Korridor" über den Grenzübergang Bab al-Hawa geschlossen werden soll, hat der UN-Sicherheitsrat am vergangenen Freitag einem Kompromiss zugestimmt.

Die neue UNSR-Resolution 2585 (2021) sieht die Fortsetzung der Hilfslieferungen zunächst für sechs Monate vor. Eine Verlängerung für weitere sechs Monate hängt von einem Bericht ab, den der UN-Generalsekretär nach einem halben Jahr vorlegen soll.

Darin soll die Transparenz bei der Kontrolle der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen überprüft werden. Konkret geht es um Details des Verteilungsmechanismus, die Anzahl der Hilfsempfänger und genaue Angaben über die Partnerorganisationen in Idlib, die in die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen eingebunden sind. Es sollen Ortsangaben gemacht werden, wo Hilfslieferungen gelagert und von wo sie verteilt werden, der Bericht soll zudem Angaben über den Umfang und die genaue Art der Hilfe geben. Darüber hinaus soll Auskunft über die Fortschritte aller erforderlichen Maßnahmen für innersyrische "frontüberschreitende" Hilfslieferungen und über die Entwicklung "frühzeitiger Erholungsprojekte" gegeben werden.

In wesentlichen Punkten konnte sich Russland mit seinem Resolutionsvorschlag durchsetzen. Der Kompromiss wurde einstimmig angenommen, weil die UN-Delegationen der USA und Russlands kooperiert hatten. Die europäischen Vetomächte Großbritannien und Frankreich äußerten Kritik, stimmen aber in der nur halbstündigen, sehr kurzen Debatte schließlich zu.

Die Debatte

Die US-amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield begrüßte, dass die USA und die Russische Föderation sich in einer zentralen Frage im UN-Sicherheitsrat geeinigt hätten. Der Kompromiss sei über die konkrete Frage hinaus wichtig für die ganzen Vereinten Nationen, so die Botschafterin. Man habe gezeigt: "Wir können mehr als nur reden."

Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja zeigte sich "dankbar", dass der Rat in der komplexen Angelegenheit Übereinstimmung gefunden habe. Die US-Delegation habe "im Geist der Verpflichtungen gearbeitet, die während des kürzlichen Treffens zwischen den Präsidenten Wladimir Putin und Joe Biden" in Genf getroffen worden seien, hieß es in einem nicht offiziellen UN-Protokoll der Ratssitzung am 9. Juli. Die Annahme der neuen Resolution mache den Weg frei dafür, dass der grenzüberschreitende Mechanismus perspektivisch durch frontüberschreitende Hilfsmaßnahmen innerhalb Syriens ersetzt werde. Das entspreche den Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts.

Die britische UN-Botschafterin Barbara Woodward bezeichnete Syrien weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für humanitäre Hilfsarbeiter und forderte, mehr für deren Sicherheit innerhalb des Landes zu tun. Die mexikanische UN-Botschafterin Alicia Guadalupe Buenrostro Massieu begrüßte, dass die Fortsetzung der grenzüberschreitenden Hilfe über Bab al-Hawa "Planungssicherheit für den Etat der Hilfslieferungen" biete. Der französische UN-Botschafter Nicolas de Rivière bedauerte, dass nur einer statt der geforderten drei Grenzübergänge zumindest befristet offen gehalten werden solle. Er beharrte darauf, dass Frankreich und seine europäischen Partner keinen Wiederaufbau in Syrien finanzieren und auch die Sanktionen nicht aufheben würden, bevor in Syrien nicht die UN-Sicherheitsratsresolution 2254 (aus dem Jahr 2014) glaubwürdig umgesetzt werde. Wie seine mexikanische Vorrednerin lehnte de Rivière es ab, dass der Bericht des UN-Generalsekretärs, der nach sechs Monaten vorgelegt werden muss, Details über Partnerorganisationen nennen solle.

Der indische UN-Vertreter T. S. Tirumurti forderte dagegen umfassende Unterstützung für alle Einwohner Syriens, das einst "Dreh- und Angelpunkt arabischer Kultur" und eine führende Stimme in der Region gewesen sei. Diskriminierung, Vorbedingungen und die Politisierung von Hilfe für Syrien müssten ein Ende haben. Die verabschiedete Resolution 2585 leiste den Menschen im Nordwesten Syriens Hilfe, doch der Sicherheitsrat müsse sich auch dem Rest des Landes widmen, das dringend Wiederaufbauhilfe benötige. Stabilität werde es nur geben, wenn die Souveränität und territoriale Integrität Syriens erhalten blieben. Nur so könne gewährleistet werden, dass ausländische Akteure die Lage in Syrien nicht weiter destabilisierten.

Ähnlich äußerte sich der chinesische UN-Vertreter Zhang Jun. Die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen basierten auf einer Ausnahmeregel, die politisch und juristisch umstritten sei. Sie müsse endlich zugunsten der innersyrischen Hilfslieferungen beendet werden. Die einseitigen Sanktionen (von EU und USA) gegen Syrien seien allerdings das größte Hindernis für die Verbesserung der humanitären Lage im Land.

Humanitäre Korridore stärken Macht der Dschihadisten

Die von UN-Diplomaten und westlichen Staaten sowie deren Hilfsorganisationen eingeforderten humanitären Korridore nach Idlib – die auch die Gebiete Afrin, Azaz und Jbeil Saman westlich von Aleppo erreichen – nutzen direkt den dort operierenden Dschihadisten um Haiʾat Tahrir asch-Scham und festigen deren Macht. Die USA und ihre Partner in Europa, Israel und am arabischen Golf unterstützen in Idlib und im Umland von Aleppo Kräfte, die einen "Islamischen Staat" gründen und diesen von Syrien abspalten wollen. Im Nordosten Syriens fördern sie eine "Euphrat-Provinz", die vom syrischen Öl, Weizen, Wasser und der Baumwolle profitieren soll. Der NATO-Partner Türkei kolonisiert derweil Teile Nordsyriens und bildet mit Dschihadisten eine neue Armee.

Eine riesige Operation

Wenige Tage vor der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat hatte der EU-Kommissar für Humanitäre Hilfe und Krisenprävention Janez Lenarčič Bab al-Hawa einen Besuch abgestattet. Es gebe keine "realisierbare Alternative" zu dem Grenzübergang, sagte er. "Es ist eine riesige Operation", monatlich führen mehr als 1.000 Lastwagen aus der Türkei über den Grenzposten nach Idlib.

Tatsächlich ist der komplizierte Mechanismus der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen für Außenstehende kaum nachzuvollziehen. Zudem sind zahlreiche Informationen von teilnehmenden Organisationen öffentlich nicht zugänglich. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterhält beispielsweise in Gaziantep seit 2014 einen Stützpunkt ausschließlich, um die grenzüberschreitenden Operationen und die Arbeit beteiligter deutscher Nichtregierungsorganisationen in Syrien zu koordinieren und zu unterstützen. Über Einzelheiten dieser Tätigkeit erfährt die Öffentlichkeit auf der GIZ-Webseite kaum etwas.

Nach einer Untersuchung des US-amerikanischen Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Zusammenarbeit mit der GIZ teilt sich die grenzüberschreitende UN-Hilfe finanziell auf internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) und den grenzüberschreitenden humanitären UN-Fonds für Syrien (SCHF) auf. Insgesamt umfasste demnach die UN-Operation für das vergangene Jahr (2020) 300 Millionen US-Dollar, 190 Millionen davon gingen direkt in den SCHF.

Über den SCHF werden Gelder an lokale Nichtregierungsorganisationen verteilt, die für die Umsetzung des Hilfsprogramms – Lagerung und Verteilung – zuständig sind. Ein Schaubild des CSIS-Berichts zeigt, wie das SCHF Geld – für 2020 waren 190 Millionen US-Dollar – aufteilt: 16 Prozent gingen demnach an 32 Internationale NGOs, sieben Prozent gingen an UN-Organisationen, zwei Prozent an Organisationen des Roten Halbmonds, wonach unklar ist, welcher Nationalität diese Organisationen waren. Das Gros des Geldes, 75 Prozent, wurde demnach an 153 (!) syrische Nichtregierungsorganisationen verteilt. Um welche Organisationen es sich dabei handelt, ist unklar. Sollte die grenzüberschreitende Hilfe gestoppt werden, fielen dem CSIS-Bericht zufolge die Gehälter für Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern/-pfleger und Hebammen weg.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes ist Deutschland "zweitgrößter humanitärer Geber" bei der humanitären Hilfe und Nothilfe für Syrer. In Syrien wird Nothilfe verteilt, in den syrischen Gebieten, die nicht unter Kontrolle von Damaskus sind, wird "Stabilisierungshilfe" verteilt, eine andere Bezeichnung für Wiederaufbauhilfe. In Lagern in den Nachbarländern Türkei, Irak, Jordanien und Libanon wird westliche Hilfe von Nichtregierungsorganisationen in Form von Hilfspaketen mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln und auch in Bargeld verteilt. Das Geld fließt in zahlreiche Projekte für Kinder und Frauen oder Arbeitsprogramme. Nicht zuletzt werden damit auch die am Programm beteiligen Internationalen und privaten oder halb-staatlichen Hilfsorganisationen finanziert.

Im Jahr 2020 stellte allein die Bundesregierung nach eigenen Angaben 672 Millionen Euro bereit, mehr als 102 Millionen Euro flossen in den Nordwesten des Landes. Im Rahmen der Brüsseler Geberkonferenz für Syrien und die Nachbarländer (2021) machte Deutschland mit 1,738 Milliarden Euro die größte Zusage. Das Auswärtige Amt stellte klar, die Bundesregierung werde auch in Zukunft einen substanziellen Beitrag zur Finanzierung der von den Vereinten Nationen erstellten Hilfspläne leisten.

Wie der deutsche Außenminister Heiko Maas wiederholt feststellte, wird Deutschland sich dagegen weder an Wiederaufbaumaßnahmen in den Gebieten Syriens beteiligen, die von der Regierung kontrolliert werden, noch wird Deutschland die einseitigen, völkerrechtlich nicht legitimierten Sanktionen gegen das Land aufheben. Für Idlib, Azaz, das dschihadistisch-türkisch kontrollierte Umland von Aleppo und den kurdisch-US-amerikanisch kontrollierten Nordosten des Landes gilt das nicht.

Syrien wird nicht gehört

Es gehört zu den Ritualen des UN-Sicherheitsrates, dass Vertreter der Länder, über deren Lage und Zukunft gestritten wird, bei den Debatten zwar anwesend sein und sprechen können, aber kein Recht haben, über Resolutionen mit zu entscheiden. In der Vergangenheit hatten die westlichen UN-Botschafter immer wieder demonstrativ den Saal verlassen, wenn der syrische Vertreter das Wort ergriff.

Der amtierende syrische UN-Botschafter Bassam Sabbagh betonte bei der Debatte am 9. Juli, dass Russland und China auf wichtige Aspekte der humanitären Probleme in Syrien, einschließlich der Auswirkungen von COVID-19 und der einseitigen Sanktionen, hingewiesen hätten. Westliche Staaten ignorierten diese Aspekte. Ihr Beharren auf dem grenzüberschreitenden Mechanismus "dient ihren Interessen und nicht der Linderung der Leiden des syrischen Volkes", so Sabbagh. Den Mechanismus als "Lebenslinie" zu bezeichnen, käme einer "psychologischen Erpressung" der öffentlichen Meinung in deren Ländern gleich. Der Erhalt Syriens als souveräner und unabhängiger Staat werde anhaltend verletzt.

Im Gespräch mit der Autorin in Damaskus erklärte der Vorsitzende der syrischen UN-Gesellschaft George Dschabbur, die Aufgabe des UN-Sicherheitsrates müsse sein, "die Einheit Syriens zu erhalten". Man müsse verhindern, dass humanitäre Hilfe direkt an bewaffnete Gruppen gehe, die die Einheit Syriens bekämpften und dabei von der Türkei unterstützt würden.

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