Meinung

Israels neue Lage: Innenpolitische Eskalation, außenpolitische Isolation

Die Gewaltausbrüche in Jerusalem und neuen Konflikte zwischen Hamas und israelischen Streitkräften finden in einem veränderten geopolitischen Umfeld für Israel statt. Das Land ist in einer innenpolitischen Pattsituation und weitgehend alleingelassen von Verbündeten.
Israels neue Lage: Innenpolitische Eskalation, außenpolitische IsolationQuelle: Reuters © Ammar Awad

von Seyed Alireza Mousavi

In Jerusalem gibt es die heftigsten Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern seit Jahren. Dabei steht der Tempelberg im Fokus. Es begann vor etwa drei Wochen mit Zusammenstößen am symbolträchtigen Damaskustor. Das hatte die Polizei, anders als in den Jahren davor, abgesperrt und so die dort traditionellen Versammlungen der Palästinenser nach dem Fastenbrechen verhindert. Israel beschränkt auch die Zahl der Betenden in der Al-Aqsa-Moschee seit Beginn des heiligen Monats Ramadan. Auf dem Tempelberg beziehungsweise der Al-Aqsa-Moschee waren in den vergangenen Tagen Hunderte palästinensische Jugendliche bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften verletzt worden.

Die Auseinandersetzungen in Jerusalem sind in den letzten Tagen in einen heftigen Konflikt zwischen der Hamas und den israelischen Streitkräften umgeschlagen. Palästinenser feuerten nach Angaben des israelischen Militärs am Dienstagvormittag bislang mehr als 200 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel ab. Das israelische Militär lancierte zudem rund 130 Angriffe auf Ziele im belagerten Gazastreifen und ging dabei durchaus brutal vor. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza kamen bei der jüngsten Eskalation in der Nacht auf Dienstag 22 Palästinenser ums Leben, darunter neun Kinder. 106 Menschen wurden verletzt. Warnsirenen ertönten im Gebiet um den Gazastreifen. Mittlerweile wurde auch in Jerusalem Raketenalarm ausgelöst, da die Hamas am Montag als Vergeltung für Israels "Verbrechen und Aggressionen" gegen arabische Bewohner der Stadt die besetzten Gebiete in Jerusalem mit mehreren Raketen beschossen hatte. Am Dienstagnachmittag sollen auch zwei Israelis getötet worden sein, nachdem Raketen aus dem Gazastreifen in Aschkelon niedergegangen waren.

Die Auslöser der jüngsten Reihe von Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis war ein Aufmarsch radikaler zionistischer Siedler am Zugang zur Altstadt von Jerusalem Ende April. Dort waren mehrere Hundert Polizisten, um den Aufmarsch der rechten Organisation Lehava abzuschirmen. Hunderte von Anhängern der rechtsextremen israelischen Gruppierung jagten Palästinenser durch die Straßen und skandierten "Tod den Arabern". 

Die Lage nahm zugleich eine ernste Wendung, nachdem die Israelis palästinensische Häuser im Stadtteil Scheich Dscharrah angegriffen hatten. In jenem Stadtteil nördlich der Altstadt sowie in Silwan südlich davon kommt es immer wieder zu Zwangsräumungen. Die palästinensischen Bewohner protestierten kürzlich gegen ein Gerichtsurteil, das jüdischen Siedlern erlaubt, in diesem Stadtteil palästinensische Häuser zu übernehmen. Die in Jerusalem implementierte diskriminierende Politik im Rahmen der Siedlungserweiterungen und der Abriss von Häusern, durch die allein in den Stadtteilen Silwan und Scheich Dscharrah in diesem Jahr bis zu 2.100 Menschen vertrieben werden sollen, hat zur Verschärfung der Konflikte zwischen Palästinensern und Israelis beigetragen.

Israel verharrt zugleich in seiner inneren politischen Krise. Die Parteienlandschaft ist sehr zersplittert. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist nach der vierten Parlamentswahl binnen zwei Jahren mit der Bildung einer Regierung gescheitert. In Israel glauben nur noch wenige an die Zweistaatenlösung, dafür haben die Siedler starken Einfluss. Die Führung der Palästinenser ist derzeit im Westjordanland gelähmt. Im Alleingang sagte Palästinas Präsident Mahmud Abbas vor Kurzem die Parlamentswahl ab, um der Hamas die Möglichkeit zu nehmen, sich auf diesem Wege mehr Legitimität zu verschaffen. Nun regt sich Widerstand.

Die Gewaltausbrüche in Jerusalem und die neue Runde der Konflikte zwischen Hamas und israelischen Streitkräften finden in einem veränderten geopolitischen Umfeld statt. Nach der Amtsübergabe an Joe Biden ist Israel geopolitisch gesehen nicht so gut aufgestellt wie unter dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Dass selbst die neuen arabischen Verbündeten Israels am Persischen Golf die Sache der Palästinenser ihren eigenen Interessen unterordnen, ändert nichts daran, dass die Golfstaaten sich nach dem Kurswechsel der neuen US-Regierung erneut arrangieren müssen. Trumps Strategie zielte seinerzeit darauf ab, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten anzukurbeln, ohne zuvor die Palästina-Frage zu lösen. Mit diesem Vorhaben wollte der ehemalige Präsident im Zug der Kampagne des maximalen Drucks auch gegen den Iran mobilmachen. 

Dass die USA unter Präsident Biden derzeit versuchen, eine Wiederannäherung im Atomstreit mit dem Iran zu erreichen, ist jedoch eine neue Realität, der sich die Politiker der Golfstaaten offenbar anpassen müssen. Insbesondere Biden hat keinerlei Interesse gezeigt, Saudi-Arabien in eventuelle neue Atomverhandlungen einzubeziehen. Die Saudis sind als Hauptinitiatoren der Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten insbesondere wegen des Konflikts im Jemen überfordert und suchen neue diplomatische Beziehungen zum Iran. Nach einem Bericht der Financial Times kam in der irakischen Hauptstadt Bagdad am 9. April eine hochrangige Delegation Saudi-Arabiens mit Vertretern des Iran zusammen. Die Nachricht war ein Schlag ins Gesicht der Israelis, die in letzter Zeit versuchten, einen Keil zwischen Saudi-Arabien und den Iran zu treiben.

Die Golfstaaten sind zudem dabei, durch die Vermittlung Russlands ihre Beziehungen zu Syrien schrittweise zu normalisieren. Eine saudische Delegation Anfang Mai traf in Damaskus ein, um eine Normalisierung der Beziehungen zu Syrien anzukurbeln. Offenbar geht es nunmehr eher um die Normalisierung der Beziehungen der muslimischen Länder untereinander als jener zu Israel. 

Israel war zudem vor Kurzem von mehreren mysteriösen Angriffen betroffen. Am 21. April ertönten Sirenen in der südlichen israelischen Provinz Negev, in deren Nähe sich die israelische Atomanlage Dimona befindet. Wie das israelische Militär mitteilte, sei eine Rakete aus Syrien in der Nähe einer israelischen Atomanlage eingeschlagen. Dabei war die israelische Luftverteidigung nicht in der Lage, eine von Syrien aus abgefeuerte Rakete abzufangen.

Während Israel in letzter Zeit besonders aggressiv gegen die Palästinenser vorging und damit neue Konflikte mit ihnen ausgelöst hat, befindet es sich längst in einer Pattsituation im Bereich der Innenpolitik und ist von seinen Verbündeten in der Außenpolitik weitgehend alleingelassen. Denn die USA unter Biden haben andere Prioritäten in der Region gesetzt, und dabei haben auch Saudi-Arabien und die anderen arabischen Golfstaaten als US-Falken keine andere Wahl, als sich dem neuen Kurs der USA anzupassen.

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