Meinung

#TatortBoykott – Die Rückkehr des Spießers

Wenn der Spießer wiederkehrt, wird er nicht sagen: "Ich bin der Spießer." Nein, er wird sagen: "Ich bin der, der auf Twitter zum Boykott aufruft." Beobachtungen über eine wandlungsfähige Spezies.
#TatortBoykott – Die Rückkehr des Spießers

Von Arthur Buchholz

Karl Heisig beschrieb 1964 in der Zeitschrift für deutsche Philologie den Spießer folgendermaßen: "Als Spießbürger, Spießer oder Philister werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen."

In seinem 1930 erschienenen Roman "Der ewige Spießer" charakterisierte der Schriftsteller Ödön von Horváth diesen als einen "hypochondrischen Egoisten, der danach trachtet, sich überall feige anzupassen und jede neue Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet". Der Spießer reise in der Welt herum und sehe doch nur sich selbst. Was gut und böse sei, wisse er, ohne nachzudenken.

Die bösartigen Varianten von Spießern tauchen bei Honoré de Balzac in seinem Roman "Die Kleinbürger" auf, die Gehässigkeit, Klatschsucht, Verleumdung und Verrat, Dünkel, Besserwisserei und Aufgeblasenheit auszeichnen. Der Untertan in Heinrich Manns gleichnamigem Roman von 1918 ist ein autoritätshöriger Opportunist, Mitläufer und Konformist. Soweit belehrt uns Wikipedia.

Wer jetzt denkt, diese Beschreibungen gehören der Vergangenheit an, für den haben wir eine gute Nachricht: Der Spießer ist nicht vom Aussterben bedroht. Im Gegenteil – es ist eine der anpassungsfähigsten Spezies der Gesellschaft. Es geht ihm immer blendend. 

Falls man sich in der Vergangenheit Sorgen um seine Existenz gemacht hat, ist dies nicht mehr nötig. Auf Twitter kann man ihn in seinem natürlichen Habitat beobachten. Hier blüht er auf. Seine Hauptbeschäftigung: canceln oder, um in der deutschen Sprache zu bleiben, boykottierten.

Alles, was ihm nicht in sein Weltbild passt, muss verschwinden. Klar, wer als daran glauben musste: Jan Josef Liefers, die personifizierte Hassfigur aller Gerechten. Wie praktisch, dass er den Tatort mit seiner Figur Professor Boerne bestückt. Da hat der Spießer etwas, woran er sich abarbeiten kann. Natürlich musste #TatortBoykott schnell die Runde machen.

Die erste goldene Regel des Spießers lautet hierbei: Alles muss in einen Topf geworfen werden. Natürlich darf man den Privatmenschen Liefers nie von dem Schauspieler trennen.

So schreibt eine Nutzerin an den @Tatort: "Dass ihr Jan Josef Liefers überhaupt noch eine Plattform bietet, um über den Bildschirm laufen zu dürfen, schockiert mich etwas! Ich war ein großer Fan vom #münstertatort, aber lieber zähle ich in Zukunft Schrauben, bevor ich mir noch irgendwas von ihm ansehe."

Ein anderer schreibt: "Hey @DasErste, statt einem gesellschaftlich so irrelevanten Schauspieler wie Jan Josef Liefers heute Abend eine Plattform zu bieten, fragt doch mal @ProSieben, ob sie euch die 7-Stundensendung über den Pfleger:innenberuf ausstrahlen lassen."

Oder ganz einfach ausgedrückt: "SORRY, nie wieder #TatortMuenster. #allesdichtmachen wird NICHT vergessen! #TatortBoykott wegen @JanJosefLiefers"

Nie wieder Tatort. So einfach ist das. Womit wir bei der zweiten goldenen Regel des Spießers sind: Nichts darf im Kontext betrachtet werden. Keine Aussage bedarf eines Zusammenhangs, und kein Mensch darf in seiner gesamten Persönlichkeit wahrgenommen werden. Wer ist Jan Josef Liefers, und wo kommt er politisch her?

Am 4. November 1989 trat Liefers auf der Alexanderplatz-Demo als Redner gegen den DDR-Staat auf. Er engagierte sich bei "Deine Stimme gegen Armut", beim entwicklungspolitischen Netzwerk ONE und bekam 2011 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Er setzte sich für die Finanztransaktionssteuer und gegen die Spekulation mit Lebensmitteln ein. Er trat für ein Asyl für Edward Snowden ein und war Mitglied der Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit". Mit der Bild war er sogar in Syrien unterwegs.

Zusammengefasst: Liefers ist der Traumschwiegersohn und Patenonkel des linksgrün-bürgerlichen Milieus. Aber das spielt keine Rolle mehr. Alle Bemühungen der Vergangenheit, Herkunft und Lebenswerk, alles ist nichtig, denn dem Spießer genügt in seiner moralischen Omnipotenz ein falsches Wort, um einen Menschen für immer abzukanzeln. Das sind wir wieder beim Canceln.

#BoykottÖffentlichRechtlich kann man ja nicht machen, aus bekannten Gründen, Sie wissen schon.

Leider hatte der Aufruf wenig Reichweite, auch ein Merkmal des Spießers. Die Kraft und Reichweite seiner Empörungswellen sind oftmals sehr gering. Der Münsteraner Tatort glänzte mit über 14 Millionen Zuschauern. 

Nimmt man diese Zahl als Gradmesser, gibt es doch noch einige Vernünftige da draußen. 

Mehr zum ThemaTwitter-Richtlinien: Zensur von Wissenschaft und Meinung statt Schutz der Nutzer

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.