"Russland dort treffen, wo es wirklich wehtut!" – Fischer und Lambsdorff machen mobil
von Leo Ensel
Seien wir nicht ungerecht: Es ist ja nicht so, dass Deutschland Joschka Fischer überhaupt nichts zu verdanken hätte! Immerhin hat er uns als rot-grüner Außenminister 2003 davor bewahrt, von den USA in ihre Koalition der Willenlosen und damit in den Irakkrieg hineingezogen zu werden. Sein trotziges "Excuse me, I am not convinced!" mit leichtem Bibbern in der Stimme Richtung Donald Rumsfeld am 8. Februar 2003 auf der Münchner Sicherheitskonferenz war eine Sternstunde deutscher Selbstbehauptung und hätte der Startschuss für eine Emanzipation vom großen Bruder jenseits des Atlantiks werden können …
Das war es aber auch schon.
Abgesehen von diesem Sündenfall bewährte sich der Frankfurter Ex-Sponti stets als verlässlicher Transatlantiker, vermutlich zur vollen Zufriedenheit seiner Partner jenseits des Großen Teichs. Legendär sein enges Verhältnis zu Madeleine Albright! Mittlerweile genießt Fischer längst seinen wohlverdienten politischen Ruhestand, will sagen: Er berät über seine Consulting-Firma nicht nur finanzstarke Unternehmen (fast) sämtlicher Couleur, sondern belehrt altersweise, als wolle er Helmut Schmidt beerben, mit gerunzelten Sorgenfalten in der Stirn gleich die ganze Welt.
Letzte Woche war es mal wieder so weit, diesmal hatte das Qualitätsmagazin von der Hamburger Ericusspitze die Ehre, dem Elder Statesman die Stichworte zu liefern. Mit von der Partie war Fischers Transatlantikbruder im Geiste, der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass hier nicht nur Schleichwerbung für dessen neues Buch "Wenn Elefanten kämpfen" betrieben, sondern auch – die Grünen halten sich eben sämtliche Optionen offen – außenpolitische Gemeinsamkeiten für eine künftige Regierungskoalition öffentlich durchbuchstabiert werden sollten.
Es ging, natürlich, um Russland, das laut Spiegel "mit dem Säbel rasselt", und um das "nach Macht und Einfluss strebende"China. Bereits die Überschrift machte unmissverständlich klar, wohin die Reise bezogen auf Deutschlands großen Nachbarn im Osten zu gehen hat: "Wir müssen Russland dort treffen, wo es wirklich wehtut."
Retrograde Amnesie
Die Spiegel-Journalist*innen gingen sofort in die Vollen: "Herr Fischer, Russland hat an der Grenze zur Ukraine große Truppenverbände zusammengezogen, nun hat der Kreml den Rückzug der Soldaten angekündigt. Wie nah war Europa einem neuen Krieg?"
Hintergrundhinweise auf Kiews zeitgleichen Truppenaufmarsch im Donbass unmittelbar an der Grenze zu den abtrünnigen "Volksrepubliken" oder gar auf die NATO-Großmanöver "Defender Europe 2021", bei denen gerade mehr als 28.000 Soldaten aus 26 Nationen – darunter auch Nichtmitglieder wie Bosnien-Herzegowina, der Kosovo sowie die ehemaligen Sowjetrepubliken Moldawien, Georgien und, ausgerechnet!, die Ukraine im Baltikum, dem Südosten Europas und im Schwarzen Meer – (gegen wen eigentlich?) von Mitte März bis Mitte Juni Krieg spielen? Fehlanzeige!
Dabei hätten die gewieften Spiegel-Leute nur die Homepage der "Seventh United States Army Europe and Afrika" (USAREUR), Hauptquartier in Wiesbaden, konsultieren müssen. Dort steht in einer Pressemitteilung vom 15. März dieses Jahres schwarz auf weiß: "Defender Europe 2021 demonstriert unsere Fähigkeit, als strategischer Sicherheitspartner auf dem westlichen Balkan und im Schwarzen Meer zu fungieren, und gleichzeitig unsere Fähigkeiten in Nordeuropa, im Kaukasus, in der Ukraine und in Afrika zu erhalten." Gemeinsam sei man in der Lage, "auf jede Krise zu reagieren, die sich ergeben könnte".
Stattdessen erweckten die Redakteur*innen Konstantin von Hammerstein und Christiane Hoffmann den Eindruck, als sei Europa gerade um Haaresbreite an einem Krieg – vielleicht sogar dem Dritten Weltkrieg – vorbeigeschrammt. Und zwar ausschließlich aufgrund der an der Westgrenze des eigenen Territoriums zusammengezogenen russischen Truppenverbände.
Für Fischer jedenfalls ein willkommener Anlass, über den bedrohlichen russischen Aufmarsch zu schwadronieren. Schließlich habe, so Fischer, Russland "schon einmal mit Waffengewalt europäische Grenzen verändert", was für Europa "vollkommen inakzeptabel" sei. Dann allerdings folgte ein bedenklicher Satz, der den begründeten Verdacht nahelegt, dass der 73-jährige Ex-Außenminister mittlerweile an retrograder Amnesie leiden könnte:
"Die Europäer waren sich nach Ende des Kalten Krieges einig, dass ihr Kontinent nie wieder zum Schauplatz eines Krieges werden darf."
Wohl wahr! Aber war da nicht mal was?
Da Fischer es offenbar selbst nicht mehr schafft, wäre es hier die Aufgabe der beiden Qualitätsjournalist*innen vom Hamburger Nachrichtenmagazin gewesen, dem löchrigen Gedächtnis des grünen Bellizisten auf die Sprünge zu helfen und ihn entlang der klassischen psychoanalytischen Guideline "Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten" geduldig dabei zu unterstützen, seinen offenbar tief verdrängten (gar abgespaltenen?) Anteil an des wiedervereinten Deutschlands erstem – und noch dazu, wie Fischers damaliger Chef Gerhard Schröder Jahre später unumwunden einräumte, völkerrechtswidrigem – Waffengang, und zwar gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999, wieder ins Bewusstsein zu rufen. Nicht schlecht wäre es auch gewesen, Fischer bei dieser Gelegenheit mit dem gebotenen therapeutischen Taktgefühl behutsam an seinen damaligen mehr als abwegigen Auschwitzvergleich, mit dem er seine grüne Basis in den Krieg gelockt hatte, zu erinnern. – Doch nichts dergleichen, der Spiegel gab sich handzahm wie immer!
Auf der von ihnen vorgegebenen Welle kongenial mitsurfend, apportierten von Hammerstein und Hoffmann nun brav das nächste fällige Stichwort: "Wie sollte Europa auf eine solche Drohgebärde" – gemeint war selbstverständlich immer noch das gerade beendete russische Manöver – "reagieren?" Was Fischer endlich die Gelegenheit gab, vollends in heiligen Zorn auszubrechen und leidenschaftlich für das Aus von Nord Stream 2 als "klares Signal" zu poltern: "Was soll denn noch passieren, bevor Europa endlich auf die russische Aggression antwortet?" Und der Transatlantiker von der FDP assistierte: "Angeheizt hat den Konflikt doch Russland mit der Verlegung großer Verbände an die ukrainische Grenze. Deshalb muss die Bundesregierung dem Kreml klarmachen, dass wir da sehr genau hinschauen und er einen Preis dafür zahlen wird, wenn die Lage in der Ostukraine eskaliert." Aber das wäre für den Grafen nicht etwa nur der Baustopp für Nord Stream 2. Ominös raunend brachte er noch "weitere Sanktionen" ins Spiel, die er – vorerst – nicht näher ausführte.
Nochmals: Die zeitgleichen NATO-Manöver, zum Teil unmittelbar an Russlands Westgrenze, wie die Tatsache, dass Minsk II, für dessen Umsetzung es seit über sechs Jahren keinen Finger krumm machte, für Kiew offenbar erledigt ist, weshalb es sich jetzt für berechtigt hält, mit westlicher Militärhilfe seinerseits vor Donezk und Lugansk "mit dem Säbel zu rasseln" – all dies scheint den vier Anwesenden völlig unbekannt zu sein. Was allerdings auch kein Wunder ist, sollten sie ihre Weltsicht lediglich aus dem Medium beziehen, das dieses Interview gerade zelebriert!
Hauptsache, Nord Stream 2 muss dran glauben.
"Selbstfesselung", "Nadelstiche" und "Treffen, wo es wirklich wehtut"
"Sollte der Westen rote Linien ziehen?", fragt der Spiegel. Der erfahrene Staatsmann warnt: "Nein, denn rote Linien bedeuten immer eine Selbstfesselung der eigenen Politik."
Womit Fischer seinem FDP-Kollegen endlich das fällige Stichwort geliefert hat. Als befände er sich nicht im postmodernen Spiegel-Tempel, sondern in einer BDSM-Session, springt die männliche Domina Lambsdorff wie von der Tarantel gestochen auf und holt nun die Lederpeitsche aus der Folterkammer: "Wir müssen deutlich machen, dass die aktuell ja sehr zurückhaltende Sanktionspolitik der Nadelstiche gegen einzelne Personen und einzelne Wirtschaftszweige nur so lange ausreicht, wie Russland die territoriale Integrität der Ukraine nicht noch weiter verletzt. Andernfalls müsste es um den Finanzsektor und die Gasexporte gehen. Wir müssen Russland dort treffen, wo es wirklich wehtut."
Der Mann scheint sich auszukennen: Nur "wehtun" reicht ihm längst noch nicht, "wirklich weh" muss es tun – und zwar nicht irgendwo, sondern zielgenau an den "dolorgenen Zonen"! Unwillkürlich fragt man sich, ob der ehemalige Vizepräsident des Europäischen Parlaments nicht doch seine eigentliche Berufung verfehlt hat, als er einst beschloss, Politiker zu werden …
Der Spiegel jedenfalls nimmt diese bizarre Formel dankbar entgegen und setzt sie prompt als Überschrift über das gesamte Interview. Affirmativ – nicht kritisch, wohlgemerkt!
Halten wir inne, es reicht! Man muss sich nicht alles antun. Wer nur den Anfang dieses Elaborats gelesen hat, dem ist klar, was uns blüht, sollten diese beiden Männer demnächst Regierungsberater werden oder gar aktiv Politik betreiben. Aber wer weiß: Vielleicht kriegen die Grünen das ja auch ohne externe Beratung hin!
Äußerungen ihrer sympathischen Kanzlerin-Kandidatin lassen da wenig Zweifel aufkommen.
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