Nur ein Sofa für Ursula von der Leyen: Türkisches Sofagate oder hat die EU das Protokoll verlernt?
von Thomas Sladko
"Ähm", "Sofagate", "diplomatisch düpiert", so lauteten die Kommentare von Ursula von der Leyen selbst bzw. vom Spiegel und anderen Medien bezüglich des Besuches der EU-Kommissionspräsidentin zusammen mit dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Doch was passierte genau? Im Folgenden eine Analyse des ehemaligen Vize-Protokollchefs des österreichischen Kanzleramtes Thomas Sladko.
Es ist selten, dass die protokollarischen Abläufe eines offiziellen Besuchs viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Das Protokoll arbeitet normalerweise im Hintergrund, und Protokollprofis neigen dazu zu sagen:
"Das Protokoll wird nur gesehen, wenn es versagt."
Was kürzlich während des Besuchs des Präsidenten des Europäischen Rates und der Präsidentin der Europäischen Kommission in der Türkei geschah (und wobei Gastgeber der Präsident der Republik Türkei als eines souveränen Landes war), hat das öffentliche Interesse am Protokoll beflügelt, wie dieses Zitat aus der Times veranschaulicht:
"Es existiert ein Video, in dem Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, ihren Unmut darüber zeigt, dass ihr ein Stuhl neben Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates, bei einem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan vorenthalten wurde. Das hat eine Debatte über das Protokoll, Frauenrechte und ob sie absichtlich brüskiert wurde ausgelöst. Beim Besuch der EU-Delegation in Ankara wurden nur zwei Stühle am oberen Ende des Raumes aufgestellt, die schnell von Michel und Erdoğan besetzt wurden. Das offiziell kursierende Video zeigt, dass von der Leyen auf die Männer zuging, als diese sich setzten, "ähm" sagte und ihre Arme scheinbar verärgert gestikulieren ließ. Sie nahm dann auf einem Sofa an der Seite Platz."
“Uhm …” Ursula von der Leyen, president of the European Commission, stood stunned. As President Recep Tayyip Erdogan of Turkey and Charles Michel, president of the European Council, sat in their gilded seats for a photo op, there was no chair for her. https://t.co/NaUlY8G7gFpic.twitter.com/RZ3ir7K3KF
— The New York Times (@nytimes) April 7, 2021
Hat das Protokoll versagt?
Das Video wurde mir am Morgen des 7. April 2021 bekannt, und ich wurde von Euronews gebeten, eine protokollarische Analyse zu erstellen. Ich muss festhalten, dass meine Beobachtung nur auf verfügbaren offenen Quellen, Bildern und einem recht kurzen Video von 1 Minute und 20 Sekunden auf Youtube über den genannten Vorfall beruht.
Daher habe ich keine Kenntnisse über den gesamten Kontext, aber ich habe ein Bewusstsein für die Rahmung und die Verkürzung, die eine solche Analyse auf Distanz mit sich bringt. Weiterhin möchte ich erwähnen, dass das Interview etwa 15 Minuten dauerte und lediglich 20 Sekunden des gesamten Inhalts veröffentlicht wurden. Nach all dem möchte ich nun einen etwas detaillierteren 'protokollarischen' Blick auf das Szenario werfen:
1. Die Schuld dem Protokoll geben
Seit jeher neigt das Protokoll dazu, die Schuld auf sich zu nehmen, wenn bei einer offiziellen Veranstaltung oder einem Staatsbesuch etwas nicht gut läuft. Diese Tatsache ist nichts Neues und Teil des Protokollberufs und war schon immer eine unbequeme Wahrheit für jeden Protokollbeamten, der versucht, gute Arbeit zu leisten:
Wenn der offizielle Besuch reibungslos verlaufen ist, so ist es die (politische) Führung, die den Dank für die perfekte Organisation erntet. Nimmt die Öffentlichkeit den Rahmen falsch wahr, hat die kommunikative Botschaft nicht das gewünschte Ergebnis erzielt oder ist gar ein Fehler passiert, wird sofort das Protokoll verantwortlich gemacht.
Einer meiner ehemaligen Chefs erzählte mir von der Tatsache, dass die öffentliche Meinung manchmal einen Sündenbock braucht. Diese Rolle wird – vor allem im hochsensiblen politischen Bereich – an das Protokollpersonal abgegeben.
2. Kein "Gender" im Protokoll
Es zeigt sich, dass die aktuelle Diskussion in die Richtung einer Diskussion über Frauenrechte abdriftet oder gar die Tatsache, dass die derzeitige Präsidentin der Europäischen Kommission eine Frau ist, nicht respektiert würde. Eine der Hauptfunktionen des Protokolls basiert jedoch auf dem Respekt gegenüber der Institution, die die jeweilige Person repräsentiert. Das Geschlecht spielt unter diesem Gesichtspunkt eine untergeordnete Rolle.
Knigge-Trainer würden dieser Tatsache wahrscheinlich nicht zustimmen, aber als Protokollpraktiker, ehemalige Stellvertretender Protokollchef und Forscher kann ich sagen, dass das Geschlecht nicht immer ein Kriterium für die Rangordnung im Protokoll ist.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns ganz ehrlich fragen, ob die öffentliche Diskussion genauso verlaufen wäre, wenn statt Ursula von der Leyen José Manuel Barroso auf dem Sofa gesessen hätte.
3. Die Türkei zeigte Respekt und protokollarische Professionalität
Man konnte gut beobachten, wie die Hauptsymbole des Protokolls – die Flaggen – für die Öffentlichkeit zu sehen sind.
Sehr wichtig zu beachten ist die Tatsache, dass – obwohl die Flagge der Republik Türkei standardmäßig höherrangig ist als die Flagge der Europäischen Union (die Flagge einer beliebigen Nation nämlich höherrangig ist als die Flagge einer politischen und wirtschaftlichen Union) – die Türkei dennoch der EU-Flagge die höherrangige Seite (die rechte Seite neben der türkischen Flagge) zugestanden hatte. Dies verdeutlicht den Respekt gegenüber dem Ehrengast und auch die protokollarische Professionalität.
4. Sitzordnung – nicht EU-konform?
Die Sitzordnung, die das türkische Protokoll verwendet, da es weiß, dass die Türkei ein souveräner Staat und keine multilaterale Organisation ist, ist im Nahen Osten und in Lateinamerika sehr üblich. Und sie wird in den meisten Fällen aus einem einfachen Grund gewählt: Sie bietet dem Gastgeber (in unserem Beispiel dem Präsidenten Erdoğan) die Möglichkeit, den höchstrangigen Vertreter der ankommenden Delegation (in unserem Beispiel den EU-Ratspräsidenten Charles Michel) zu seiner rechten Seite zu haben, also auf der Ehrenposition. Ein ganz wichtiges Detail, das nicht vergessen werden darf, ist die Tatsache, dass vor Ursula von der Leyen in ihrer Funktion als Präsidentin der Europäischen Kommission – ihr gegenüber also – der Außenminister der Türkei Mevlüt Çavuşoğlu Platz genommen hatte (der ebenfalls auf einem Sofa saß).
Warum sollten wir also glauben, die Sitzordnung wäre in COVID-Zeiten nicht gut gewählt – sowohl angesichts der Distanzierungspflichten als auch gemäß dem offiziellen Protokoll des Gastgeberlandes? Der Grund ist, dass wir einfach dazu neigen, das Setting aus einer europäischen Perspektive zu betrachten. Und wir sind eher an runde oder rechteckige Tische gewöhnt, an denen beide Delegationen nebeneinander sitzen oder sich gegenübersitzen.
5. Die Planungsteams taten ihr Bestes
Auf dieser höchsten Ebene der Besuche ist nichts zufällig. Wie wir alle wissen, gibt es keine zweite Chance im Protokoll, und deshalb bin ich zu 100 Prozent davon überzeugt, dass ein Planungsteam der Protokollabteilung sowohl des Europäischen Rates als auch der Kommission den Veranstaltungsort mindestens einmal im Voraus besucht und die kleinsten Details des Besuchs besprochen hat. Ich persönlich arbeitete mehrmals mit dem staatlichen Protokollteam der Türkei zusammen und weiß, dass sie tatsächlich hochprofessionell vorgehen und Informationen mit ihren Gästen teilen. Daher bin ich mir sicher, dass das Team im Vorfeld über die geplante Sitzordnung Bescheid wusste und genug Zeit hatte, um sie zu hinterfragen, ihre Bedenken zu äußern oder sie sogar zu ändern. Da sie keine Bedenken geäußert haben, ging das türkische Gastgeberprotokoll davon aus, dass die ankommende Delegation die Anordnung genehmigt hat.
6. EU-Protokoll vs. Türkisches Protokoll
Das Protokoll der Europäischen Union ist in der Tat eine sehr geradlinig handelnde und pragmatische Veranstaltungsorganisation. Das Protokoll bei der Europäischen Union hat nichts mit einem Zeremoniell zu tun und ist hauptsächlich auf den "Arbeitsaspekt" und das "Arbeitsimage" fokussiert.
Alle grundlegenden internationalen Protokollregeln, die über Jahrhunderte als Teil der Diplomatie betrachtet wurden, sind auf das absolute Minimum reduziert: Geschenkaustausch, Kostenübernahme und Gegenseitigkeit, militärische Ehren, rote Teppiche, Orden usw. wurden reduziert oder ganz abgeschafft. Das EU-Protokoll könnte annehmen, dass diese Symbole und Gesten nutzlos, zu zeitaufwendig und antiquiert für die EU-Institutionen sind. Folglich haben die europäischen Institutionen nicht sehr in das Protokollpersonal und in die Ausbildung ihres Protokollpersonals investiert. Eine protokollarische Ausbildung bedeutet jedoch nicht nur, dass man weiß, wie man eine Veranstaltung organisiert, sondern auch, dass man über eine diplomatische Ausbildung, Soft Skills, interkulturelle Intelligenz und Sprachkenntnisse verfügt. Viele Jahre lang wurden die Protokollabteilungen der EU zu "Veranstaltungsabteilungen" degradiert.
Die Organisatoren führten einfach hochbürokratisch jeden Besuch ausländischer Würdenträger durch, ohne Rücksicht auf deren Status und unter Missachtung der kulturellen Hintergründe. Dies hat verschiedene Gründe (z.B. hatte die Finanzkrise von 2009 einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung über die für Repräsentation ausgegebenen EU-Gelder etc.) und führte dazu, dass das Protokoll für Veranstaltungen gekürzt wurde und sich hauptsächlich auf Pressekonferenzen und Sicherheitsmaßnahmen konzentriert.
Andererseits ist sich das türkische Protokoll der immensen Macht der Symbolik bewusst und praktiziert das Protokoll infolgedessen als Instrument der Repräsentation. Die Verantwortlichen würden es nicht akzeptieren, einen offiziellen Besuch zu einer Veranstaltung herabzustufen, die die grundlegenden internationalen Regeln im Protokoll ignoriert. Ihre Aufgabe ist es, alles zu tun, um die Repräsentanten ihres Landes im Rampenlicht der Öffentlichkeit am besten aussehen zu lassen und zugleich ein guter Gastgeber für ankommende Delegationen zu sein.
Wenn also diese ganz unterschiedlichen Herangehensweisen an das Protokoll aufeinandertreffen, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Ungeachtet der Tatsache, dass ich fachlich keinen wesentlichen Protokollfehler erkennen konnte, bin ich überzeugt, dass für das nächste Treffen (das zwischen der EU und der Türkei stattfinden wird) das Protokoll ein etwas anderes Szenario für die Sitzordnung wählen wird, beispielsweise einen runden Tisch.
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Zum Autor: Thomas Sladko kennt sich mit diplomatischen Gepflogenheiten bestens aus und leitet das Institut ISPD Protocol & Diplomacy.
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