Meinung

Steinmeiers "Waterloo" – Der ukrainische Botschafter und sein Feldzug gegen den Bundespräsidenten

Eine Welle der Entrüstung kam diese Woche über den Bundespräsidenten – ausgelöst von einem Kommentar des ukrainischen Botschafters. Steinmeier habe "schamlos" die ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkrieges vernachlässigt. So wird ein Sturm im Wasserglas produziert.
Steinmeiers "Waterloo" – Der ukrainische Botschafter und sein Feldzug gegen den BundespräsidentenQuelle: www.globallookpress.com

von Wladislaw Sankin

"Steinmeiers Waterloo" – so nannte die Frau des ukrainischen Botschafters Andrei Melnyk, Swetlana Melnyk, ihren Bericht auf Facebook. In ihrem Text fasste sie den medialen Coup des Tages zusammen, der Melnyk kurzzeitigen Ruhm beschert hatte. Die "kaiserliche" Parallele zum besiegten Imperator Napoleon bedeutete, dass auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Schlacht verlor – gegen ihren Mann, einen einfachen Botschafter. Frau Melnyk frohlockte:

"Der Tag beim Bundespräsidenten Steinmeier war richtig heiß."

Wie konnte ein Botschafter einen Präsidenten besiegen – den Präsidenten des mächtigsten EU-Landes wohlgemerkt, der in seiner früheren Eigenschaft als Außenminister im Heimatland des Botschafters beim Maidan-Machttransfer als eine Art "Geburtshelfer" der jetzigen ukrainischen "Demokratie" mitwirken durfte? Und nun?

Mit der Hilfe deutscher Medien ist auch das möglich! Das ganze Posting der Botschaftergattin war ein großer Dankesbrief an die deutschen Medien. Diplomatische Schnörkel beiseite lassend, schrieb sie triumphierend:

"Ich möchte glauben, dass nach diesem Informationsangriff der Ukraine, unterstützt – Gott sei Dank – von vielen einflussreichen Journalisten, Historikern und Experten in der BRD, bei den deutschen Politikern der Appetit, die Ukraine offen zu verachten und unsere nationalen Interessen zu ignorieren, für immer verschwinden wird!"

Mit anderen Worten: Wer sich ukrainischen Interessen in den Weg stellt, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Die Frau des Botschafters stellte stolz ihre Trophäen zur Schau – die Schlagzeilen aus der deutschen "Qualitätspresse" – und bewertete, wer sich von den deutschen Journalisten am eifrigsten mit der Ukraine solidarisiert hatte. Zwei Autoren zeichnete Swetlana Melnyk besonders aus – den Chefkorrespondenten für Außenpolitik der Welt, Clemens Wergin, der Steinmeier "intellektuelle und moralisch beschämende Geschichtsklitterung" vorwarf, und den Autoren des Hauptnachrichtenprogramms des Deutschlandfunks, Klaus Remme. Steinmeier sei auf dem diplomatischen Parkett gestolpert und habe "tiefe Kratzer" hinterlassen, so Remme.

Minutiös zählt Swetlana Melnyk die gesamte Publikumszahl aller Veröffentlichungen zusammen – 20 Millionen Leser, Zuschauer und Zuhörer! Jeder vierte Deutsche durfte also am 9. Februar Zeuge dieser beispiellosen Attacke auf den Bundespräsidenten werden.

Aber was hat Frank-Walter Steinmeier verbrochen, dass ihm nun laut der Botschaftergattin zur Strafe der Appetit vergehen muss? Womit entfachte er den Zorn Melnyks und seiner deutschen Unterstützer? Im Interview mit der Rheinischen Post erinnerte Steinmeier an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion, der sich am 22. Juni zum 80. Mal jährt – RT DE  berichtete. "Mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Das rechtfertigt kein Fehlverhalten in der russischen Politik heute, aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren."

Nach Meinung des Botschafters beleidige Steinmeier durch die Nichterwähnung der Millionen ukrainischen Opfer des Krieges die Ukraine. "Die Äußerungen vom Bundespräsidenten Steinmeier haben uns Ukrainer tief ins Herz getroffen", schrieb er in einer Stellungnahme für dpa am 8. Februar. Die "fragwürdigen historischen Argumente" zur Unterstützung des Milliardenprojekts mit Russland seien in Kiew "mit Befremden und Empörung" aufgenommen worden, so Melnyk weiter, der auf das Erdgasprojekt Nord Stream 2 anspielte. Steinmeier habe Russland mit der Sowjetunion gleichgesetzt und damit "die unglaublichen Leiden anderer Völker der UdSSR in den Jahren der Nazi-Tyrannei völlig ignoriert".

Um beim Schlacht-Vergleich zu bleiben: Zur Erwiderung dieser Anschuldigungen wurde aus dem Bundespräsidialamt am 9. Februar nur eine kurze Salve abgefeuert. "Der Vorwurf stößt im Bundespräsidialamt auf völliges Unverständnis. Der Text des Interviews spricht für sich." Dieses karge Statement ging natürlich angesichts der Welle der medialen Empörung fast völlig unter.

Das Wehklagen des ukrainischen Botschafters wurde dagegen in den deutschen Medien hundertfach multipliziert. Es ertönte kein einziger Laut der Kritik, nicht einmal am anmaßenden Verhalten gegenüber dem ranghöchsten Vertreter seines Gastlandes. Und vor allem achtete niemand von FAZ, Süddeutsche Zeitung, Welt, ZDF, Spiegel, RTL und Stern darauf, ob Steinmeier tatsächlich jemanden in Kiew empört hatte.

Denn aus Kiew kam in all den Tagen nach dem Steinmeier-Interview kein Ton. Weder das Außenministerium noch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij kommentierten das Interview des Bundespräsidenten. Auch vom ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, war nichts zu hören. Die riesige Medienkampagne, laut Botschaftergattin "die Nachricht des Tages", war damit nichts anderes als ein künstlich aufgebauschter Sturm im Wasserglas, der nur auf einem Botschafterzitat basierte.

Mehr noch, vom Parlament konnte auch kein Ton kommen, denn es ist bekannt, welche Auffassung Parlamentspräsident Dmitri Rasumkow zu den vermeintlich strittigen Opfer-Fragen hat. Im Oktober interviewte ausgerechnet Die Welt Rasumkow ausführlich. Bei der Kampagne gegen Steinmeier steht das Axel-Springer-Blatt an vorderster Front. Im Gespräch mit Rasumkow ging es um Erinnerungspolitik und ukrainische Opferdiskurse (warum eigentlich?). Der Korrespondent versuchte mit allen Mitteln, Rasumkow irgendein knackiges Zitat zu entlocken, nur sollte die Kritik damals nicht Steinmeier, sondern Außenminister Heiko Maas gelten. Doch der Politiker der Selenskij-Partei klang moderat:

"Es ist falsch zu vergleichen, wer in dem Krieg wie viele Opfer zu beklagen hatte."

Die Welt gab aber nicht auf und legte immer wieder nach:

WELT: Es geht ja nicht um Vergleiche, sondern um Differenzierung. In einem Beitrag zum 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai diesen Jahren schrieb der deutsche Außenminister Heiko Maas im 'Spiegel' pauschal von den Opfern der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Die Ukraine wurde nicht einmal erwähnt. Ihr Botschafter reagierte empört. Ist das auch etwas für Fachleute?

Rasumkow: Ja, auch das ist Sache der Fachleute. Die Historiker haben längst sehr klar nachgewiesen, wie viele Opfer es in der Ukraine gab. Das wurde schon alles bewiesen und auch von beiden Seiten anerkannt. Warum Heiko Maas pauschal von sowjetischen Opfern spricht, müssen Sie ihn selbst fragen.

Die Welt titelte: "Ukrainischer Parlamentspräsident: Warum Heiko Maas von sowjetischen Opfern spricht, müssen Sie ihn selbst fragen". Die so erwünschte Kritik blieb dann doch zumindest im Unterton versteckt enthalten. Warum also jetzt Kiew fragen, wenn es den ukrainischen Botschafter gibt?

Zudem agiert Melnyk ohnehin seit Jahren als selbständiger Akteur, der die ganze deutsche politische Klasse mittlerweile wie ein osteuropäischer Generalgouverneur behandelt. Alle Politiker, die im Verdacht stehen, ukrainischen Interessen zu schaden, bekommen von ihm sofort einen "diplomatischen" Anpfiff. Die Befürworter des Pipelineprojektes Nord Stream 2 greift er offen an, zuletzt waren es Manuela Schwesig und Altkanzler Gerhard Schröder. Auch der neue CDU-Chef Armin Laschet stand bei ihm im Verdacht, zu "prorussisch" zu sein, ehe Laschet ihn in einem Interview "beruhigte"

Auf den Bundestag übt Melnyk permanent Druck aus, damit der eine aus seiner Sicht positive Entscheidung zu einem separaten Denkmal für ukrainische Opfer des Zweiten Weltkrieges und die Anerkennung der Hungersnot der 1930er-Jahre als Genozid gegen das ukrainische Volk treffen möge. Auch deutsche Historiker bleiben nicht verschont. Nach einem der Skandale um Melnyk bezeichnete der Leiter der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission Dr. Prof. Martin Schulze-Wessel dessen Vorgehen als einen "eklatanten Angriff auf die Autonomie der wissenschaftlichen Arbeit". Schulze-Wessel war so empört, dass er etwas von den Droh-SMS des Botschafters an ihn veröffentlichte:

AfD-Politikern und sonstigen deutschen Bürgern, die auf die Krim reisen – wie etwa Mitgliedern der Technoband Scooter –, drohte Melnyk mit strafrechtlicher Verfolgung in der Ukraine. Bei allen seinen Aktionen kann er voll und ganz auf die wohlwollende Unterstützung der deutschen Presse setzen.

Warum ist das so? Welche Saiten der journalistischen Seele kann Melnyk so treffsicher zum Schwingen bringen? Von allen osteuropäischen Diplomaten kann offenbar ausgerechnet Melnyk am geschicktesten in die Opferrolle schlüpfen und bei den Deutschen Beschützerinstinkte hervorrufen. Er wird wegen der besonderen historischen Verantwortung vor ... dem "imperialistischen" Russland "bschützt".

Die "Beschützer" wollen dabei nicht wahrhaben, dass derjenige, der heute am lautesten über Nazi-Tyrannei schreit, noch gestern den bekanntesten Führer der ukrainischen Nationalisten, Stepan Bandera, als "Helden der Ukraine" würdigte und in München höchstpersönlich dessen Grab mit einer Kirchenzeremonie weihen ließ. Bandera kooperierte mit den Nazis und wollte zusammen mit Hitler ein faschistisches neues Europa gegen die sozialistische Sowjetunion errichten. Banderas Anhänger waren für zahlreiche Massaker während des Zweiten Weltkrieges verantwortlich. Und sie fielen – die Nazi-Invasoren unterstützend – der befreienden Roten Armee in den Rücken und töteten neben Russen, Polen und Juden auch die Ukrainer, die auf der "falschen Seite" waren. 

Natürlich wird Melnyk in seinen moralisierenden Statements niemals erwähnen, dass die Ukraine nach dem Staatsstreich im Februar 2014 sich selbst des sowjetischen Erbes entledigte und den Sieg über den Nazismus nicht mehr als solchen anerkennt. Und dies auch symbolisch – das öffentliche Zeigen der Siegerinsignien ist in der Ukraine verboten. Stattdessen werden auch die blutigsten Nazi-Helfer als Kämpfer für die Unabhängigkeit gewürdigt und mit Straßennamen und Gedenktafeln geehrt. Inzwischen ist die Ukraine zum Tummelplatz für Rechtsradikale aus aller Welt geworden, sodass sogar ihre Hauptschutzmacht, die USA, sich darüber Sorgen macht.

Botschafter Melnyk weiß, dass seine willfährigen Helfer in den deutschen Redaktionsstuben viel lieber ihren eigenen Präsidenten wegen vermeintlicher Geschichtsklitterung zur medialen Schlachtbank führen, statt dem Botschafter unbequeme Fragen zum ukrainischen Umgang mit der Geschichte zu stellen.

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