Meinung

Die Ikone Nawalny: Eklatantes Beispiel von Doppelstandards in Politik und Medien

Der Berichterstattung zufolge scheint es derzeit weltweit vor allem einen relevanten Fall eines vermeintlich unrechtmäßig Inhaftierten zu geben, dessen Mitstreiter ebenfalls von einem feindlich wirkenden Staat unterdrückt werden. Dabei ist die Welt so viel größer.

von Anna Belchow

In Russland, Deutschland und weit darüber hinaus kennt wohl jeder den Namen des "Kremlgegners" Alexei Nawalny und mittlerweile auch den seiner Ehefrau und einiger Mitstreiter, die vermeintlich willkürlich und zu Unrecht von einer feindselig wirkenden Staatsmacht unterdrückt werden – so das Bild, das zahlreiche Medien über den prominenten Oppositionellen zeichnen. Ein mutiger Mann kämpft gegen eine ungerechte Regierung, wurde von dieser über Umwege jedenfalls irgendwie beinahe vergiftet und hätte für seinen Gerechtigkeitssinn fast mit dem Leben bezahlt, lautet die oftmals unkritisch von zahlreichen Medien wiedergekäute Erzählung. Umso empörender demnach, dass Menschen, die mit ihm und für ihn – also gegen das Unrecht – auf die Straßen gehen, dafür von derselben kruden Staatsgewalt auch noch daran gehindert werden. Unterdrückung pur, schreit es aus diesen Berichten, darüber gern die Überschrift "Putin ist ein Dieb", weil es das ist, was dieser unterdrückte Held behauptet – auch wenn seine Version zunächst nur eine Unterstellung war und als solche entlarvt wurde.

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Auch in Hongkong, Syrien, Venezuela und vor allem Weißrussland gibt es demnach Oppositionelle, einige davon prominent wie Rockstars, als Ikonen der Freiheit und Selbstlosigkeit international hofiert oder gar von Parteien fremder Länder offiziell zu hochrangigen Veranstaltungen eingeladen, als hätten sie ein Mandat inne.

Doch wie sieht es abseits des Medienfokus vor unserer eigenen Haustür aus? Gerade NATO-Vertreter, die sich mitunter am lautesten gegen dieses "Unrecht" im medial gefestigten Rahmen schwarz-weißer David-gegen-Goliath-Erzählungen empören, wenn die Protagonisten russische oder weißrussische Namen tragen, scheinen in ihrem Gerechtigkeitsstreben zahlreiche, teils massive blinde Flecken zu haben.

Um hier keine selektive oder gar politisch motivierte Vorgehensweise zu unterstellen, soll dieser Überblick nur wenige Ergänzungen anbieten. Gewiss könnte ein umfassenderes Bild, das Kriegsverbrechen einschließen würde, zahlreiche Bände füllen, doch soll dies nur ein Anfang sein, um wenige, offenbar von den dominanten Medien und der Politik übersehene Beispiele zu beleuchten.

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Stabile Südostflanke

Wie die Bundesregierung mitteilt, wertete Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ein Treffen mit ihrem türkischen Amtskollegen am 2. Februar in Berlin als ein "besonderes und gutes Signal unter Verbündeten". Schwierige Themen seien im persönlichen Gespräch angesprochen worden. Medienberichten war vergleichsweise wenig darüber zu entnehmen, dass die türkische Polizei erst zu Beginn dieser Woche mit Wasserwerfern gegen junge Menschen vorgegangen war, die in Istanbul friedlich gegen die Verhaftung von zwei ihrer Kommilitonen protestiert hatten, über 150 Studenten waren festgenommen worden.

Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wurden 37.000 angebliche Verschwörer inhaftiert, 2.800 Mitglieder der prokurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) wurden verhaftet. Leyla Güven, ein Mitglied der HDP, wurde erst kurz vor Weihnachten von einem türkischen Gericht wegen Terrorismusvorwürfen zu mehr als 22 Jahren Haft verurteilt. Die Anwältin Ebru Timtik war eine von mehreren Oppositionellen, die im vergangenen Jahr in der Haft verstorben war, als sie versucht hatte, mit einem Hungerstreik ein gerechtes Verfahren durchzusetzen. Ihre Namen sind den meisten Menschen, anders als der Nawalnys, wohl kein Begriff.

Die zahlreichen inhaftierten Oppositionellen in der Türkei sind eher Randnotizen in den hiesigen Medien. Bessere Chancen haben sie, sofern es sich um Deutschtürken oder Türken im deutschen Exil handelt, immerhin wird dies öffentlich, wenn auch längerfristig, eher von teils marginalen Kulturprogrammen aufgegriffen. Darüber hinaus sind es eher von Leitmedien geschasste Linken-Politiker, die sich des Themas annehmen. Dabei sitzen in der Türkei mehr als 150 Journalisten in Haft, kritische Stimmen und friedliche Proteste werden systematisch unterdrückt, Zehntausende Oppositionelle ins Abseits oder direkt in die Haft befördert, während Deutschland den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan hofiert und für Menschenrechtsverletzungen Verantwortliche mit Waffen und Spionageinstrumenten versorgt.

Kaum der Rede wert: Exzessive Gewaltanwendung und Geheimpolizei

Kritisch kommentieren den einseitigen medialen Fokus auf weißrussische oder russische Proteste auch immer wieder Spanier. Im Land sitzen zahlreiche politische Gefangene in Haft. Erst Ende Januar gewährten katalanische Behörden acht inhaftierten Politikern ein Stück mehr Freiheit, diese müssen nun "lediglich" von Montag bis Donnerstag im Gefängnis übernachten – jedoch kann die Staatsanwaltschaft diese Teil-Freiheit noch anfechten und beantragen, dass die katalanischen Politiker ganz ins Gefängnis zurückgebracht werden, bis der Oberste Gerichtshof eine endgültige Entscheidung trifft. Ihr "Vergehen" umfasst den spanischen Behörden zufolge unter anderem Aufwiegelung, weil sie im Jahr 2017 ein Referendum zugunsten der Unabhängigkeit Kataloniens unterstützten. Während die Bevölkerung massenhaft für die Unabhängigkeit stimmte, lehnten die spanischen Behörden den Wahlprozess und die Ergebnisse ab.

Neun katalanische Politiker wurden infolgedessen vor Gericht gestellt und zu neun bis 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Zivilgesellschaft organisierte auch im Corona-Jahr 2020 mehr als 90 überwiegend friedliche Proteste, um die Unabhängigkeit Kataloniens zu fordern und die Freilassung der katalanischen Führer aus dem Gefängnis zu verlangen. Davon erfährt die Öffentlichkeit hier jedoch vergleichsweise wenig bis gar nichts.

Medial vergleichsweise unterbeleuchtet dürfte hierzulande beispielsweise der Fall Laura Solé sein, obwohl dieser – man stelle sich dies einmal in Russland vor – Menschenrechtsverfechtern genug Gründe gibt, auf die Barrikaden zu gehen.

Wegen ihrer Teilnahme an Protesten gegen die Inhaftierung katalanischer Politiker wurde die junge Frau im Oktober 2019 in Tarragona offenbar von der Geheimpolizei "überrascht", an den Haaren über den Bürgersteig gezerrt und dann abgeführt – ein Vorgang, der eher nach mafiösem Kidnapping als nach sauberen Vorgängen in einem Rechtsstaat klingt. Obwohl diese "Verurteilung" auf offener Straße per Video aufgezeichnet wurde, scheint sich die Empörung außerhalb Spaniens darüber jedoch vergleichsweise in Grenzen zu halten.

Auch die jüngste Verurteilung eines Künstler, des Rappers Pablo Hasél, wegen angeblicher "Verherrlichung des Terrorismus, Beleidigung der Krone und staatlicher Institutionen", die mit einer mehrjährigen Haftstrafe einhergehen könnte, scheint hierzulande nicht einmal erwähnenswert, obwohl doch politische Grundrechte andernorts unbedingt von höchster Stelle durchzusetzen sind.

Dabei hat auch der Europarat angemerkt, dass die Meinungsfreiheit in Spanien durch die übermäßige Anwendung der Antiterrorgesetzgebung bedroht ist, und dies zeigt sich in zahlreichen Urteilen gegen Künstler. Mit dem entsprechend getauften "Maulkorbgesetz" von 2015 wurde in Spanien das Versammlungs- und Demonstrationsrecht massiv einschränkt, Verstöße dagegen sind mit Bußgeldern bis zu 30.000 Euro belegt. Sogar Scherze über ehemalige Würdenträger der Diktatur des 1975 verstorbenen Generals Francisco Franco werden in Spanien verfolgt, wie auch das Dokumentieren von Polizeieinsätzen.

Auch Frankreichs Regierung bekam hierzulande bisher vergleichsweise wenig mediale Schelte ab, obwohl dafür nach Maßstäben, die an Russland angesetzt werden, mehrfach in den vergangenen Jahren genügend Anlass bestanden hätte. Die Anlässe wurden jedoch irgendwie übersehen, selbst nachdem die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der UNO, Michelle Bachelet, eine "vertiefte Untersuchung zu Berichten über Fälle exzessiver Gewaltanwendung" durch die Sicherheitskräfte bei den Gelbwestenprotesten forderte.

Dabei hat es in unserem Nachbarland in den vergangenen drei Jahren beinahe 1.000 Verletzte und mehrere Tote durch Polizeigewalt gegeben. Auch das Ansinnen der Regierung Macrons, mit dem "Gesetz für globale Sicherheit" die Überwachung der Bürge­r durch Drohnen zu ermöglichen und Aufnahmen von Sicherheitskräften – auch für Journalisten – unter Strafe zu stellen, wäre andernorts gewiss als autoritär verschrien worden, auch die UNO kritisierte dies. Eine Flutwelle an Medienberichten, in denen die Politik der französischen Regierung kritisiert wird, ist jedoch ausgeblieben.

Hier könnte eine endlose Liste folgen

Ausgerechnet Washington, unser großer NATO-Partner, schreibt sich selbst die moralische Überlegenheit zu, mit dem Finger auf Moskau oder Peking zu zeigen, obwohl die USA sich bereits so häufig für diese Rolle unglaubwürdig gemacht haben, dass es wohl den Umfang dieser Webseite sprengen würde, Einzelfälle namentlich aufzulisten.

Während auch vermeintlich kritische Medien und Sendungen notorischen Säbelrasslern beipflichten, indem sie die historisch hohe Summe des deutschen Rüstungsbudgets während einer allgemeinen Krise als unzureichenden NATO-Beitrag verhöhnen, ist vergleichsweise wenig über die Einzelschicksale der US-amerikanischen Menschenrechtsverstöße und Demokratiedefizite zu lesen und zu hören. Die zahlreichen unschuldig von der US-Regierung Inhaftierten, die sich im Gegensatz beispielsweise zu Nawalny gar nichts haben zu Schulden kommen lassen, die etwa achthundert Männer und Jungen, die seit 2002 in Guantánamo gehalten wurden, oder die über fünfhundert Kinder, die an der US-Grenze von ihren Eltern getrennt wurden, bleiben weitgehend namenlos, wenn sie in unseren Medien überhaupt Erwähnung finden. Den ikonenhaften Status eines Alexei Nawalny oder einer Swetlana Tichanowskaja verfolgen die Betroffenen wohl auch gar nicht. Für viele von ihnen wäre ein fairer Prozess schon ausreichend.

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Der Guantánamo-Insasse Ahmed Rabbani konnte seine Geschichte immerhin an eine gewisse Öffentlichkeit bringen. In seinem Bericht an die Menschenrechtsorganisation Reprieve, der am 22. Januar in der britischen Zeitung The Independent veröffentlicht wurde und sogar in einer Nachrichtensendung der Öffentlich-Rechtlichen Erwähnung fand, spricht er für das Schicksal Hunderter namenloser Jungen und Männer.

Seitdem er im Jahr 2002 als vermeintlicher Terrorist an den US-Geheimdienst übergeben wurde, hat der junge Vater nicht nur seine eigene Familie, seinen nunmehr 18-jährigen Sohn, nie zu Gesicht bekommen. Er wurde außerdem 540 Tage lang gefoltert, während der Terrorist, für den ihn die CIA gehalten hat, freigelassen wurde. Nach Jahren des Hungerstreiks fristet er ein elendes Dasein in der Zelle, während sein Kind und seine Frau ohne ihn in Armut leben müssen – kein Einzelschicksal, bis heute sitzen weiterhin Unschuldige seit zwei Jahrzehnten fest.

Während die Erzählung um Nawalny höchst umstritten ist, sind die vorsätzlichen Folterungen dieser Menschen seit Jahren bekannt, dennoch ist das eine ein Schlagzeilen-Thema, während das andere kaum auftaucht.

Die Liste ließe sich noch lange fortführen. Ein wohl bekannteres Beispiel der medialen und politischen Doppelstandards dürfte Julian Assange sein, der mit seiner Freiheit, seiner Würde und seiner Gesundheit dafür bezahlt, dass er als Journalist und Verleger Kriegsverbrechen offengelegt hat. Doch findet sein Fall weitaus weniger öffentliche Beachtung, auch schmückt sein Name keinen deutschen Parteitag, es waren eben Kriegsverbrechen von Verbündeten.

Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International betrachtet die Ablehnung des Kautionsantrags und die fortwährende Inhaftierung von Assange als willkürlich und sieht das Urteil des Londoner Gerichts vom 6. Januar als Zeichen dafür, dass der Umgang mit ihm politisch motiviert ist.

Forderungen gegenüber oder seitens der Bundesregierung, entsprechend Rechenschaft von London oder Washington zu verlangen oder gar Sanktionen zu verteilen, werden medial kaum transportiert. Auch die Unterdrückung von Pro-Assange-Protesten ist kein Thema. London hat jüngst Dutzende bei Januarkälte friedlich für die Freilassung des inhaftierten Assange Demonstrierende in Handschellen abführen lassen, darunter einen 92-Jährigen.

Einen öffentlichen Aufschrei in den Medien hat es nicht gegeben. Sein Name, wie auch das Schicksal zahlreicher anderer Menschen, wäre sicherlich bekannter, handelte es sich um "Kremlgegner".

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