Das zerbrochene Narrativ – Nawalny und die deutschen Medien
von Gert Ewen Ungar
Es war eine interessante Woche, denn in vielen Ländern Europas wurde demonstriert. Gehört haben viele sicher von den Protesten in Russland am Sonntag. Wer sich aufmerksam durch die Gazetten gekämpft hat, hat vielleicht noch von den Demonstrationen in Frankreich und Polen gelesen. Die Proteste gegen die Grundrechtseinschränkungen durch die Corona-Maßnahmen in Brüssel, Wien und Berlin haben es nur ganz am Rand in die Nachrichten geschafft. Auch die Landwirte, die fast eine ganze Woche in Berlin protestiert haben, waren den großen Medien ihrer Republik kaum eine Meldung wert. Den Landwirten ging es um faire Preise für ihre Produkte.
Eigentlich ein wichtiges Thema, das uns alle betrifft. Doch im Ranking der medialen Aufmerksamkeit findet sich das Anliegen der deutschen Landwirte ganz weit hinten. Das Anliegen des Bloggers Nawalny steht dafür ganz weit vorn. Es lautet, möglichst viele Menschen auf die Straßen der russischen Städte zu bringen – wofür oder wogegen bleibt dabei weitgehend unklar. Es geht insgesamt gegen Putin, das reicht dem deutschen Mainstream für eine ganz breite Berichterstattung aus.
Wer am Sonntagabend Spiegel Online gelesen hat, bekam den Eindruck, das Allerwichtigste seien die Proteste in Russland gewesen. Die ersten vier Beiträge beschäftigten sich ausschließlich mit den Demonstrationen, zu denen der russische Blogger Nawalny aufgerufen hatte. Über die Proteste in Frankreich berichtet der Spiegel zwar auch, aber deutlich weniger präsent und wesentlich weniger alarmistisch. Der Verfasser merkt im Text an, die französische Polizei habe ein "Prügel-Image".
Während der Spiegel ausufernde Polizeigewalt in Frankreich auf ein Image-Problem reduziert, sind sich die deutschen Kommentatoren in ihrer Verurteilung des Vorgehens der russischen Polizei weitgehend einig. Unverhältnismäßig sei in Russland der Einsatz von Polizeigewalt gewesen. Dabei waren weder Wasserwerfer noch Tränengas im Einsatz – inzwischen ein Standard bei Demonstrationen gegen eine jede Staatsmacht in der EU. Es wäre daher angemessener, vom Prügel-Image der russischen Polizei zu schreiben, denn es ist tatsächlich nur ein Image. Zumindest im direkten Vergleich mit ihren Kollegen in der EU. Es würde den realen Gegebenheiten mehr entsprechen, denn die französische Polizei hat kein Prügel-Image. Sie prügelt! Und wurde daher schon mehrfach von der UNO ermahnt, die sich um die ausufernde Polizeigewalt in Frankreich sorgt. Die Polizei in der EU bedient sich nachweislich brachialer Mittel zur Durchsetzung der öffentlichen Ordnung, die in Russland aktuell nicht angewandt werden. Die Opferzahlen polizeilicher Gewalt sind in der EU, in Frankreich vor allem, daher auch deutlich höher als in Russland.
In den sozialen Netzwerken kursieren zudem zahlreiche Kurzclips, die zeigen, wie bei den Demonstrationen in Russland Provokateure unter den Demonstranten einen harten Polizeieinsatz zu provozieren versuchen, mutmaßlich um jene Bilder zu erzeugen, die der westliche Journalismus so liebt, wenn es um Russland geht. Auch die Teilnehmerzahlen geben die umfassende Berichterstattung zu den Protesten in der Russischen Föderation nicht her. Zehntausende haben in Frankreich protestiert, in Russland waren es deutlich weniger. Und es waren auch im Vergleich zur Vorwoche deutlich weniger. In Frankreich geht seit geraumer Zeit eine große Anzahl von Menschen auf die Straße, denn die sozioökonomische Entwicklung und die staatlichen Ermächtigungen sind gefährlich für die Republik.
In Russland dagegen brechen die Teilnehmerzahlen innerhalb einer Woche ein. Und dafür gibt es einen guten Grund. In der Online-Ausgabe der Zeit veröffentlichte am 22. Januar Dirk Peitz einen Artikel über ein Anwesen an der Schwarzmeerküste, dessen Besitz Nawalny in einem zweistündigen Film versucht, Putin zuzuschreiben. In einem nach allen Regeln der Kunst geframten Text, der Putin mit James-Bond-Bösewichten und deren Liebe zu ausgefallenen Immobilien vergleicht, kommt der Zeit-Autor zu dem Ergebnis, dass Putin zwar ein realer Bösewicht sei, dafür aber im Gegensatz zu den ausgedachten Figuren in Bond-Filmen keinen Geschmack habe. Seine These über Putins Geschmacklosigkeit beweist er mit einer Analyse der Innenausstattung des Gebäudes, wie sie Nawalny in seinem Film zeigt. Da ist viel historisierender Kitsch zu sehen, das stimmt schon. Die Eigentumsfrage lässt Peitz einfach hinten runterfallen. Das von Nawalny gezeigte Zeug gehört Putin, weil Nawalny es sagt. Das Problem ist nur, es existiert einfach nicht. Es ist alles der Fantasie Nawalnys und seiner Mitarbeiter entsprungen.
Wie das Rechercheteam Mash zeigt, ist das Gebäude im Bau, das Nawalny bereits voll ausgestattet in seiner Dokumentation zeigt – auch wenn er andeutet, es könnten lediglich Pläne der Architekten sein. Die Bilder der Ausstattung stammen aus dem Computer. Nawalny erwähnte zwar, dass kleine Reparaturen notwendig seien und es Probleme mit Schimmel gebe, in der Realität gibt es aber gar keine Innenausstattung, lediglich kahle Wände. Wenn es keine Innenausstattung gibt, gibt es auch keine Rechnungen dafür. Das heißt, auch die Präsentation von Rechnungen, die exorbitante Preise für Möbel und Ausstattung beweisen sollen, sind mit ziemlicher Sicherheit frei erfunden und damit Fake. Inzwischen hat sich auch der Eigentümer gemeldet. Das Gebäude gehört nicht Putin, sondern ist ein entstehender Hotelkomplex des russischen Unternehmers Arkadi Rotenberg. Zwar kennen sich Rotenberg und Putin, allerdings ist es wesentlich einfacher, eine wirtschaftliche Verbindung zwischen Merkel und Jan Marsalek, dem Gründer des windigen Pleitekonzerns Wirecard, nachzuweisen, als zwischen Rotenberg und Putin. Schließlich hat sich Merkel ganz offen für Wirecard in China stark gemacht.
Eigentlich sollte damit klar sein: Nawalny wurde vorgeführt – von gutem Journalismus übrigens, der seine Aufgabe ernst nimmt und die Behauptungen nicht einfach ungeprüft übernimmt, wie es der deutsche Journalismus tut. Nawalnys Unglaubwürdigkeit wurde öffentlich, die Teilnehmerzahl der Demonstrationen sinkt entsprechend. Alles ganz normal und einfach zu erklären. Die Enthüllungen über die Enthüllung werden in Russland breit diskutiert. Deutschland erweist sich in dieser Hinsicht als lernresistent. In Deutschland wird an der Geschichte von Putins Palast festgehalten. Der ganze Fake ist schon längst aufgeflogen, da veröffentlichen die Faktenchecker von Correctiv am 30. Januar auf Youtube den Film Nawalnys auf ihrem Kanal und beteiligen sich damit an der Verbreitung einer ganz offenkundigen Verschwörungstheorie. Für Correctiv scheint zu gelten: Fakten bitte nur, wenn sie ins Narrativ passen. Ansonsten gibt man sich auch mit Fakes zufrieden. Journalistische Aufklärung über Nawalnys Hoax fällt in den deutschen Medien weitgehend aus.
Während von der vermeintlichen Enthüllung Nawalnys relativ distanzlos berichtet wurde und die Behauptungen der Dokumentation als Fakten übernommen wurden, ringt sich der Mainstream angesichts der tatsächlichen Besitzverhältnisse zahllose Konjunktive ab. Gegenüber Putin gibt es keine Unschuldsvermutung. Nawalny dagegen wird mit medialem Nimbus gekrönt. Was Nawalny angeht, wird in einem unglaublichen Ausmaß mediale Reinwaschung betrieben. Egal, ob auf Nawalnys rassistische Aussagen oder seine dunklen Finanzkanäle hingewiesen wird – Nawalny ist der deutschen Journaille heilig. Jede Differenzierung fällt aus. Man hat sich gemein gemacht, damit allerdings jeden journalistischen Anspruch aufgegeben.
Entsprechend der Einseitigkeit der deutschen Medien reagiert auch die Politik. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer verurteilt in einem Tweet das Verhalten Russlands. Gegenüber dem Verhalten Frankreichs schweigt sie sich aus. Renata Alt, MdB und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, fordert inzwischen wie die Grünen den Abbruch der Arbeiten an Nord Stream 2. Die russophobe Scharfmacherin der FDP singt sonst das Loblied auf den Freihandel und das Unternehmertum, in diesem Fall macht sie jedoch eine Ausnahme.
Und natürlich hüllt sich auch Alt angesichts der ausufernden Polizeigewalt in anderen europäischen und westlichen Ländern in Schweigen. Die doppelten Standards sind inzwischen deutlich sichtbar und lassen sich nicht mehr leugnen. Es zeigt sich eine unglaublich tiefe kognitive Dissonanz.
So wird am Fall Nawalny auch sichtbar, in welchem Zustand sich die deutsche Politik und vor allem deutsche Medien befinden. Haltungsjournalismus durchzieht inzwischen das ganze Spektrum des deutschen Blätterwalds. Der Glaube, für die gute und richtige Sache zu stehen, hat journalistisches Bemühen um Fakten und Zusammenhänge verdrängt.
Der Versuch, durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine balancierte und ausgewogene Berichterstattung zu gewährleisten, ist ebenso gescheitert wie der Versuch, es den Markt regeln zu lassen. Die einstmalige Vielfalt der Presselandschaft in Deutschland ist durch einen Konzentrationsprozess auf einige wenige Medienkonzerne und damit auf wenige Chefredaktionen reduziert worden, die die Meinung vorgeben – alle bestens vernetzt und in den immergleichen transatlantischen Organisationen aktiv. So wird das nichts mit der Umsetzung des Anspruchs, freien und unabhängigen Journalismus zu pflegen.
Mit der unterschiedlichen Bewertung von Protesten, je nachdem, wo sie stattfinden, und dem vehementen Festhalten am Nawalny-Narrativ zeigt der deutsche Journalismus nicht nur, wie wenig er journalistischen Grundregeln folgt, sondern auch, wie unreformierbar er ist. Es geht ihm um die Sache, die gute Sache, für die Deutschland und der Westen angeblich stehen. Mit dieser Sache macht er sich gemein und gibt dafür seinen Anspruch auf, aufklärend zu sein, und damit kippt die gute Sache ins Schlechte. Es wird ein notwendiges Korrektiv genommen. Die Haltung hinter dem Haltungsjournalismus mag ja verständlich und nachvollziehbar sein. Das Ergebnis ist dennoch für die Demokratie verheerend. Am Fall Nawalny und der Berichterstattung darüber lässt sich diese Schieflage in aller Prägnanz ablesen.
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Mehr zum Thema - Der Fall Nawalny und der Nowitschok-Nebel (Teil 1)
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