Meinung

Prowestlicher Liberaler oder fremdenfeindlicher Nationalist: Wer ist eigentlich Alexei Nawalny?

Der russische Politblogger Alexei Nawalny wurde angeblich auf Geheiß des Kreml mit Nowitschok vergiftet. Nach seiner Rückkehr in seine Heimat wurde er verhaftet. Dies brachte ihm Berühmtheit ein. Aber wer genau ist der Mann, der russische Nationalisten und dem Westen zugeneigte Liberale zu einen versucht?
Prowestlicher Liberaler oder fremdenfeindlicher Nationalist: Wer ist eigentlich Alexei Nawalny?Quelle: Sputnik © Valeriy Melnikov

von Jonny Tickle

Die Darstellungen in den Medien des russischen oppositionellen Alexei Nawalny reichen vom Vergleich mit einem westlich geprägten Liberalen über einen rechtsradikalen Rassisten bis hin zu einem verfolgten Freiheitskämpfer. Während viele Russen aus allen Teilen des politischen Spektrums dessen Ermittlungen gegen Korruption auf höchster Regierungsebene unterstützen, gibt es wenig Einigkeit darüber, wofür der 44-Jährige eigentlich steht oder wie er handeln würde, wenn er eine politische Führungsrolle inne hätte.

Der ehemalige Student der US-amerikanischen Elite-Universtität Yale erreichte erstmals im Jahr 2011 internationale Bekanntheit, mehr als ein Jahrzehnt, nachdem er zum ersten Mal in der Politik aktiv geworden war. Seitdem wurde er mehrfach verhaftet, erhielt zwei Bewährungsstrafen und nahm an einer Moskauer Bürgermeisterwahl teil. Nawalny ist für seine oppositionelle Haltung gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin bekannt. Aber was sind seine politischen Positionen? Woran glaubt er, abgesehen davon, dass er Putin einfach absetzen will?

Für viele, die Teil der nicht-systemischen Opposition sind, sind Nawalnys Positionen unwichtig. Für diese Gruppe stellt er eine echte Alternative zur aktuellen Regierung dar und ist ein Kämpfer gegen das, was seine Anhänger als zwei Jahrzehnte repressiver Führung ansehen, die es nicht geschafft hat, die endemische Korruption des postsowjetischen Russlands zu bekämpfen.

Für seine westlichen Unterstützer gilt dasselbe. Er ist nicht Putin, und es besteht ihrer Meinung nach daher keine Möglichkeit, dass er schlimmer als Putin sein kann, also ist er es wert, unterstützt zu werden. Allerdings kehren viele von ihnen einen Teil der unappetitlichen Geschichte des Aktivisten unter den Teppich.

Nawalnys nationalistische Wurzeln

Im Jahr 2000 trat Nawalny als Mitglied der liberalen Partei Jabloko die politische Bühne. Obwohl er offiziell Mitglied einer linken Fraktion war, war der Aktivist eine feste Größe in der rechtsextremen Politik und wurde ein bekanntes Gesicht beim "Russischen Marsch", einer ultranationalistischen Versammlung, die unter Slogans wie "Stoppt die Fütterung des Kaukasus" abgehalten wurde, während die schwarz-gelb-weiße Flagge des russischen Reiches geschwenkt wurde. Jabloko schloss Nawalny schließlich wegen seiner rechtsextremen Gesinnung aus. Die Parteiführung stellte später fest, dass "Schwärmerei für Nawalny und die Mitgliedschaft in der Partei unvereinbar sind".

Im Jahr 2011 erschien ein Porträt über Nawalny in der New York Times, in dem es heißt, dass russische Liberale "tiefe Vorbehalte gegen ihn haben", insbesondere in Bezug auf seinen nach außen gerichteten und offenen Rassismus. Darin heißt es:

"Er ist als Redner an der Seite von Neonazis und Skinheads aufgetreten und hat einmal in einem Video mitgewirkt, in dem er dunkelhäutige Kaukasus-Kämpfer mit Kakerlaken vergleicht. Während Kakerlaken mit einem Pantoffel getötet werden können, sagt er, dass er im Falle von Menschen eine Pistole empfehle."

Die BBC berichtete über den "Russischen Marsch", bei dem sich Nawalny an die 7.000 teilnehmenden Menschen wandte, als er gegen den Kreml ausholte. Dem BBC-Bericht nach soll er damals gesagt haben:

"Wir haben Probleme mit illegaler Migration, wir haben Probleme auf dem Kaukasus, wir haben Probleme mit ethnischer Kriminalität."

Zwei Jahre später, im Jahr 2013, sprach sich der damals 37-jährige Nawalny für die Pogrome von Birjuljowo aus, bei denen im selben Jahr rund 1.000 Nationalisten Migranten aus Zentralasien in den Straßen angegriffen hatten. In seinem Internetblog wetterte er gegen "Horden von legalen und illegalen Einwanderern" und behauptete, dass sie "in umliegende Nachbarschaften kriechen". Laut BBC skandierten die Teilnehmer der Demonstrationen "Russland den Russen" und "White Power".

Das Jahr 2013 erscheint wie ein Wendepunkt für Nawalny. Als er versuchte, ein politisches Amt zu bekleiden, begann er, sein Image zu säubern und die nationalistische Rhetorik seiner Vergangenheit abzuschwächen. Nachdem er bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen den zweiten Platz erreichte, nahm die Welt noch mehr Notiz von dem kremlkritischen Politiker. In der Folge ließ Nawalny seine rassistischen Überzeugungen weitgehend fallen, zumindest in der Öffentlichkeit, und verlagerte seine Bestrebungen auf die unzufriedenen Jugendlichen Russlands – von denen viele in Moskau leben und links orientiert sind. Um diejenigen Russen anzusprechen, die nie ein Leben ohne Putin in der Politik erlebt haben, trat sein Nationalismus in den Hintergrund. Doch während diese Ansichten in seinen Dreißigern im Vordergrund standen, ist es ziemlich klar, dass er seine Meinung in seinen Vierzigern keineswegs geändert hat.

Im Jahr 2016 verurteilte er das Verbot des rechtsextremen Russischen Marsches und schrieb in seinem Blog, dass "Nationalisten mehr unter Druck stehen als Liberale".

Im Jahr 2017, in einem Interview mit The Guardian, wurde Nawalny eine Gelegenheit gegeben, seine rechtsextremen Ansichten zu widerrufen, aber er weigerte sich, sich dafür zu entschuldigen.

Drei Jahre später, im Oktober 2020, gab er dann in einem Interview mit dem Spiegel zu, dass er immer noch die nationalistischen Ansichten vertritt, die er in den frühen 2000er-Jahren vertreten hatte:

"Ich habe dieselben Ansichten, die ich auch schon hatte, als ich in die Politik ging. Ich sehe keinen Widerspruch darin, Gewerkschaften zu fördern und gleichzeitig eine Visumspflicht für Migranten aus Zentralasien zu fordern."

Nawalnys liberale Wende

Heutzutage positioniert sich Nawalny selbst – oder besser gesagt, er wird von anderen so positioniert – als liberaler Politiker, der sich darauf konzentriert, die Korruption zu beseitigen und engere Beziehungen zum Westen zu entwickeln. Für seine Anhänger ist er eine Figur wie Mandela oder Gandhi, die von Leuten wie dem ehemaligen US-Botschafter Michael McFaul mit den berühmten Bürgerrechtlern des 20. Jahrhunderts verglichen wurde.

Aus einem Beitrag der Washington Post:

"Nawalnys heroischer Kampf unterscheidet sich nicht von dem, wofür Gandhi, King, Mandela und Havel gekämpft haben. Während Nawalny noch nicht erfolgreich war, sollte es keinen Zweifel geben, dass seine Sache gut und gerecht ist."

Im Hinblick aufs Geld ist seine Politik sicherlich im Einklang mit liberalen Ideen gewesen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion arbeitete er im Finanzwesen und war ein überzeugter Befürworter der kapitalistischen Wirtschaft, er nannte sich selbst einen "Marktfundamentalisten".

Während eines fehlgeschlagenen Versuchs bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2018, als ihm die Teilnahme an der Wahl aufgrund von strafrechtlichen Verurteilungen verweigert worden war, die er als politisch motiviert bezeichnet, veröffentlichte er ein Manifest mit seinen politischen Positionen. Viele seiner politischen Vorschläge waren linker Natur, darunter die Einführung eines Mindestlohnes und die vollständige Kostenfreiheit von medizinischer Versorgung und Bildung. Es enthielt auch einige bekannte Elemente des modernen Neoliberalismus, wie etwa die Senkung der Steuern für kleine Unternehmen und die Reduzierung der "Präsenz des Staates in der Wirtschaft als Eigentümer und Wirtschaftseinheit".

Einige andere seiner Vorschläge beinhalteten die Ratifizierung der UN-Konvention gegen Korruption, Dezentralisierung, die Entmonopolisierung der Wirtschaft und die Einführung von Visaregelungen für zentralasiatische Länder, damit Migranten nicht "unkontrolliert" kommen.

Für bare Münze genommen, ähneln die meisten von Nawalnys veröffentlichten Positionen weitgehend denen der liberalen Parteien in Europa. Allerdings stimmen viele seiner Ansichten nicht ganz mit denen seiner westlichen Unterstützer überein. Beispielsweise wurde Nawalny als Imperialist kritisiert und er glaubt, dass die Krim rechtmäßiger Teil Russlands ist. Die Oppositionsfigur äußerte sich während des Krieges mit Georgien im Jahr 2008 geradezu hurrapatriotisch und unterstützte "ernsthafte militärische und finanzielle Hilfe" für Südossetien und Abchasien. Er unterstützte auch die Ausweisung aller Georgier vom russischen Territorium. In einem Blogbeitrag forderte er Russland auf, "einen Marschflugkörper" auf den georgischen Generalstab abzufeuern, und bezeichnete die Anwohner des Landes als "grizuny" – wörtlich: Nagetiere, eine weitere Tiermetapher.

Ist es eigentlich wichtig, was er glaubt?

Für einen Teil von Nawalnys Anhängern spielt seine Meinung keine Rolle. Er ist für sie die Verkörperung der Anti-Putin-Stimmung und die Person, die Russland hin zu einer besseren Zukunft mit einer liberalen Demokratie westlichen Vorbilds öffnet. Im Jahr 2013 bezeichnete ihn der linksgerichtete russisch-ukrainische Journalist Matwei Ganapolski als "ein Werkzeug", um "ehrliche Wahlen" anzustreben, mit "kremlfeindlichen" Ansichten, die seinen eigenen ähneln.

Wie auch Ganapolski wird ein Großteil von Nawalnys Anhängerschaft von dem Mantra "der Feind meines Feindes ist mein Freund" geleitet. Acht Jahre später wird diese Phrase immer noch geäußert, wobei viele seiner Unterstützer die Kritiker dazu drängen, sich auf das aus ihrer Sicht wichtigere, unmittelbare Ziel zu konzentrieren: Putin zu entfernen.

Für viele dieser Leute ist Nawalny ein Mittel zum Zweck. Sie wollen nicht, dass er Präsident wird oder irgendeine Macht erlangt, sondern einfach, dass er das bestehende System stürzt und hilft, das Land in eine andere politische Zukunft zu führen.

Einige glauben, dass Nawalny sich geändert hat, dass seine alten Ansichten nicht mehr mit dem übereinstimmen, was er heute ist.

Egal, wie seine wahren Ansichten aussehen, die russische Oppositionsfigur ist vielleicht der einzige Politiker der Welt, der eine Fülle von einheimischen Anhängern und ausländischen Befürwortern hat, die mit seinen Ansichten nicht einverstanden sind.

Also, was ist er?

Mit Nawalnys stark rassistisch gefärbten politischen Wurzeln und einem Jahrzehnt des Werbens um westliche Unterstützung ist es schwer zu sagen, in welche Schublade er im Jahr 2021 gehört. Er könnte immer noch ein Nationalist sein, oder er könnte ein Liberaler geworden sein. Wer weiß das schon? Sicher ist jedoch, dass er ein äußert gewiefter und vielseitiger Opportunist geworden ist.

Wenn Nawalny erfolgreich sein will, muss er eine allumfassende Unterstützerbasis schaffen, indem er Populismus nutzt, um sowohl russische Nationalisten als auch dem Westen zugeneigte Liberale anzusprechen. In dieser Hinsicht könnte seine Tendenz, seine politischen Positionen der vorherrschenden Meinung des Tages anzupassen, seine Superkraft sein, wenn er versucht, eine breite Anti-Kreml-Koalition zu bilden. Nawalny ist möglicherweise einzigartig in der Weltpolitik in seiner Fähigkeit, zugleich Unterstützung von jungen, für LGBT-Rechte eintretenden liberalen Sozialisten und rechtsextremen Monarchisten zu erhalten.

Doch trotz ihrer Hoffnung, dass der Blogger, der sich in einen Aktivisten verwandelte, die Person ist, die Putin schließlich absetzen kann, sind westliche Kommentatoren wahrscheinlich unaufrichtig, wenn sie eine rosige Zukunft mit Nawalny am Ruder voraussagen.

Seine tief verwurzelten Ansichten ähneln eher denen einiger der am meisten geschmähten Führer Europas wie Ungarns konservativem Premierminister Viktor Orbán oder der französischen Oppositionsführerin Marine Le Pen als denen, die wie Angela Merkel oder Emmanuel Macron liberale Positionen vertreten. Am Ende könnten westliche Aktivisten entdecken, dass sich der Feind ihres Feindes manchmal auch als Feind entpuppt.

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Übersetzt aus dem Englischen.

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