Meinung

Frankreich sucht strategische Autonomie "Europas" – Alternative zur Ordnungsvision der USA und China

Obwohl Macron keine Alleingänge scheut, um neue Allianzen zu schmieden, beugt er sich in wichtigen Momenten dem amerikanischen Diktat, wie der Fall Nawalny zeigt. Das macht deutlich, dass Macron für seine Vision kein alternatives Konzept gegenüber der US-Hegemonie hat.
Frankreich sucht strategische Autonomie "Europas" – Alternative zur Ordnungsvision der USA und ChinaQuelle: Reuters © Yoan Valat

von Seyed Alireza Mousavi

In einer Grundsatzrede in der Pariser Universität Sorbonne im Jahr 2017 unterstrich Präsident Macron, dass nur ein starkes Europa sich den Herausforderungen einer globalisierten Welt stellen könne. Der einzige Weg in die Zukunft sei eine "Neugründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas". Souveränität für Europa ist das Schlüsselwort für Macron seit 2017. Er stellte sich dabei bewusst in eine Reihe mit Charles de Gaulle. Seither hat er versucht, eine Vision der strategischen Autonomie "Europas" voranzutreiben, welche die deutsche Wirtschaftskraft in den Dienst der französischen Führungsrolle innerhalb der Europäischen Union (EU) stellen möchte.

Präsident Macron sieht sich seit den vergangenen Jahren als außenpolitischen Gestalter Europas, obwohl seine Vision fast von Anbeginn durch die Gelbwesten-Krise in Frankreich überschattet war. Die EU hat noch lange keine gemeinsame Linie in der Außenpolitik gefunden, und deswegen versucht Macron aus der EU eine geopolitische Kraft machen. Macrons Rolle für Europas Zukunft wurde durch den Brexit noch verstärkt. Frankreich ist nun die einzige Nuklearmacht der Europäischen Union und auch das einzige Mitglied mit einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Hierzu ist anzumerken, dass Macron ein geopolitisches Vakuum ausfüllt, das die USA zum großen Teil durch ihren schrittweisen Rückzug aus der Weltpolitik ermöglichen.

Clément Beaune, der damalige Vordenker des französischen Präsidenten in Europa-Fragen und heutige Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, widmete sich kürzlich in einem Beitrag über "Europa jenseits von COVID-19" den Herausforderungen für ein Europa nach der Pandemie und dem Ringen um eine "souveräne europäische Außenpolitik". In seinem Artikel schlägt er die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in bestimmten Bereichen der EU-Außenpolitik vor und fordert eine Verringerung der Zahl der 27 EU-Kommissare. "Weil sich alle von ihnen verpflichtet fühlen, die Politik ihres jeweiligen Landes zu vertreten und keine gemeinsamen, europäischen Interessen" haben, schrieb er.

Macron ist der Meinung, dass "Europa" bislang zu schwach gewesen sei und seine (EU-)Institutionen diesen Herausforderungen nicht mehr gerecht würden. Die inflationäre Einrichtung von neuen Posten gebe Beispielweise kein klares Bild von starker Macht. Macron steht für die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip in der Sicherheits- und Außenpolitik der EU, die mit seiner Vision über eine Europäische Armee einhergeht. Im Grunde sehen Macron und sein Berater Beaune die Lösung der neuen Herausforderungen darin, dass der Einigungsprozess der EU sich stärker auf den festen Willen Frankreichs zur Führungsrolle als auf die Institutionalisierung und Bürokratie der EU in Brüssel stützt.  

Rivalität zwischen USA und China

Die USA spielten auch nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als sieben Jahrzehnte eine Führungsrolle in der Weltpolitik und ziehen sich nun von der Weltbühne zunehmend zurück. Das ist eine Tatsache, und Macron weiß gut: Es wäre leicht zu glauben, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, wenn das amerikanische Volk Donald Trump aus dem Amt wählt und den neoliberalen Globalisierer Joe Biden ins Weiße Haus bringt, einfach wieder an der Stirnseite des Tisches platznehmen könnten. Macron hat  kürzlich in seiner Ansprache während der UN-Vollversammlung an die Staatengemeinschaft appelliert, dem Machtkampf zwischen Peking und Washington nicht tatenlos zuzusehen. "Die heutige Welt darf nicht der Rivalität von China und den USA überlassen werden."  Man sei nicht dazu verdammt, den Tanz der Beiden mitzumachen. Man müsse neue Allianzen aufbauen, Europa müsse neue Lösungen entwickeln. Frankreich unter Macrons Präsidentschaft strebt danach, sich als eine geopolitische Führungsmacht in Europa zu etablieren und nicht als ein schwacher Staat, der sich mal China, mal den USA zuwendet, um deren Interessen und Streben nach Sicherheit zu dienen.

Die transatlantischen Beziehungen waren bereits vor der Pandemie angesichts der Strategie "America First" des US-Präsidenten Donald Trump geschwächt. Die Pandemie beschleunigte allerdings alle Trends in Richtung der Deglobalisierung, die bereits vorher in vollem Gange waren. Im Zuge der Coronakrise brachen bereits im März die Lieferketten im internationalen Handel zusammen, was für die europäische Industrie heftig war und wobei Europa auch keine Unterstützung von den USA bekam. Macron fordert einen Kurswechsel von den Europäern, denn wenn es zu Verwerfungen zwischen den beiden Weltmächten USA und China käme, könnte dies Europa gefährden. Die Amerikaner gehen stets kurzerhand nach einem Freund-Feind-Schema vor und fordern dementsprechend von den Europäern: Wenn China unser Feind ist, ist auch jeder unser Feind, der mit China gute Geschäfte macht. Die Außenpolitik Europas ist nun Macrons Herzensthema. Ein autonomes Europa ohne die führende Hand Washingtons nach Macrons Konzept ist jedoch zu schwach um eine dritte Kraft zu etablieren. Und Frankreich ist derzeit nicht in der Lage, nur annähernd mit den Vereinigten Staaten als ein angeblicher "Sicherheitsgarant des Kontinents" mitzuhalten.

NATO und Europas Sicherheit

Kurz vor dem 70. Jahrestag der NATO-Gründung erklärte Frankreichs Präsident seinerzeit das Bündnis für "hirntot". Macrons Aussage sorgte für helle Aufregung bei den Bündnispartnern, und deswegen bemühte sich NATO-Chef Stoltenberg vor dem Jubiläums-Gipfel um Schadensbegrenzung: "Die USA dürften nicht herausdividiert werden und Europa müsse sich stärker engagieren. Schon wegen der Bedrohung aus China." Macron stellte hingegen fest, dass der gemeinsame Feind weder Russland noch China sei, sondern das seien Terrorgruppen. Er forderte insofern die NATO zu einer gründlichen Debatte über ihre Zukunft auf. "Die NATO ist eine Organisation zur gemeinsamen Verteidigung. Gegen was, gegen wen verteidigt sie sich selbst?" Es gebe bei strategischen Entscheidungen keine Koordinierung zwischen den NATO-Ländern und den USA. Frankreich begründete seine Kritik an Bündnis mit einer mangelnden Koordination der USA mit den Europäern in Sicherheit-Fragen und beispielsweise mit der Tolerierung der "aggressiven" Vorgehensweise des NATO-Mitglieds Türkei in Syrien seitens der USA. In Libyen sind ebenfalls die Konflikte zwischen NATO-Partnern zu beobachten. Während der US-Botschafter Richard Norland die Militärintervention der Türkei in Libyen guthieß, kritisiert das NATO-Mitglied Frankreich seit Monaten scharf das militärische Eingreifen der Türkei in Libyen. Macron fordert eine deutliche politische Rolle der NATO, die ihr Verhältnis zu Russland, zur Türkei und zu China klären solle.

Die Risse innerhalb der NATO wurden mittlerweile im Rahmen der Konflikte um Mittelmeergebiete zwischen Griechenland und der Türkei sichtbar. In diesem Konflikt ist ein Alleingang Frankreichs zu beobachten. Frankreich verstärkte kürzlich als Reaktion auf den Streit zwischen der Türkei und Griechenland um Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer seine Militärpräsenz in der Region. In Paris gab man bereits bekannt, dass 18 Rafale-Kampfjets und mehrere Fregatten nach Athen verkauft würden. Die Aufrüstung Griechenlands solle die Türkei in Schach halten, heißt es in Paris und Athen. Macron hat sich dabei mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis "im Namen Europas" (und nicht der NATO) abgestimmt und im Grunde damit eine Bruchlinie in der Sicherheitsfrage Europas markiert. Frankreich ist allerdings nicht mächtig genug, um eine europäische Sicherheitsinitiative in Osteuropa gegen die Türkei zu starten, die den Zusammenhalt und die Existenzberechtigung des NATO-Bündnisses herausfordert. Denn osteuropäische Staaten sind die allerersten Kritiker von Macrons Vision über die Forcierung des Europäisierungsprozesses. Und viele unter ihnen – wie Litauen, Lettland oder Polen – verhalten sich auch eindeutig als Vasallen der US-Amerikaner.

Naher Osten und Afrika

Anlässlich seines Besuchs in Beirut wegen der Explosion Anfang August 2020 meldete sich Frankreich nach den Jahrzehnten wieder als (frühere) Kolonialmacht und als "anständiger" Akteur im Nahen Osten. Frankreich will die geopolitische Bühne im Nahen Osten nicht mehr widerstandslos den USA und Israel überlassen. In der Libanon-Frage überkreuzen sich die unterschiedlichen Interessen und verschiedenen Ambitionen der Franzosen, Amerikaner und Israelis. Mit anderen Worten: Macron fährt im Libanon einen ganz anderen Kurs als die USA und Israel, insbesondere dann, wenn es um die Hisbollah und deren künftige Rolle in Libanon geht. Für Macron seien die "Chaosstifter" in der Region nicht Iran und die Hisbollah, sondern die Türkei, die mit ihren Militärinterventionen in Libyen die Sicherheit Europas bedrohe. Hier setzt Macron andere Prioritäten als die USA und Israel. Im Streit um die östlichen Mittelmeergebiete kam es in letzter Zeit mehrmals zu Zwischenfällen auf See zwischen der Türkei und Frankreich oder Griechenland. Angesichts des amerikanischen Rückzugs in der Region will sich Macron nun stärker im Nahen und Mittleren Osten engagieren. Macron versucht, in der arabischen Welt einen angemessenen Platz wiederzufinden, insbesondere in einer Zeit, in der dort die Karten neu gemischt werden. Allerdings bleibt abzuwarten, ob Frankreich in der Lage ist, sich den unberechenbaren Ambitionen der USA und Israels zu widersetzen.

Die Russland-Frage 

Im Sommer 2019 lud Macron den russischen Präsidenten Wladimir Putin in seine Sommerresidenz nach Fort de Brégançon ein. Macron forderte anlässlich des Putin-Besuchs, der Westen müsse die Verbindungen zu Russland "neu denken", und er ließ durchblicken, man sei zu unfreundlich und wenig konstruktiv mit Russland umgegangen. Macron sprach sich für eine Annäherung zwischen der EU und Russland in Europa aus. Es müsse eine neue Architektur der Sicherheit und des Vertrauens zwischen den beiden Partnern geben, erklärte er. Macron ist der Ansicht, man müsse Russland an die EU binden, bevor es sich vollends China zuwendet, weil das Land großen Einfluss sowohl in Syrien als auch in Iran hat. Obwohl Macron bei der Energie-Frage bezüglich des Projekts Nord Stream 2 Deutschland nicht genügend unterstützt und ebenfalls davon ausgeht, dass Nord Stream 2 die Abhängigkeit in Fragen der Energie mit Russland vergrößere, ließ er sich nicht von USA manipulieren. Und so unterstützt man in Paris die Deutschen im Streit mit Trump und dessen Sanktionen gegen Nord Stream 2, weil es nicht Sache der USA sei zu entscheiden, wie die europäische Energiepolitik aussehe.

Obwohl Macron angeblich keine Alleingänge scheut, um neuen Allianzen, zu schmieden, beugt er sich dennoch in wichtigen Momenten dem amerikanischen Diktat und den transatlantischen Narrativen – wie etwa im Fall Nawalny. Das macht deutlich, dass Macron für seine Vision kein alternatives Konzept zu jenem der US-Hegemonie hat. Solange Macron unter Deckmantel einer "Autonomie" der EU die Artikulierung der transnationalen Werte der globalen Klasse und der Kartellmächte zur Tagesordnung auch seiner Außenpolitik macht, ist seine Vision für Europa nichts anderes als eine geopolitische Floskel. Europa und die EU sind allerdings im Machtpoker zwischen den USA und China eine Null, solange sie keine neue, eigene Perspektive anzubieten haben. Und die Europäische Union scheint mittlerweile dermaßen gespalten zu sein, dass ein gemeinsames Umdenken zu einer wahrhaft "europäischen Vision" auf der politischen Landkarte derzeit unvorstellbar ist.

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