Der Russe war's: Die Ablenkung des US-Establishments von Ungerechtigkeit und Ungleichheit im Land
von Scott Ritter
Aktuell ist die US-amerikanische politische Führungsriege mit den Ergebnissen ihrer gescheiterten jahrzehntelangen Politik konfrontiert, die sich nun in den momentanen Unruhen mit ihrer Intensität und ihrem Ausmaß manifest machen. Die Verantwortung hierfür sucht man jedoch von den eigenen Schultern abzuwälzen – auf den altbewährten Sündenbock Russland.
US-amerikanische Städte brennen – derweil versuchen die dortigen Politiker verzweifelt, einen Schuldigen für das grassierende Chaos und die drohende Anarchie zwangszuzuweisen. So waltet Senator Marco Rubio, ein Republikaner aus dem Bundesstaat Florida und amtierender Vorsitzender des Select Intelligence Committee des Senats, auf Twitter anklagewütig seines Zeigefingers:
Ich sehe SEHR starke protestbezogene Aktivitäten in den sozialen Medien und Gegenreaktionen von Konten in sozialen Netzwerken, die mit mindestens drei ausländischen Gegnern in Verbindung stehen. Diese Spaltungen haben sie zwar nicht erschaffen, aber sie schüren und fördern aktiv Gewalt und Konfrontation aus verschiedenen Schlagrichtungen.
Evelyn Farkas, ehemalige Vize-Verteidigungsministerin der Obama-Ära, derzeit Kandidatin für den US-Kongress, twitterte:
Ich hoffe, das FBI untersucht potenzielle mittelbare oder unmittelbare ausländische Einmischung bei Plünderungen. Das ist definitiv nicht ausgeschlossen.
Obwohl weder Rubio noch Farkas in ihren Tweets Russland offen beim Namen nannten, sind beide für ihre Russland-bezogenen Beiträge in den sozialen Medien bekannt. Damit kann kaum ein Zweifel daran bestehen, auf wen sie da mit dem Finger zeigen wollen.
Susan Rice, ihrerzeit Beraterin des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama für nationale Sicherheit, hielt sich weniger zurück bei der Frage, bei wem die Urheberschaft dieses "ausländischen Einflusses" liege. In einem Interview mit Wolf Blitzer von CNN erklärte Rice in Bezug auf die gewalttätigen Proteste, die die heute die USA heimsuchen:
Ich würde wetten – aufgrund meiner Erfahrung, denn die Aufklärungsdaten lese ich heutzutage nicht mehr –, doch nach meiner Erfahrung ist das hier ebenfalls direkt aus dem russischen Spielbuch entnommen.
Damit sind Rice, Rubio und Farkas nicht allein. Typisch für die russlandfeindlichen Panikattacken mit Hyperventilation, die in den US-Medien in Bezug auf eine angebliche Hand Russlands hinter den andauernden Unruhen herrschen, ist etwa ein von CNNveröffentlichter Artikel von Donie O'Sullivan, einem Reporter in enger Zusammenarbeit mit der CNN-Einheit, die "an die US-Wählerschaft gerichtete Online-Desinformationskampagnen verfolgen und identifizieren" soll.
Ich bin zwar kein Verschwörungstheoretiker, aber …
O'Sullivan kommt zwar zu dem Schluss, dass "die Proteste ebenso echt wie auch die Bedenken der Protestierenden" sind, und warnt den Leser sogar, dieser solle einen Schritt zurücktreten und tief durchatmen, "bevor er sich zu sehr in jegliche Diskussionen über die russische Beteiligung verstrickt".
Doch im nächsten Schritt behauptet er, dass ab der US-Präsidentschaftswahl 2016 "Russland eine ausgeklügelte, jahrelange verdeckte Desinformationskampagne unterstützte (und wahrscheinlich immer noch unterstützt)". Diese, so O’Sullivan, "umfasste ein Netzwerk von Facebook- und Twitter-Seiten, die so aussahen, als seien sie von echten US-amerikanischen Aktivisten betrieben worden, und die benutzt wurden, um Spannungen in der US-amerikanischen Gesellschaft zu schüren".
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Kulinarisch geübt serviert der Redakteur den steinschwer wiegenden Hauptgang natürlich in der Mitte seines Menüs mit fadem Beigeschmäckle. "Die wohl größte Errungenschaft Russlands", so O'Sullivan, "ist die Paranoia, die es der US-amerikanischen Gesellschaft eingeimpft hat". Er setzt fort:
Wir beobachten jetzt regelmäßig, wie US-Amerikaner in den sozialen Medien Menschen und Gruppen, mit denen sie nicht einverstanden sind, beschuldigen, russische Trolle oder Bots zu sein. Diese Anschuldigungen werden oft ohne Beweise erhoben und können von echtem politischen Engagement echter US-Amerikaner ablenken und dieses untergraben.
Dank Russland, behauptet O'Sullivan, haben die US-Amerikaner jetzt nur Russland im Kopf – und zwar auch dann, wenn Russland nicht involviert sei. Und das sei natürlich Russlands Schuld. Aber nur keine Sorgen:
Es ist möglich, dass wir in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten erfahren werden, dass es verdeckte Aktivitäten gegeben hat – dass einige Facebook-Seiten und Twitter-Konten, die zu gewalttätigen Protesten ermutigen, tatsächlich mit Russland in Verbindung stehen.
Informationspolitisches Niemandsland
Die Vereinigten Staaten funktionieren heute in einem informationspolitischem Niemalsland der Fiktion und Phantasie – insbesondere, wenn es um den Vorwurf der russischen Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten geht. Logischerweise sollten die meisten US-Amerikaner eigentlich von der Vorstellung beleidigt sein, dass ihre demokratischen Institutionen so schwach sind, dass eine halbherzig geführte Kampagne in den sozialen Medien eine nationale Wahl beeinflussen könnte.
Auf schmerzhafte Weise unterstrichen wird das Beleidigende an dieser Vorstellung durch die ihr gegenüberstehende Tatsache, dass der ehemalige Präsidentschaftskandidat Michael Bloomberg mehr als 500 Millionen US-Dollar für seine Wahlkampagne ausgab, die von dem ausgeklügeltsten PR-Team in der Geschichte der US-Politik betrieben wurde – und die Anzeigenadel der Wählerunterstützung trotzdem nicht einen Deut zu bewegen vermochte.
Es ist eine Binsenweisheit, dass man ein Problem nicht lösen kann, ohne es vorher richtig zu definieren. So legen denn auch die Politiker und Anführer, bei denen die US-Amerikaner Lösungen ersuchen, den Grundstein für ihr eigenes zukünftiges Versagen. All ihr Bemühen, von ihren eigenen Fehlern abzulenken und die eigene Schuld an den anhaltenden sozialen Unruhen, die die US-amerikanischen Städte verwüsten, auf "äußere" Urheber (also angebliche "russische" Einmischung) abzuwälzen, führt zwingenderweise zum Misserfolg.
Der Mord an George Floyd durch die Polizei von Minneapolis ist mitnichten von Russland inszeniert. Ebenso wenig lenkte Russland die Entwicklung und Umsetzung der jahrzehntealten Kultur des Polizeiwesens der Vereinigten Staaten mit Rassismus als einem von ihren Grundsteinen, unterstützt von einem Justizsystem, das seinerseits diesen Rassismus aufrechterhält und verstärkt.
Das Problem der sozialen und rechtlichen Ungleichbehandlung, die dem US-Strafverfolgungssystem innewohnt, wurde jahrzehntelang vor aller Augen verborgen gehalten und konnte so von Generationen US-amerikanischer politischer Anführer ignoriert werden. Allerhöchstens schlugen sie aus dieser auf Angst gegründete Kultur, die sich aus dem so beschaffenen System speiste, dann und wann politisches Kapital. Russland hatte und hat mit diesem Krebsgeschwür, das in der gesamten Breite der amerikanischen Öffentlichkeit Metastasen gebildet hat, überhaupt nichts zu tun.
Es ist der Gipfel der intellektuellen Heuchelei und moralischen Feigheit, wenn diejenigen lieber die Schuld auf den russischen Butzemann schieben, anstatt, wie es ihnen in dieser unruhigen Zeit obliegt, um der Vereinigten Staaten von Amerika willen aufzustehen und das kranke Wesen des US-amerikanischen Strafverfolgungsestablishments von heute einer gnadenlos ehrlichen eingehenden Betrachtung zu unterziehen – sowie die Art von schweren, aber notwendigen Entscheidungen zu treffen, die für seine Reform überfällig sind.
Die Schuldzuweisungsorgie mag den Medienhäusern zugutekommen, die vor langer Zeit vor einem auf verzweifelt auf Erhalt von Macht und Einfluss um jeden Preis erpichten politischen Establishment kapitulierten. Doch aus der Sicht der Legionen von US-Amerikanern, deren Frustration über den inhärenten Rassismus der Politik hinter dem heutigen US-amerikanischen Polizeiwesen einen Höhepunkt erreicht hat, wird diese Art von unkompliziert gestrickter Ablenkung nicht zum Erfolg führen. Die Städte der Vereinigten Staaten von Amerika stehen in Flammen – und falsche Narrative, in deren Rahmen die Schuld an diesem Flächenbrand Russland zugeschoben wird, taugen hier nur sehr schlecht als Löschmaterial.
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Übersetzt aus dem Englischen. Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung bei der US-Marineinfanterie. Er diente in der Sowjetunion als Inspekteur für die Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und in den Jahren von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspekteur. Er kann auf Twitter abonniert werden unter @RealScottRitter
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