Meinung

"Das Virus ist eine Zumutung für die Demokratie" – Merkels schiefe Einlassungen zum Verfassungstag

Alles staatliche Handeln ist der im Grundgesetz verankerten Würde des Menschen verpflichtet. Mit dieser Aussage rechtfertigte Bundeskanzlerin Merkel ihr Krisenmanagement in der Corona-Krise. An ihrem Wahrheitsgehalt darf man zweifeln – aus einer Vielzahl von Gründen.
"Das Virus ist eine Zumutung für die Demokratie" – Merkels schiefe Einlassungen zum Verfassungstag

von Andreas Richter

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zum Tag des Grundgesetzes am 23. Mai einen ihrer interessanten Videopodcasts veröffentlicht. Darin geht es nur vordergründig um das Grundgesetz und die darin verankerten Grundrechte. Tatsächlich versucht die Kanzlerin wenig überzeugend, die Verfassung zur Rechtfertigung ihrer Politik in der Corona-Krise heranzuziehen.

Der Podcast besteht aus drei Teilen: einer Einleitung, Merkels Antwort auf die Frage, ob sie Verständnis habe für Sorgen wegen der Corona Maßnahmen, und einigen Ausführungen zur EU, die hier keine Rolle spielen sollen.

Die Einleitung des Videos wirkt wie aus einem Schulbuch abgeschrieben: Die Kanzlerin erinnert an die Verabschiedung des Grundgesetzes vor 71 Jahren und betont dessen Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben: Es definiere die Grundrechte der Bürger und gebe den Rahmen für alles staatliche Handeln vor.

Dann wird Merkel konkret und – geht gleich zur Corona-Krise über:

Die Corona-Pandemie stellt uns in diesem Jahr als Gesellschaft vor besondere Herausforderungen, vielleicht vor die größten seit 71 Jahren. Umso wichtiger ist es, die Prinzipien des Grundgesetzes zu achten.

Die Kanzlerin leitet in der Folge das Regierungshandeln allgemein und ihr Corona-Krisenmanagement grundsätzlich aus dem Grundgesetz ab:

Ganz besonders ist dabei der Artikel eins wichtig: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Würde des Menschen ist alles staatliche Handeln auch verpflichtet. Danach arbeitet die Bundesregierung.

Damit erklärt die Kanzlerin ernsthaft das Regierungshandeln in der Corona-Krise als Konsequenz aus dem ersten Artikel des Grundgesetzes. Das ist aus mehreren Gründen bizarr. Zunächst einmal ist da die Gleichsetzung von Menschenleben mit Menschenwürde.

Natürlich ist der Staat verpflichtet, Gesundheit und Leben seiner Bürger zu schützen, aber, überspitzt gesagt, man kann auch ohne Würde leben und mit Würde sterben. Diese Gleichsetzung greift zu kurz.

Dann lässt sich wenigstens bezweifeln, dass das staatliche Krisenmanagement in der Gesamtbilanz mehr Leben gerettet, als gefordert, hat. In jedem Fall wäre an dieser Stelle eine Gesamtrechnung erforderlich, die die Nebenwirkungen des staatlichen Krisenmanagements mit einbezieht, ehe man erklärt, dass alles staatliche Handeln "dieser Würde des Menschen" verpflichtet sei.

Interessant ist auch, wie Merkel unter Berufung auf die in Artikel 1 des Grundgesetzes verankerte, "ganz besonders wichtige" Würde des Menschen die in den Folgeartikel garantierten Grundrechte stillschweigend für zweitrangig erklärt. Da wären etwa das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das auf informationelle Selbstbestimmung, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Berufsfreiheit.

Und schließlich lässt sich ganz grundsätzlich fragen, inwieweit politisches Handeln sich von abstrakten Werten und nicht realen Interessen leiten lässt. Die im Lande immer sichtbarer werdende Armut, die Zustände in Altersheimen und auch Krankenhäusern lassen Merkels Aussage, alles staatliche Handeln sei der Menschenwürde verpflichtet, von vornherein wenig glaubwürdig erscheinen.

Nach der Einleitung wird der Kanzlerin die erste Frage gestellt bzw. eingeblendet, die lautet:

Haben Sie Verständnis für die Sorgen der Bürger angesichts der Einschränkungen in der Corona-Pandemie?

Merkels Antwort lässt sich überspitzt so zusammenfassen: Selbstverständlich, aber nein. Die Kanzlerin rechtfertigt mit Hinweis auf Artikel 1 und die Menschenwürde noch einmal ausdrücklich die Beschränkung von anderen Grundrechten und nennt das Virus eine "Zumutung für unsere Demokratie":

Ja, ich kann diese Sorgen verstehen. Und ich habe selber im Deutschen Bundestag in meiner Regierungserklärung gesagt: Dieses Virus ist eine Zumutung für unsere Demokratie. Und deshalb machen wir es uns natürlich mit den Beschränkungen von Grundrechten nicht einfach. Deshalb sollen sie so kurz wie möglich sein. Aber sie waren notwendig, und das haben wir auch immer wieder begründet, weil wir uns der Würde der Menschen verantwortlich fühlen, so wie es im Artikel 1 unseres Grundgesetzes gesagt ist.

Das ist natürlich eine Verdrehung der Tatsachen. Ein Virus kann allenfalls ein Staatsvolk bedrohen, nicht die Staatsform. Wenn es eine "Zumutung" für die Demokratie gibt, und es gibt sie, dann geht diese vom staatlichen Krisenmanagement in der Krise aus, und damit vor allem von der Kanzlerin selbst.

Denn das Krisenmanagement Merkels widersprach von Anfang demokratischen Prinzipien. Agiert wurde quasi autoritär. Es gab keine Debatte um den besten Weg, um Vorteile und Nachteile der verschiedenen Ansätze im Umgang mit der Lage. Es gab auch keine seriöse Diskussion über das Ausmaß der Bedrohung und die Grundlagen der Entscheidungen. Zu Wort kamen immer nur die gleichen, wenigen Experten.

Von Anfang überzeichneten Politik und Medien diese Gefahr offenbar gezielt. Wie bei Merkel üblich, wurde die mit der der überzeichneten Bedrohung begründete Politik als alternativlos dargestellt. Die von ihr angeführte "immer wieder" erfolgte Begründung wechselte in ihrer Argumentation beinahe wöchentlich. Die Maßnahmen seien notwendig gewesen, Punkt. Mit den verbreiteten Schreckensnachrichten und Bildern wie denen aus Norditalien wurde Unterstützung für diese Politik mobilisiert.

Über die Angemessenheit der Maßnahmen gab es auch im Podcast von der Kanzlerin wenig Konkretes. Nur das: Man mache es sich mit der Beschränkung von Grundrechten nicht einfach. Es war dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow vorbehalten, in der sogenannten Öffnungsdebatte konkret die Frage nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck aufzuwerfen – was ihm von der Kanzlerin Kritik einbrachte.

Natürlich hat das Vermeiden und Unterdrücken der Debatte um die Richtigkeit und Angemessenheit der staatlichen Maßnahmen einen ganz konkreten Zweck: Die sozialen und wirtschaftlichen Kollateralschäden dieses Krisenmanagements, die das Leben der meisten Bürger in den nächsten Jahren entscheidend mitbestimmen werden, sind nur so als etwas Hinzunehmendes und Unvermeidbares darzustellen, eben als Folgen der Pandemie, nicht die Konsequenz einer bestimmten und zu hinterfragenden Politik.

Neben der Debatte fehlt und fehlte auch die Kontrolle – ein weiteres zentrales demokratisches Element. Das Parlament versagt bislang bei der Kontrolle der Regierung. Dabei hat die Öffentlichkeit sehr wohl ein Recht darauf zu erfahren, wie genau und auf welcher Grundlage die zentralen und folgenreichen Entscheidungen gefallen sind. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, wie er von Teilen der Opposition gefordert wird, ist deshalb angebracht.

Merkel nutzt also ihre Ausführungen zum Tag des Grundgesetzes, um sich selbst – wieder einmal – ein gutes Zeugnis aus- und ihr Krisenmanagement und dessen Folgen als alternativlos darzustellen. Einen doppelten Reiz erhält der Videopodcast durch die Widersprüche in den Ausführungen der Kanzlerin.

Zum einen zollt sie dem Grundgesetz "Respekt", indem sie sich ausschließlich auf Artikel 1 beruft, um den Rest des Grundrechtskatalogs zu relativieren. Zum anderen bezeichnet Merkel das Coronavirus als "Zumutung für unsere Demokratie", wo eigentlich ihre im Kern autoritäre und intransparente Politik diese Zumutung darstellt. Sollte es tatsächlich zu einer Aufarbeitung dieser Politik kommen, könnte die Corona-Krise zu einer Zumutung für ihre Kanzlerschaft werden. 

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