COVID-19: Das Coronavirus und die Zivilisation
von Diana Johnstone
Je länger die strenge Ausgangsbeschränkung währt, desto mehr finden selbst Menschen, die in Liebe verbunden sind, einander unerträglich. Im größeren Rahmen gehen sich in dieser verrückten Massen-Ausgangsbeschränkung Menschen, die ihre Ablehnung der Lügen unserer kriminellen Herrscher eint, sogar gegenseitig quasi an die Gurgel. Der Grund: Sie interpretieren das, was wer warum tut, sehr unterschiedlich.
Dies spielt sich in den alternativen Medien ab, insbesondere in Deutschland. Anscheinend glauben viele kritische politische Analysten, dass die Corona-Krise ein Fake ist, fabriziert von Medien und Regierungen aus finsteren Motiven. Sie rufen zu Protestdemonstrationen gegen die Ausgangsbeschränkung auf.
Ich kann nicht umhin, darin die Besessenheit bestimmter Oppositioneller zu sehen, sich selbst als gute "anti-autoritäre" Deutsche zu beweisen, die sich dem Nazismus nie gebeugt hätten. Doch ist diese Geltendmachung individueller Freiheit inmitten einer Krise der öffentlichen Gesundheit angebracht?
Die Grenzen der Macht
Kluge Menschen möchten natürlich hinter allem, was geschieht, ein Motiv finden. Früher mögen solche Menschen Theologen gewesen sein, die eine zweifellos höchst mysteriöse Weise erklären wollten, mit der Gott seinen kosmischen Plan umsetzt. Eine Flut, eine Seuche, ein Erdbeben? Dafür musste es einen Grund geben, einen Beweggrund aus menschlicher Sicht. Der Allmächtige bestrafte seine sündige Herde und zeigte ihr damit, wer der Boss ist.
Heute sind etliche Kommentatoren in den alternativen Medien bereit, an die Allmacht nicht Gottes, sondern des Mammons zu glauben, an die Allmacht also der Wall Street und ihrer Partner in Politik, Medien und Militär. Aus dieser Perspektive geschieht nichts Wesentliches, das nicht von den irdischen Mächten aus purem Eigennutz geplant worden wäre:
Der Mammon zerstört die Wirtschaft, damit auch weiter einige wenige Oligarchen alles besitzen. Oder: Der Mammon hat den COVID-19-Schwindel ersonnen, um uns alle einzusperren und uns auch noch des letzten Bisschens Freiheit zu berauben. Oder der Mammon bedient sich schließlich des Virus, um einen Vorwand zu haben, uns alle mit geheimen Substanzen zu impfen und uns in Zombies zu verwandeln.
Ist all das glaubhaft? Ja, in gewisser Weise. Wir wissen ja, dass der Mammon skrupellos und in moralischer Hinsicht aller Verbrechen fähig ist. Doch es passieren sehr wohl auch Dinge, die der Mammon so nicht geplant hat, wie zum Beispiel Erdbeben, Flutkatastrophen oder Seuchen. Die Abneigung gegen die uns beherrschende Klasse – zusammen mit der Abneigung gegen das Eingesperrtsein – führt manche unweigerlich zu der Gleichung: "Sie" benutzen diese (erfundene) Krise nur, um uns einzusperren!
Doch wozu? Für wen ist es von Vorteil, die Bevölkerung einzusperren? Aus reiner Genugtuung, um sich selbst zu sagen: "Ah, jetzt haben wir sie da, wo wir sie haben wollten, alle zuhause eingebuchtet!" Will man so einen Volksaufstand unterdrücken? Welchen Volksaufstand? Wozu sollte man Menschen unterdrücken, die gar nichts mehr tun, was man unterdrücken müsste?
Wozu eine Bevölkerung einsperren, die uneinig, unorganisiert, völlig verwirrt ist – und hier denke ich besonders an die Vereinigten Staaten – aufgrund ideologischer Indoktrination, welche ihr seit Generationen weismacht, ihr Land sei in jeder Hinsicht "das beste", und die deshalb außerstande ist, kohärente Forderungen an ein System zu formulieren, das sie im Grunde rücksichtslos ausbeutet? Muss man seinen treuen Schoßhund einsperren, damit er einen nicht beißt?
Wenn überhaupt, dann könnte das Trauma dieser Situation tatsächlich eine schläfrige Bevölkerung veranlassen, sich der dringenden Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft erst richtig bewusst zu werden. Die Vorstellung, dass die Gefahr besteht, dieser Lockdown könnte von Dauer sein, ist vollkommen unrealistisch und widerspricht jeder Erfahrung früherer Ausnahmesituationen. Im Gegenteil: Eine verlängerte Ausgangssperre führt höchstwahrscheinlich zu Explosionen. Die Frage ist vielmehr: Können diese Explosionen konstruktiv sein?
Geblendet von der Hybris
Statt die Allmacht des Mammons zu beklagen, wäre es konstruktiver, nach Rissen in seiner Ritterrüstung zu suchen, nach seinen Schwächen, nach Möglichkeiten ihn massiv zu diskreditieren, anzuprangern und zu besiegen.
Der Mammon ist von seiner eigenen Hybris geblendet, oft ist er einfältig, inkompetent und verdummt, weil man ihn mit so Vielem so leicht davonkommen lässt. Schauen Sie sich Mike Pompeo oder Mike Pence an – sind das etwa allmächtige Genies? Nein, das sind Typen, die lediglich in einem korrupten System, welches Wahrheit, Tugend oder Intelligenz verachtet, nach oben gelangen konnten, wie die übrigen Verbrecher, die in einem System bar jeder ethischen oder intellektuellen Maßstäbe an der Macht sind.
Die Macht solcher Typen widerspiegelt nur die Tatsache, dass ganze Bevölkerungsgruppen ihre eigene soziale Verantwortung nicht wahrnehmen. Ihr Desinteresse an der Politik erlaubt es zweifelhaften und skrupellosen Figuren, nach oben zu gelangen.
Der Lockdown, den unsere westlichen Regierungen verfügt haben, offenbart mehr Hilflosigkeit denn Macht. Sie haben sich nicht danach gedrängt, uns einzusperren. Der Lockdown ist verheerend für die Wirtschaft, der eigentlich ihre Hauptsorge gilt. Sie haben gezögert und konnten sich erst dazu durchringen, als sie handeln mussten und schlecht gerüstet waren, noch etwas anderes zu tun. Und sie sahen, dass China mit dem Lockdown gute Ergebnisse erzielt hatte. Doch die klugen asiatischen Regierungen haben mehr als nur das getan, sie haben Masken verteilt, Tests und Behandlungen durchgeführt, über die westliche Regierungen nicht verfügten.
Die westlichen Regierungen riefen nach Ausgangsbeschränkungen, als Experten ihnen die Exponentialkurven erklärten. Sie wussten nicht, was sie sonst tun sollten. Immerhin ist noch genug Rest an sozialem Verantwortungsbewusstsein in unseren Gesellschaften vorhanden, um die Regierungen zu verpflichten, die einfachen, klassischen Quarantänemethoden anzuwenden, die während einer Pandemie üblich und nützlich sind.
Natürlich sind in jeder Krise einige in der Position, von der Katastrophe zu profitieren. Die Geier haben das Vieh nicht in den Tod getrieben, um das Aas zu fressen. Wenn es aber daliegt, dann werden sie es verschlingen. Die Finanzmächte der Wall Street könnten die Kongressangehörigen schnell dazu bringen, Gesetze zu verabschieden, um ihnen aus der Klemme zu helfen, während kleine Unternehmen untergehen und die arbeitende Bevölkerung in die Verzweiflung getrieben wird.
Doch auf lange Sicht hat die Wall Street ohne die kleinen Unternehmen, ohne die Arbeiter, die jetzt ihrer Einkommen beraubt werden und nichts mehr ausgeben können, ohne normale wirtschaftliche Aktivität niemanden mehr, den sie aussaugen, den sie ausbeuten könnte. Es ergibt absolut keinen Sinn zu glauben, dass die führenden Wirtschaftsmächte diese ruinöse Krise angestrebt haben, um einen rätselhaften Vorteil für sich selbst zu erlangen.
In der Europäischen Union lehnen es Gläubiger-Staaten – wie Deutschland und die Niederlande – ab, die Europäische Zentralbank "Corona-Bonds" ausgeben zu lassen, um die wirtschaftliche Erholung schwer getroffener Länder – wie Italien und Spanien – zu finanzieren. Das bedeutet, jene Länder müssen sich Geld vom privaten Finanzsystem leihen – und das zu hohen Zinssätzen, die zum Bankrott führen werden.
Das klingt nach einer Gefälligkeit für den internationalen Finanzsektor, der jedoch auf einem unendlich großen, unbezahlbaren Schuldenberg sitzen bleiben wird. Und im Ergebnis wird die Europäische Union gespalten. Das ist nicht im Interesse irgendeines dieser mächtigen Meister des Mammons.
Öffentliche Gesundheit ist keine individuelle Entscheidung
Im Westen werden "Menschenrechte" im Sinne der "Rechte" des Individuums oder einer Minderheit verstanden, sich gegen das sogenannte "Regime" zu stellen – wenn es um andere Länder als das eigene geht. Die Vereinigten Staaten benutzen den verabsolutierten Wert sogenannter "Menschenrechte" als Vorwand, um Staaten, die ihre globale Vorherrschaft ablehnen, ihren Willen mittels Sanktionen und Bomben aufzuzwingen. Der Autorität die Stirn zu bieten, wird als Widerstand gefeiert, ohne sich dabei unbedingt die Details näher anzusehen.
Doch nahezu alle wesentlichen Aspekte jeder zivilisierten Gesellschaft stehen der Verabsolutierung individueller Rechte entgegen. Jede zivilisierte Gesellschaft hat eine Art Rechtssystem, einige grundlegende Regeln, die jeder zu befolgen hat. Die meisten zivilisierten Länder haben ein staatliches Bildungssystem und (mit Ausnahme der USA) eine gesetzliche Krankenversicherung, die der ganzen Bevölkerung zugutekommen soll. Zu diesen Elementen der Zivilisation gehören auch Einschränkungen der individuellen Freiheit.
Die Vorteile, die jeder Einzelne in einer zivilisierten Gesellschaft genießt, bewirken, dass diese Einschränkungen für nahezu alle akzeptabel sind. Die Gesundheit des Einzelnen hängt von der Gesundheit der Gemeinschaft ab. Deshalb akzeptieren in den meisten westlichen Ländern alle ein einheitliches Krankenversicherungs-System. Die einzige Ausnahme sind die Vereinigten Staaten, wo die egozentrischen Ansichten einer Ayn Rand weithin als ernstzunehmende Denkweise gelten.
Der Ausbruch einer Seuche oder einer Epidemie erfordert aber plötzlich abnorme, extrem unangenehme Beschränkungen wie etwa Quarantänen. Es ist ein Fall, in dem die Freiheit des Einzelnen für das Wohl der Allgemeinheit geopfert wird: Die Bewegung des Individuums wird nicht nur für sein eigenes Wohl eingeschränkt, sondern für das Wohl seiner Gemeinschaft und ja – das der ganzen Menschheit.
Das Paradoxon unserer hochtechnisierten Gesellschaften liegt darin, dass wir, je unmöglicher es für die Allgemeinheit (uns alle) ist, lebenswichtige Funktionen und Themen zu verstehen, desto mehr auf Experten und Autoritäten angewiesen sind. Und wir misstrauen umso mehr ebendiesen Experten und Autoritäten und verdächtigen sie, ihre Positionen auszunutzen, um irgendeine geheime Agenda voranzutreiben. Unseren Gesellschaften, in denen die wahre Macht unsichtbarer Kräfte zunehmend undurchschaubar (gemacht) wird, wohnt also eine Art Paranoia inne.
Dieses Paradoxon schlägt bei Themen rund um Fragen der Medizin und der öffentlichen Gesundheit voll durch, umso mehr, da auch die Autoritäten untereinander oft uneins sind. Insbesondere in Deutschland, wo die Krise bislang relativ mild verlaufen ist, behauptet der Mikrobiologe Sucharit Bhakdi, die Angst vor COVID-19 sei künstlich erzeugt und man solle der Natur freien Lauf lassen – schließlich blieben gesunde Menschen verschont und die wenigen, die sterben, wären ohnehin gestorben.
Bleib zuhause und nimm eine Tablette
Diese Ansicht wird von jenen bereitwillig übernommen, die in jeder Regierungsmaßnahme automatisch einen willkürlichen Anschlag auf persönliche Freiheiten wittern. Doch es handelt sich dabei kaum um eine Mehrheitsmeinung in Kreisen der Mediziner weltweit.
Ich habe persönliche Erfahrung mit dem Virus. Ich habe es in Aktion erlebt. Es ist nicht einfach eine schlimme Erkältung oder eine saisonale Grippe. Ja, es gibt leichte Fälle, aber ebenso gibt es tödliche Fälle. Es tötet nicht nur überflüssige ältere Menschen, die offenbar manche Kommentatoren wohl sogar gerne loswerden möchten.
Und doch ist es durchaus vernünftig, den Sinn einer bloßen Ausgangssperre zu hinterfragen. Hier in Frankreich entschieden sich die Behörden mit einiger Verspätung für die Ausgangssperre nur, weil die Krankheit sich verbreitete und man kein anderes Mittel dagegen mehr in der Hand hatte.
Es gab keine Masken. Eine Fabrik in der Bretagne, die den heimischen Markt mit Masken und anderen Medizinprodukten versorgte, war schon vor einiger Zeit von Honeywell aufgekauft und geschlossen worden. Ein Beispiel für die Deindustrialisierung Frankreichs, die auf der Annahme beruhte, dass wir im Westen von unserem Wissen, unseren Ideen, unseren Start-up-Unternehmen leben können, während die Dinge selbst dann ruhig zu Niedriglöhnen in armen Ländern hergestellt werden sollten.
Es gab also keine Masken, und man konnte sie auch nicht unmittelbar herstellen. Außerdem gab es zu wenige Beatmungsgeräte, ja sogar zu wenige Krankenhausbetten. Um mit der Epidemie zurechtzukommen, konnte man den Menschen also praktisch nur noch sagen, sie sollten zuhause bleiben und Paracetamol nehmen.
Sicherlich gibt es bessere Methoden, um damit umzugehen, und unweigerlich wird es nach der Ausgangssperre eine Flut von Kritik am Umgang der Regierung mit der Krise geben und Forderungen nach gründlichen Verbesserungen unseres Gesundheitssystems.
Das Argument, "naja, an der normalen Grippe oder an Krebs oder anderen Krankheiten sterben noch mehr Menschen" zählt nicht, denn diese Erkrankung kommt zu all den anderen, mit denen man rechnet, dazu: Sie überdehnt das bereits strapazierte Gesundheitswesen über die Maßen und bringt es zum Kollabieren.
In Italien hat COVID-19 hundert Ärzte in etwas mehr als einem Monat getötet. Sie wären ohne die Epidemie nicht "sowieso an etwas anderem gestorben".
Normalerweise wählt man in Frankreich den Notruf SAMU 15 und dann kommt für gewöhnlich binnen Minuten der Notdienst. Während der COVID-19-Krise konnte man die Nummer wählen und musste eine Stunde oder länger warten, egal welcher Notfall vorlag. Oder es kam gar keine Hilfe.
Der Hauptzweck der Quarantäne besteht darin, den Druck auf überlastete Systeme zu verringern. Ohne die Ausgangsbeschränkungen wäre die Überlastung noch heftiger ausgefallen. Diese Krise offenbart die Unzulänglichkeit der bestehenden Einrichtungen und den dringenden Bedarf an umfangreichen Programmen, um das öffentliche Gesundheitswesen zu stärken.
Irrationale Furcht vor Impfstoffen
Massenimpfungen sind seit jeher die sicherste Methode, tödliche Krankheiten auszurotten. Sie sind auch ein Beispiel dafür, dass individuelle Freiheiten für das Wohl der Allgemeinheit geopfert werden müssen. Es ist zutiefst verstörend, dass viele intelligente Menschen einen Impfstoff, der zur Bekämpfung dieses Virus entwickelt werden könnte, mehr fürchten als das Virus selbst.
Ein Einwand dagegen lautet, dass die profitorientierte Pharmaindustrie jede Krankheit ausnutzt, um Geld zu verdienen. Doch die Antwort darauf kann nicht sein, Arzneimittel abzulehnen. Das Hauptproblem mit "Big Pharma" ist der entfesselte neoliberale Kapitalismus in den Vereinigten Staaten, verbunden mit dem Fehlen einer einheitlichen staatlichen Krankenversicherung, was es den Pharmaunternehmen erlaubt, unverschämte Preise für ihre Produkte zu verlangen und sich auf die Produktion der profitabelsten zu konzentrieren, statt alle nützlichen Medikamente herzustellen und anzubieten.
Die Antwort darauf ist nicht der Verzicht auf Arzneimittel, sondern die Forderung nach einer stärkeren öffentlichen Aufsicht und Preiskontrolle.
Schließlich sollte (auch) die Pharmaindustrie als eine öffentliche Dienstleistung und nicht als Geschäftsmodell betrachtet und deshalb notfalls auch verstaatlicht werden, so dass die Einnahmen wirklich zur Finanzierung unerlässlicher Forschung eingesetzt werden können und nicht dazu, lediglich Dividenden der Großfinanz zu maximieren.
Die Aussichten unterscheiden sich von Land zu Land. In den Vereinigten Staaten scheint eine gesellschaftliche Kontrolle praktisch unmöglich zu sein, weil die überwiegende Meinung vorherrscht, nur "freies Unternehmertum" könne etwas erreichen. In Frankreich, das gute Erfahrungen mit einer gemischten Wirtschaftsordnung hat, könnte die Verstaatlichung der Pharmaunternehmen politisch durchsetzbar sein – wenn Frankreich nicht unter der Dominanz der Europäischen Union stünde und – weniger direkt – unter jener der Vereinigten Staaten, die immer bereit sind, alles zu tun, um angeblich "sozialistische Maßnahmen" überall auf der Welt zu blockieren.
Der Westen ist nicht mehr das Zentrum
Doch der Westen ist nicht mehr das Zentrum der Welt. Die COVID-19-Krise hat die wachsenden Fähigkeiten und die humanere Gesinnung in Ostasien gezeigt. Es wird Impfstoffe geben, die in China, in Russland und in anderen Ländern außerhalb der NATO-Sphäre entwickelt werden. Ihre Erfolge werden das Monopol der westlichen "Big Pharma" brechen.
In Europa, und insbesondere in Frankreich, Italien und Spanien, verstärkt die völlige Desillusionierung über die Europäische Union den Trend, zur nationalen Souveränität zurückzukehren. Und souveräne Staaten, die in der Lage sind, auf die Forderungen ihres Volkes einzugehen, können sich von dem Diktat der Großfinanz lösen, um die Demokratie in angemesseneren Formen zu erneuern.
In Frankreich fordern Gewerkschaften und Progressive einen besseren Schutz der Bevölkerung, angefangen bei all jenen unverzichtbaren Arbeitskräften, die in Krankenhäusern und Lebensmittelgeschäften arbeiten, bei Busfahrern, Lieferanten, all jenen, die von ihren eingesperrten Landsleuten zunehmend geschätzt werden und die entsprechend ihres Dienstes für die Allgemeinheit entlohnt werden müssen.
Vielleicht aufgrund der langen Tradition sozialer Kämpfe in Frankreich – einschließlich der Gelbwesten-Bewegung, die nicht am Ende, sondern nur ausgesetzt ist – kann man sicher sein, dass nach der Ausgangssperre massenhaft Forderungen gestellt werden, die Hirngespinste des neoliberalen Globalismus aufzugeben und ein System aufzubauen, in dem das Wohl der Menschen an erster Stelle steht.
In Deutschland hingegen wollte ein "Linker" im Zusammenhang mit der Corona-Krise eine Petition initiieren, in der Personen über 75 Jahre erklären sollten, dass sie im Krankheitsfall auf medizinische Behandlung verzichten, um jüngeren Menschen den Vortritt zu lassen. Dies ist jedoch zweifellos nur eine weitere Variante der sogenannten Identitätspolitik, in der Klassifizierung von Menschen nach Gruppen – und wäre damit ein Schritt zur Wiederbelebung der schlimmsten Eugenik zu Zeiten des sogenannten "Nationalsozialismus".
Was ist zivilisiert und was ist barbarisch? Das Beharren auf einem System, das allen die gleiche Fürsorge gewährt, oder die Entscheidung, dass die Älteren für die anderen geopfert werden? Was ist dies anderes als ein Vorschlag, auf Menschenopfer zurückzugreifen, um dem Mammon zu gefallen?
Für die Zivilisation
Einfach nur Alarm zu schlagen, weil die herrschende Klasse schrecklich ist, bringt uns nirgends hin. Es sei denn, wir haben eine Vorstellung von einer echten Alternative – nicht nur "Widerstand" zu leisten, sondern etwas anderes und Besseres vorzuschlagen und dafür auch zu kämpfen.
Beginnen wir mit einem ganz konkreten praktischen Thema und arbeiten wir uns von dort aus weiter vor: die Impfung. Wie andere Aspekte der Gesundheitsversorgung ist dies eine Frage des kollektiven Wohlergehens und nicht der individuellen Rechte. Es handelt sich nicht um ein Element des "Widerstands gegen Unterdrückung", sondern um die Weiterentwicklung der Zivilisation.
Das Coronavirus hat die Notwendigkeit von Impfstoffen nicht widerlegt – etwa mit der Begründung, dass "sie" sie gegen uns einsetzen wollen –, sondern im Gegenteil: Es zeigt, wie notwendig es ist, dass Impfstoffe unter angemessener Aufsicht zum Wohle der Allgemeinheit entwickelt werden und nicht als Mittel für Big Pharma, größere Dividenden für BlackRock zu erzielen.
Das Problem mit Impfstoffen ist also nicht die Impfung selbst, sondern der Kapitalismus, der völlig außer Kontrolle geraten ist. Einst war in den USA die Food and Drug Administration (FDA) ein zuverlässiger Kontrolleur pharmazeutischer Innovationen. In den letzten Jahrzehnten wurden solche Kontrollorgane zunehmend von jenen Firmen, die eigentlich kontrolliert werden sollten, übernommen und in bloße Durchwink-Instanzen umgewandelt.
Alarm wird auch wegen der angeblichen Rolle von US-amerikanischen Milliardären wie beispielsweise Bill Gates geschlagen, dessen philanthropische Institutionen im Verdacht stehen, Impfstoffe für verborgene schändliche Zwecke zu manipulieren.
Abhilfe wird nicht dadurch geschaffen, vor Medikamenten und Impfungen zu fliehen, sondern darin, diese überdimensionierten diktatorischen Mächte zu zerschlagen und eine Gesellschaft aufzubauen, die zu Recht als zivilisiert bezeichnet werden kann, weil sie ein Gleichgewicht zwischen kollektivem und individuellem Wohlergehen herstellt. Natürlich sind es zwei Paar Stiefel zu sagen, was getan werden sollte, und zu wissen, wie man es umsetzen soll. Aber ohne eine Vorstellung davon, was getan werden sollte, wird es nicht einmal Anstrengungen geben herauszufinden, wie es getan werden sollte.
In den Vereinigten Staaten wäre es unumgänglich, bestimmte wesentliche Tätigkeiten als öffentliche Dienstleistungen zu betrachten. Dies erfordert eine Reformdynamik, die einer Revolution gleichkäme, wenn auch nicht einmal solch eine, die von marxistischen Revolutionären für Situationen beschrieben wird, die es nicht mehr gibt. Arzneimittel und Krankenhäuser sind öffentliche Dienstleistungen und müssen gesellschaftlich kontrolliert werden. Auch das Internet ist zu solch einem öffentlichen Dienst geworden.
Wie sollte man damit umgehen? Innovatoren, die sich der Mechanismen des freien Marktes bedient haben, um ihren Sektor als ein Monopol zu kontrollieren, sollten dazu angehalten werden, eine ihrer Villen als Residenz zu behalten, wenn sie sich in die Rolle des Beraters zurückziehen. Ihre unverhältnismäßig riesigen akkumulierten Gewinne sollten in die Staatskasse einfließen.
Ich befürworte keine "kommunistische Revolution", schon gar nicht für die Vereinigten Staaten. Ich plädiere für eine gemischte Wirtschaftsordnung, die verschiedene Formen annehmen kann, vom Frankreich der 1960er Jahre bis zum heutigen China. Die Schalthebel über die Wirtschaft sollten unter gesellschaftlicher Kontrolle stehen, um sicherzustellen, dass größere Investitionen einem sozialen Zweck dienen.
Die Formen dieser Kontrolle können variieren. In den Vereinigten Staaten von Amerika sollte die erste Aufgabe der Tonangebenden sein, nicht mehr in die aberwitzig verheerende Waffenproduktion zu investieren und stattdessen die heimische Infrastruktur und in Maßnahmen zur Integration aller Bürger in eine wirklich zivilisierte Gesellschaft zu sichern. Eine solche gemischte Wirtschaftsordnung schafft ein günstiges Umfeld für den Zuwachs an kleineren unabhängigen Unternehmen, die innovativ werden können.
Mir ist vollkommen bewusst, dass die Vereinigten Staaten heute ideologisch Lichtjahre von einem solch vernünftigen Projekt entfernt sind. Aber in anderen Ländern sind Entwicklungen im Gange, um der Bedrohung durch Big Pharma und die Einmischung amerikanischer Milliardäre etwas entgegenzusetzen. Ein Begriff, der für solche Entwicklungen steht, ist die "Multipolarisierung".
Das ist der von Wladimir Putin im Jahr 2007 hörbar lancierte Slogan. Damit trieb er seither die westlichen Champions der unipolaren Globalisierung in Rage. Davon haben sie sich noch lange nicht erholt. Man denke nur an das überaus provozierende "Defender Europe 2020"-Militärmanöver, eine Atomkriegsübung direkt an der russischen Grenze – und von COVID-19 zumindest vorübergehend lediglich ausgesetzt.
Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Satelliten führen faktisch Krieg gegen die freie Welt – das heißt gegen Länder, die wirklich frei sind von US-Dominanz –, um ein verborgenes neoliberales Regime global durchzusetzen: eine durch manipulierte Wahlen gebilligte globale Finanzherrschaft.
Dennoch ist die unipolare Globalisierung bereits im Zustand der Auflösung. Alle Diffamierungen Chinas können die Tatsachen nicht ändern. Während die US-Propagandisten ihren aufsteigenden Rivalen in Ostasien mit ätzender Kritik überziehen, sieht ein Großteil der Welt, dass China der Epidemie mehr professionelles Know-how entgegensetzen konnte als der Westen. Die Kontrolle der Vereinigten Staaten über internationale Organisationen wird durch den wachsenden chinesischen Einfluss – insbesondere in der Weltgesundheitsorganisation – bedroht.
Das ist die größte Bedrohung auch für Big Pharma: eine multipolare Welt. Bill Gates und die US-Pharmaunternehmen werden kein Monopol mehr an der Entwicklung von Impfstoffen zur Bekämpfung von COVID-19 haben. Eine dramatische Verschiebung von der neoliberalen Globalisierung hin zu einer multipolaren nationalen Souveränität wird einen echten Wettbewerb wiederherstellen – nicht nur bei der Produktion von Impfstoffen, sondern auch in den gesellschaftlichen Organisationen.
Mögen die westlichen Länder sich um ihre eigenen Probleme kümmern und Lösungen finden. Mögen andere Länder sich nach Leitbildern entwickeln, die ihrer Geschichte, Philosophie und den Forderungen ihrer Völker entsprechen. Es liegt auf der Hand, dass die vielgerühmte "freie Marktdemokratie" der USA kein Modell ist, das jedem Land der Erde, ja nicht einmal den Vereinigten Staaten selbst, aufgezwungen werden sollte.
Die gemischte Wirtschaftsordnung kann verschiedene Formen annehmen. Einige könnten sich zu etwas entwickeln, was man als Sozialismus bezeichnen könnte, andere nicht. Möge jedes kleine Land so unabhängig sein wie Island. Möge die Welt verschiedene Wege beschreiten. Lasst hundert Blumen blühen!
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Dieser Artikel erschien zuerst auf Consortiumnews.com in der Übersetzung von Susanne Hofmann.
Diana Johnstone studierte russische Regionalwissenschaft/Slawistik und promovierte in französischer Literatur. Sie lebt seit vielen Jahren in Paris und ist als freie Journalistin für verschiedene US- und internationale Medien tätig. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem "The Politics of Euromissiles: Europe's Role in America's World", "Fools' Crusade: Yugoslavia, NATO, and Western Delusions", "Queen of Chaos: The Misadventures of Hillary Clinton", in deutscher Übersetzung "Die Chaos-Königin: Hillary Clinton und die Außenpolitik der selbsternannten Weltmacht" und "Circle in the Darkness; Memoirs of a World Watcher". Sie schrieb das Vorwort und Kommentare zu den Memoiren ihres Vaters Dr. Paul H. Johnstone, ehemaliger leitender Analytiker der Strategic Weapons Evaluation Group (WSEG) im Pentagon, "From Mad to Madness".
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