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Widerstand gegen ukrainische Mobilmachung: Odessa wird zur Hochburg

Eine Welle von Brandstiftungen an Militärfahrzeugen erfasst die Ukraine. So wurden in der Nacht auf den 17. Juli in Odessa fünf Autos abgegebrannt. Nach Meinung von Experten handele es sich dabei um spontane Ausbrüche von Unzufriedenheit, die aber noch politische Formen annehmen könnten.
Widerstand gegen ukrainische Mobilmachung: Odessa wird zur HochburgQuelle: Gettyimages.ru © SOPA-Images

Von Andrei Restschikow

In Odessa und anderen ukrainischen Städten setzen sich Brandstiftungen von Fahrzeugen fort, die Mitarbeitern der lokalen Musterungsbehörden (TZK) gehören. In der Nacht auf den 17. Juli vernichteten die Partisanen in Odessa fünf Dienstfahrzeuge, wie die städtischen Sicherheitsbehörden berichteten.

Nach Angaben des ukrainischen Nachrichtenportals Strana brannten Militärfahrzeuge in jener Nacht auch in Dnjepropetrowsk, Winniza, Charkow und Rowno. Ermittler leiteten Verfahren wegen der Behinderung der Tätigkeit der Streitkräfte der Ukraine ein. Nach Behauptung von Strana stehen hinter den Brandstiftungen Ukrainer, die von Russland angeworben wurden. Angegriffen werden nicht nur Fahrzeuge der Musterungsbehörden, sondern auch Privatwagen ihrer Mitarbeiter.

Die erste Welle von Brandstiftungen von Militärfahrzeugen erfasste die gesamte Ukraine im Juni. Kurz davor war das Gesetz über die Verstärkung der Mobilmachung in Kraft getreten. Eine der Bestimmungen dieses Gesetzes verpflichtete sämtliche Wehrpflichtige, innerhalb von 60 Tagen ihre Personaldaten bei der Musterungsbehörde zu aktualisieren. Besonderen Unmut rief unter Ukrainern die Bestimmung, dass der Musterungsbescheid auch dann als ausgehändigt gilt, wenn der Rekrut ihn nicht persönlich gesehen hat. Unter der Bevölkerung wird diese Mobilmachung als "gewaltsam" bezeichnet.

Neben Brandstiftungen von Fahrzeugen werden Sabotageakte an Eisenbahnen und anderen Infrastrukturobjekten verübt. Im Juni erschienen zahlreiche Meldungen über Beschädigungen von Schaltschränken und Umspannwerken in den Gebieten Nikolajew, Odessa, Sumy und Tscherkassy.

In der vergangenen Woche brannten in Odessa vier Autos nieder, die ukrainischen Militärangehörigen gehörten. Ukrainische Medien meldeten, dass landesweit Wagen von Militärangehörigen in Brand gesetzt werden, weil man sie für Fahrzeuge der Musterungsbehörden hält. Neben Odessa und Rowno ereigneten sich solche Brandstiftungen in Lwow, Kalusch und im Gebiet Iwano-Frankowsk. Einige Militärangehörige versehen ihre Fahrzeuge mit der Aufschrift "Kein TZK", um sie vor einer Zerstörung zu bewahren.

Seit dem 17. Juli wurden die Mobilmachungsvorschriften in der Ukraine gemäß dem zuvor verabschiedeten Gesetz noch weiter verschärft. Ab jetzt müssen potenzielle Militärangehörige, das heißt, alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren, bei jedem Verlassen des Hauses ihren Wehrpass mit sich führen. Fehlen im Dokument Angaben über eine militärärztliche Begutachtung innerhalb des vergangenen Jahres, kann seinem Inhaber ein Musterungsbescheid an Ort und Stelle ausgehändigt werden.

"Hinter den Brandstiftungen von Fahrzeugen könnten unterschiedlichste Motivationen stecken. Wenn man von einem Untergrund spricht, sind das keine weitverzweigten Organisationen mit Dutzenden oder Hunderten von Mitgliedern. Gegenwärtig sind Strafeinheiten der Strafbehörden in der Ukraine technisch so gut ausgestattet, dass solche größeren Organisationen schnell aufgedeckt und vernichtet werden, wie es in Odessa in den Jahren 2014–2015 geschah", erklärt Alexandr Wassiljew, ehemaliger Stadtrat von Odessa, Historiker und Publizist.

"Der lokale Untergrund in Odessa wird durch jene Menschen genährt, die eine äußerst negative Einstellung zur gegenwärtigen ukrainischen Wirklichkeit haben. Doch man sollte verstehen, dass jeder effektive Untergrundkampf ohne eine Hilfe von außen, ohne einen anderen Staatsapparat, der seine Kapazitäten für einen solchen Kampf zu Verfügung stellen würde, unmöglich ist", fügt er hinzu.

Wassiljew zufolge werden Brandstiftungen von Militärfahrzeugen, Schaltschränken und sonstiger Infrastruktur entweder von Einzelgängern oder von kleinen Gruppen, die keine Verbindung untereinander haben, verübt. Darüber hinaus gelinge es in den meisten Fällen nicht, die Schicksale jener Menschen zu klären, die nach Behauptungen ukrainischer Militärs bei einer Brandstiftung von Militärfahrzeugen ertappt wurden. "Es gibt keine Angaben über Gerichtsurteile, als würden sich Menschen in Luft auflösen", erklärte der Experte.

Nach Informationen lokaler Medien wurden am 26. Juni in Odessa zwei Männer festgenommen, die angeblich "im Auftrag des FSB Russlands" Brandstiftungen von Militärfahrzeugen vorbereitet haben sollen. Über ihr weiteres Schicksal erschienen keine Angaben. Anfang Juli nahm der Sicherheitsdienst der Ukraine zwei weitere "FSB-Agenten" fest, die als Brautpaar getarnt angeblich Unterkunftsorte von Meeresgrenzschutzeinheiten erkundet hätten.

Die Brandstiftungen von Militärfahrzeugen werden auch andere Städte und Regionen erfassen, ist sich Wassiljew sicher: "In unterschiedlichen Regionen ist der Widerstand gegen die Mobilmachung unterschiedlich, doch im Hinblick auf die Anzahl von Brandstiftungen und von Menschen, die mit Gewalt aus den Krallen von Musterungsbeamten gerettet werden, steht Odessa an der Spitze. Das spiegelt die allgemeine Stimmung in der Stadt wider. In Odessa haben solche Fälle Systemcharakter und reflektieren die Stimmungen eines bedeutenden Bevölkerungsanteils."

Dennoch sollten solche Brandstiftungen nicht als Erscheinung eines klar ausgeprägten politischen Protests betrachtet werden, meint der ukrainische Politologe Wladimir Skatschko. "Bisher ist es eher spontane Unzufriedenheit und Rache. Mitarbeiter der TZK profitieren vom Elend der Bevölkerung. Sie kassieren Bestechungsgelder für die Möglichkeit einer Freistellung vom Wehrdienst, kaufen sich teure Autos und Immobilien. Deswegen nehmen Verwandte von Menschen, die in den Tod an die Front geschickt werden, einfach Rache", vermutet er.

Ein politischer Kontext von solchen Aktionen wachse erst noch heran, fügt der Politologe hinzu. "TZK werden als ein Instrument der Militarisierung der Gesellschaft angegriffen. Doch in keinem dieser Fälle sehe ich politische Gesten. Selbst bei der Straßenblockade in Iwano-Frankowsk, wo TZK-Mitarbeiter Anfang Juli Urlauber einzogen, schrie niemand: 'Nieder mit dem Krieg, nieder mit Selenskij!' Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen den Losungen 'Wir wollen nicht kämpfen' und 'Nieder mit dem Krieg'. Bis zum Zweiten muss man erst noch kommen."

Gleichzeitig betont Wassiljew, dass die Anzahl von Brandstiftungen zunehme. "Trotz der Repressalien nimmt die Anzahl solcher Sabotageakte zu. Das bedeutet, dass Menschen, die diese verübten, nicht gefasst werden konnten. In Anbetracht dessen könnten sich weitere zweifelnde Stadtbewohner ebenfalls zu ähnlichen Taten entschließen", erklärt der Experte.

Wie lange sich all dies fortsetzen wird, hängt von den Möglichkeiten der ukrainischen Behörden ab. "Theoretisch wären ukrainische Geheimdienste in der Lage, die Millionenstadt auf den Kopf zu stellen und flächendeckende Wohnungsdurchsuchungen zu organisieren. Doch das wird riesige Ressourcen und einen Abzug der Kräfte von der Front erfordern", erklärt Wassiljew.

Nach seiner Meinung gebe es in der Gesellschaft eine allgemeine Erschöpfung vom Krieg und einen Wunsch, die Situation irgendwie zu ändern. "Die Hauptfrage eines Durchschnittsbürgers lautet: Wann nimmt das alles ein Ende? Die Menschen sehen, dass solche Sabotageakte unter anderem zur Kapitulation der Ukraine beitragen könnten", sagt der Experte.

Neben Brandstiftungen von Autos und sonstiger Infrastruktur kommen von den Bewohnern Odessas zahlreiche Angaben über die Lage von Militärobjekten, die darauf von russischen Marschflugkörpern und Drohnen angegriffen werden. "In diesem Fall handeln die Menschen aus aufrichtiger Überzeugung", erklärt der Odessit.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 17. Juli bei Wsgljad.

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