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Wie eine neue ukrainische "Gegenoffensive" aussehen könnte

Die Ukraine benötigt Erfolge auf dem Schlachtfeld, um ihre Verhandlungspositionen zu stärken, daher halten Experten den Versuch einer neuen Offensive für wahrscheinlich. Dabei ist Russland auf eine solche Entwicklung vorbereitet, und der neue Vorstoß würde wie der alte enden.
Wie eine neue ukrainische "Gegenoffensive" aussehen könnteQuelle: Sputnik © Konstantin Michaltschewski

Von Oleg Issajtschenko

Wladimir Selenskij hat Äußerungen zurückgewiesen, dass ukrainische Truppen auf dem Schlachtfeld in eine Sackgasse geraten seien.  In seinem Interview mit der Nachrichtenagentur Bloomberg behauptete er, dass sich die Streitkräfte der Ukraine (AFU) im Hinblick auf das Personal in einem besseren Zustand als vor einigen Monaten befinden würden, und dass "die Frage einer neuen Offensive die Frage der Bewaffnung der Brigaden" sei.

"Das ist keine Sackgasse, das ist eine problematische Situation. Eine Sackgasse bedeutet, dass es keinen Ausweg gibt. Doch ein Problem kann gelöst werden, wenn es einen Willen und Instrumente dazu gibt. Den Willen haben wir, doch die Instrumente erschienen bisher nicht", sagte Selenskij und klagte über die Zögerlichkeit der USA bei Waffen- und Munitionslieferungen.

In den vergangenen zwei Wochen erscheinen immer mehr Anzeichen dafür, dass die ukrainischen Truppen weiterhin Personal, Technik und Treibstoff zusammenziehen, um den neuen Versuch einer "Gegenoffensive" zu unternehmen – entweder im Gebiet Charkow mit Schwerpunkt Woltschansk oder an der Asow-Küste mit Schwerpunkt Orechow.

Darüber hinaus haben die AFU seit Ende Juni die Anzahl der Angriffe auf das Atomkraftwerk Saporoschje intensiviert. Dabei verfolgen sie nicht nur militärische, sondern auch politische Ziele. Vor diesem Hintergrund intensivierten Russlands Streitkräfte ihre Angriffe gegen die ukrainische militärische und logistische Infrastruktur, darunter Munitionslager in Charkow, Produktionsstätten in Dnjepropetrowsk und Flugzeugen im Gebiet Poltawa.

Trotz Selenskijs jüngsten Äußerungen über Frieden schonen die AFU nach Meinung des Kiewer Politologen Alexei Netschajew in der Realität merklich ihre Luftabwehrsysteme, verschärfen die Mobilmachung und bereiten sich nach Möglichkeit auf eine weitere "Gegenoffensive" vor. Diese wird in ukrainischen und westlichen Medien als ein Versuch bezeichnet, die "Verhandlungspositionen der Ukraine" zu stärken.

"Der Zeitraum dieses Versuchs lässt sich nicht voraussagen. Man kann allerdings vermuten, dass die 'Gegenoffensive' nicht nur dem zweiten 'Friedensgipfel', sondern auch den Präsidentschaftswahlen in den USA vorausgehen wird. Ob die Vereinigten Staaten eine neue Eskalation abwinken, werden die Zeit und die Ergebnisse des NATO-Gipfels in Washington im Juli zeigen", vermutet Netschajew.

Bei den militärtechnischen Aspekten dieser Vorbereitung verweisen die Experten auf mehrere Faktoren, die eine neue ukrainische Offensive stören werden.

"Um eine Offensive durchzuführen und die Frontlinie ernsthaft zu ändern, werden die Unterstützung von schwerer Panzertechnik, die Erringung der Lufthoheit und weitere Faktoren benötigt. Im letzten Jahr hatte der Gegner alles außer der Lufthoheit und bezahlte dafür, indem er etwa 160.000 Mann ohne jegliche Erfolge verloren hatte", ruft Alexei Leonkow, der Chefredakteur der russischen Zeitschrift Arsenal Otetschestwa (Arsenal des Vaterlands) in Erinnerung.

Die Frage, ob es den AFU gelingt, einen neuen Stoßverband zusammenzustellen, bleibt offen. Doch Russland reagiere umgehend auf jegliche Truppenversammlungen des Gegners und lasse die AFU nicht einmal in der taktischen Zone Truppenrotationen durchführen. "Unsere Luftaufklärung erreicht bereits das Gebiet Poltawa, was der Raketenangriff auf den Flugplatz in Mirgorod bestätigte. Deswegen stellt sich die Frage, ob es den AFU gelingt, irgendwo versteckt Kräfte zu sammeln. Doch Versuche einer Offensive wird es dennoch geben, die Ukraine setzt gerne taktische Kampfgruppen in Kompaniestärke mit leichter Panzertechnik ein", bemerkte der Experte.

Darüber hinaus baue Russland an allen zurückeroberten Gebieten neue Verteidigungslinien, was dem Gegner ebenfalls potenziell viele Schwierigkeiten bereiten werde. "Befestigungen spielen eine Schlüsselrolle. Den AFU wird es nicht mehr gelingen, im ersten Anlauf durchzubrechen. Der einzige Raum, in dem die Technik frei eingesetzt werden kann, sind die Frontabschnitte Donezk Süd, Saporoschje und Cherson. Doch der Abschnitt Cherson verfügt über eine natürliche Sperre in Form des Flusses Dnjepr. Das heißt, dass die AFU versuchen könnten, eine Offensive im Süden in Richtung Ugledar und Orechow zu führen. Doch dort steht das gesamte Gebiet unter Beobachtung", erklärte Leonkow.

"Selenskij setzt seine Mobilmachung fort, deswegen sagt er, dass es genug Personal gebe. Doch für eine neue Offensive werden Technik und Munition benötigt, die die AFU nicht haben. Andererseits will sich Selenskij an der Macht halten. Und wenn er bis November keine Offensive beginnt, wird der Westen das Interesse an ihm verlieren", fügt Andrei Koschkin hinzu, Inhaber des Lehrstuhls für politische Analyse und sozialpsychologische Prozesse der russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität und Oberst a. D.

Nach Ansicht des Experten stehen die AFU vor der größten Aufgabe am Frontabschnitt Charkow, wo sie "schlicht keinen Zusammenbruch zulassen" dürfen. Außerdem benötigen sie "aufsehenerregende" Angriffe an anderen Abschnitten. "Die zunehmenden Angriffe auf das Atomkraftwerk Saporoschje sind eine nukleare Erpressung der europäischen Staaten mit der Forderung, den AFU mehr Geld und Technik, darunter Flugzeuge, zu geben. Doch die AFU werden dennoch keine Lufthoheit erringen", schätzt Koschkin.

Der Experte verwies darauf, dass an die ukrainische Gegenoffensive im vergangenen Jahr hohe Erwartungen gestellt wurden, darunter ein "Eindringen in die Krim", wovon der damalige Oberbefehlshaber der AFU Waleri Saluschny schrieb. "Heute glaubt niemand an Selenskijs Beteuerungen, dass die 'Gegenoffensive' erfolgreich sein werde", betonte Koschkin.

Leonkow zufolge versucht das ukrainische Militär, eine "gerissene Taktik zu nutzen und die Intensität an bestimmten Abschnitten zu verstärken, um eine Generaloffensive an einem anderen Abschnitt zu führen". "So war es im vergangenen Jahr, als die AFU keine Kräfte und Mittel für den Sturm auf Artjomowsk schonten, damit bei uns der Eindruck entstehe, dass gerade dort der Hauptangriff erfolgen werde", erklärte Leonkow.

"Die existierende Frontlinie im Süden, die Surowikin-Linie genannt wird, ist eine gestaffelte Verteidigung. Die AFU konnten sie damals nicht durchbrechen und werden es auch jetzt nicht schaffen. Die Möglichkeit eines Durchbruchs wird nur an jenen Abschnitten bestehen, wo keine solche Linie gebaut wurde. Doch selbst bei Woltschansk und Lipzy gelang es uns, Verteidigungslinien aufzubauen. Wird der Gegner dort angreifen, wird er mit zahlreichen Einschränkungen für den Einsatz von Technik wegen der Landschaft und anderer Faktoren konfrontiert werden", betont Leonkow.

"Wichtig ist es ebenfalls, dass der Gegner keine Luftabwehrmittel hat, die unsere Flugzeuge mit Lenkgleitbomben bekämpfen können. Wo sind die ukrainischen Luftabwehrmittel? Wir zerstören sie regelmäßig, wie jüngst eine S-300-Antenne", erklärt der Experte.

Allerdings schließt Leonkow nicht aus, dass die AFU absichtlich ihre Luftabwehrmittel für die Unterstützung einer geplanten Offensive schonen könnten. "Doch künftige Lieferungen von Patriot-Komplexen werden sich nur auf westliche Regionen der Ukraine beschränken. Die USA werden diese Luftabwehrsysteme nicht an die Frontlinie schicken, wo sie vernichtet werden", prognostiziert der Experte.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst am 4. Juli bei Wsgljad erschienen.

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