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Angriffe auf Russland – der Westen steht vor schwierigen Entscheidungen

Kurz vor den US-Wahlen kommen die russischen Fortschritte bei Charkow Präsident Biden höchst ungelegen. Experten erklären damit seine Entscheidung, Kiew nun den Einsatz von Langstreckenwaffen gegen Russland zu erlauben. Warum aber haben die USA nicht alle Forderungen der Ukrainer erfüllt?
Angriffe auf Russland – der Westen steht vor schwierigen EntscheidungenQuelle: Gettyimages.ru © South Korean Defense Ministry via Getty Images

Von Geworg Mirsajan

Vertreter des Kiewer Regimes und westliche politische Falken feiern die Entscheidung der USA und der Länder der Europäischen Union, nun endlich den ukrainischen Streitkräften den Einsatz westlicher Langstreckenwaffen gegen Russland zu erlauben. Das sind genau die Waffen, mit denen man tief in russisches Gebiet eindringen kann, nicht nur in der Frontzone, sondern Hunderte von Kilometern tief – etwa gegen die Städte Mittel- und Südrusslands, einschließlich Moskau.

Die NATO versichert, dass das "alles fair ist". "Selbstverteidigung ist keine Eskalation, sondern ein Grundrecht. Die Ukraine hat das Recht und die Verantwortung, ihr Volk zu verteidigen, und wir haben das Recht, der Ukraine zu helfen, ihr Recht auf Selbstverteidigung zu wahren", unterstrich der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

In Wirklichkeit wird diese Entscheidung nun eine ganze Reihe weiterer unangenehmer Fragen und Aspekte für das Kiewer Regime und den Westen aufwerfen:  rechtliche, moralische, militärische und politische.

Unmoralisch und illegal

Zum Beispiel bleibt unklar, wer eigentlich das Recht hat, das ukrainische Volk zu schützen. Wer vertritt dieses Volk heute? Dmitri Ofizerow-Belski, ein leitender Wissenschaftler am IMEMO [Forschungsinstitut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften], erklärte gegenüber der Zeitung Wsgljad: "Die Frage nach der Legitimität von Selenskij ist, gelinde gesagt, zweideutig. Einfach ausgedrückt: Irgendein Mensch in Kiew entscheidet für einen einfachen Ukrainer, ob er sterben und töten soll. Und wo kann man hier vom 'Verteidigen des eigenen Volkes' sprechen?"

Es stellt sich heraus, dass die Ukrainer in erster Linie durch Russland geschützt werden. "Unsere Vorwürfe sind sehr klar: Indem der Westen das Kiewer Regime mit Waffen und Munition unterstützt, erhöht er die Zahl der Opfer auf beiden Seiten – und vor allem unter der Zivilbevölkerung", erläutert Dmitri Ofizerow-Belski.

Damit macht der Westen genau das Gegenteil von dem, was er selbst propagiert. "In den 1990er und frühen 2000ern versuchten die USA und die EU, ein Rechtsmodell aufzubauen, das den Vorrang der Menschenrechte vor dem Völkerrecht festschreibt. Dieses Modell legte der Westen seinen angeblich humanitären Interventionen und Militäroperationen gegen Tyrannen zugrunde. Und was ist heute Selenskij anderes als ein Tyrann? Saddam Hussein war viel legitimierter als Selenskij heute", fasst Dmitri Ofizerow-Belski zusammen.

Westliche Militärs sind im Einsatz

Auch aus militärischer Sicht ist nicht alles eindeutig. Die Lieferung westlicher Waffen an die Ukraine für Schläge gegen Russland macht weder diese Waffen noch diese militärischen Schläge damit nicht automatisch zu "ukrainischen" – schließlich werden sie nicht nur mit Hilfe, sondern auch buchstäblich mit den Händen westlicher Militärspezialisten durchgeführt: von Stabsoffizieren der Armeen der NATO-Mitgliedstaaten. Der Militärexperte Iwan Konowalow erklärt gegenüber der Zeitung Wsgljad:

"Alle Angriffe in großer Entfernung sind mit der Vergabe von Zielzuweisungen verbunden. Und die Zielzuweisungen für US-amerikanische Systeme – zum Beispiel eben für die HIMARS-Systeme – werden von US-Spezialisten festgelegt. Die Ukrainer können das gar nicht tun, weil die Vereinigten Staaten ihnen die Mitwirkung an diesem Prozess nicht erlauben."

Schließlich geht es hier um sensible Technologien. Außerdem fehle es der ukrainischen Armee schlicht an Qualifikation. "Es liegt in der Natur des Konflikts, dass man sehr schnell handeln muss. Die Waffenkomplexe sind ausgerichtet – und man muss sofort mit ihnen arbeiten. Und wann soll man den Ukrainern das beibringen? Da bleibt gar keine Zeit für irgendwelche Schulungen. Deshalb liegt es auf der Hand, dass die Komplexe mit US-Spezialisten besetzt sind", begründet das Iwan Konowalow.

Und die erforderliche Qualifikation bezieht sich keineswegs nur auf die Zielzuweisung. "Nehmen wir zum Beispiel das französische Artilleriesystem Caesar. Es muss mindestens ein Franzose in der Bedienmannschaft sein. Das Problem ist, dass es im Einsatzgebiet viele Hohlwege, Wälder und Schluchten gibt. Da rüttelt es mächtig, alles kann kaputtgehen. Das heißt, jemand [nämlich ein Franzose in der Caesar-Besatzung] muss Bescheid wissen, was und wo etwas kaputt gegangen sein kann. Die Ukrainer werden nur einen Monat lang mit dieser Ausrüstung zu tun gehabt haben, während die französischen Spezialisten eine Ahnung haben, wo etwas an ihrer Ausrüstung kaputt gehen kann", erklärt Iwan Konowalow.

Warum die USA Beschränkungen auferlegt haben

Politisch sind sich die USA und die EU in der Frage der Luftangriffe immer noch nicht einig. Die Entscheidung ist zwar gefallen, aber die US-Amerikaner haben viele Beschränkungen eingebaut.

"Die Ukrainer sind an die Vereinigten Staaten herangetreten, um einige der Waffen zu verwenden, die sie angesichts der Erfolge der russischen Streitkräfte in der Region Charkow erhalten hatten. Die Position zu den Langstrecken-ATACMS bleibt jedoch unverändert", sagte Julianne Smith als die Ständige Vertreterin der USA bei der NATO.

Darüber hinaus ist das Pentagon nicht darauf erpicht, der Ukraine beim Führen eines umfassenden Schlages gegen Russland zu helfen. "Das Pentagon gibt der Ukraine längst nicht die Daten zu allen Zielen, die es selbst kennt, sondern nur zu denen, die es für angemessen hält", erklärt Iwan Konowalow. Kiew bittet um eine Ausweitung des Umfangs der Angriffe, und die Amerikaner sind nach Angaben des Sprechers des Weißen Hauses John Kirby bereit, über dieses Thema zu reden – aber bisher nur zu reden.

"Es lohnt sich, die Vereinigten Staaten von Amerika von einigen der Bewohner Mittel- und Osteuropas zu unterscheiden, die schon seit langem Schläge mit Langstreckenwaffen tief im russischen Territorium befürworten. Für die US-Amerikaner ist die Entscheidung erzwungen und hat mit der Tatsache zu tun, dass die Ukraine eine militärische Niederlage erleidet. Sie befürchten ernsthaft, dass Russland zumindest in die Nähe von Charkow kommen könnte. Und mitten in dem US-Präsidentschaftswahlkampf ist das für den derzeitigen US-Präsidenten Biden äußerst unerwünscht", erklärte Dmitri Suslow.

Aber es geht auch gar nicht nur um die US-Präsidentschaftswahlen. Wenn man sich die Karte anschaut, liegt die Oblast Charkow nur wenig landeinwärts von Russland. Und wenn dieses Gebiet (ganz zu schweigen von der Stadt Charkow) unter Moskaus Kontrolle gerät, sinkt die strategische Bedeutung der restlichen Ukraine für die Vereinigten Staaten dramatisch. Infolgedessen man in Washington, D.C. die bisherige Auffassung über die inakzeptablen Risiken angepasst. "Gleichzeitig glauben die US-Amerikaner aber, dass ein Angriff auf die Grenzgebiete nicht zu einem direkten militärischen Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO und damit zu einem Atomkrieg führen wird", sagt Dmitri Suslow.

Wer wird die Verantwortung übernehmen?

Es gibt auch noch einen personenbezogenen Aspekt: Die Erlaubnis, bestimmte Ziele anzugreifen, muss von jemandem unterzeichnet werden. Jemand aus der US-amerikanischen oder der NATO-Führung. Er muss die Verantwortung für Handlungen übernehmen, die Karrieren kosten und sogar zu Gefängnisstrafen führen können.

"Trump steht vor Gericht und wird wahrscheinlich ins Gefängnis kommen (was ihn nicht daran hindert, gewählt zu werden), Biden befindet sich in einem fragwürdigen Geisteszustand. Und vor dem Hintergrund, dass Selenskij selbst zu einer zunehmend toxischen Figur wird, weiß das Pentagon nicht, worauf es sich fokussieren soll."

Niemand will die Genehmigungen unterschreiben. Jedem ist klar, dass es irgendwann ein Gerichtsverfahren geben wird – wer, wie und aus welchen Gründen die Angriffe auf die Städte einer Atommacht angeordnet hatte. Das heißt, er hat dann ein Kriegsverbrechen begangen. Diese Person wird am Rüssel gepackt und vor ein Militärtribunal gestellt werden", sagt Iwan Konowalow. Das gilt insbesondere für den Fall, dass die Suche nach Schuldigen als den Scharfmachern unvermeidlich wird.

Die USA und die NATO werden vor einer Entscheidung stehen

Dennoch dürften die Positionen in Washington mit der Zeit schärfer werden. Dmitri Suslow meint: "Die jetzige Entscheidung wird das Gleichgewicht der Kräfte nicht verändern – die Ukraine wird auch weiterhin verlieren. Das bedeutet, dass Washington immer mehr eskalierende Entscheidungen treffen wird, um die Niederlage des Kiewer Regimes zu verhindern – denn jetzt sieht Washington diese Niederlage als eine größere Gefahr für die US-Interessen an als die Risiken einer direkten militärischen Konfrontation mit Moskau."

Die Positionen in Washington, D.C. könnten aber auch pragmatischer werden. "Im Westen geht es nicht in erster Linie darum, ob das Kiewer Regime das Recht hat, sich zu verteidigen, sondern darum, ob es sich lohnt, die Zahl der Opfer zu erhöhen, wenn das Regime nicht gewinnt. Und wenn es sich nicht lohnt, dann muss man über die Bedingungen für die Beendigung des Konflikts diskutieren, die mit Fragen der kontinentalen Sicherheit zu tun haben", sagt Dmitri Ofizerow-Belski.

Mit anderen Worten heißt das aber: Der tatsächliche Ausgang dieser Diskussion wird weitgehend vom Erfolg der russischen Armee auf dem Schlachtfeld abhängen. Die USA müssen zu der Erkenntnis gebracht werden, dass die Risiken einer direkten militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Moskau absolut real sind und dass diese Risiken viel schlimmer sind als eine endgültige Niederlage der Ukraine.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen in Wsgljad am 4. Juni 2024.

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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