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Die nie erzählte Geschichte, warum Russland nicht wie Argentinien endete

In den frühen 1990er-Jahren galt die Wirtschaftspolitik von Buenos Aires als Vorbild für Moskau. Ein Vierteljahrhundert später stellte sich heraus, dass Argentinien tatsächlich ein gutes Vorbild war – und zwar für die Art von Schicksal, das Russland zum Glück vermeiden konnte.
Die nie erzählte Geschichte, warum Russland nicht wie Argentinien endeteQuelle: Gettyimages.ru

Von Sergei Poletajew

In den 1990er-Jahren wurde Argentinien oft als Beispiel für ein "Wirtschaftswunder" angeführt und Moskau wurde geraten, dieselben wirtschaftlichen Maßnahmen wie Buenos Aires zu ergreifen: nämlich allen Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds folge zu leisten, Handelshemmnisse zu beseitigen, Schlüsselsektoren zu verkaufen und die Wirtschaft allgemein an westliche Investoren zu verscherbeln, den sozialen Sektor abzubauen und den Dollar anstelle des "starren und nicht flexiblen" Rubels zur offiziellen Handelswährung zu erheben. Ein Vierteljahrhundert später stellte sich nun heraus, dass Argentinien tatsächlich ein gutes Beispiel war – und zwar für die Art von Schicksal, das Russland zum Glück vermeiden konnte.

Internationaler Währungsbetrug

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat einen schlechten Ruf. Viele glauben, dass der IWF den Ländern, die seine Hilfe erbitten, keine wirklichen Lösungen für die wirtschaftlichen Probleme bietet, sondern diese Länder vielmehr "endgültig erledigt" und sie umfassend ihrer finanziellen Unabhängigkeit beraubt.

Dies ist teilweise richtig. Tatsächlich wenden sich wohlhabende Länder nicht an den IWF – die Organisation ist in der Regel der letzte Ausweg für Staaten, die sich in einer Wirtschaftskrise befinden, selbst wenn die vom IWF bereitgestellten Mittel für die jeweils bedürftigen Länder nicht ausreichen. Der IWF wurde einst mit einer Organisation der Mikrofinanzierung verglichen, da beide Modelle in finanziellen Dingen unbedarfte, ungebildete und verzweifelte Menschen zu Opfern der Kreditknechtschaft machen.

Ein passenderes Bild wäre jedoch, den IWF mit einem klassischen Beispiel eines "Kulaken" zu vergleichen. Wörtlich bedeutet Kulake im Russischen "Faust": ein reicher Bauer im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland im 19. Jahrhundert, versorgten die Kulaken die arme Bauernbevölkerung nicht nur mit erschwinglichen Gütern, Krediten und Alkohol, sondern machten die Einheimischen auch vollständig von ihren Dienstleistungen abhängig. Wenn sich jemand einmal an den Kulaken gewandt hatte, wurde er ihn nie wieder los. Wenn ein Bauer seinen Kredit nicht zurückzahlen konnte, verlor er ziemlich bald seine hinterlegte Kaution – seine Arbeitsgeräte, sein Vieh oder sogar seinen gesamten Bauernhof. Ohne die Kulaken, die die Landarbeiter anheuerten, hätten die Bauern und ihre Familien keine Beschäftigung gehabt und wären verhungert. Am Ende eines Tages gingen die Bauern jeweils in eine lokale Kneipe – die denselben Kulaken gehörte, denen sie Geld schuldeten – und gaben dort ihren letzten Rubel aus, um sich bis in die Vergessenheit zu betrinken.

Es mag den Anschein haben, dass der IWF ganz anders agiert – schließlich verdient er als nichtkommerzielle Organisation nicht direkt Geld und positioniert sich als eine Art internationaler Hilfsfonds, der dazu beitragen soll, "den internationalen Handel zu erleichtern" und "für Gleichgewicht zu sorgen, indem Zahlungsungleichgewichte beseitigt werden" und "Vertrauen bei den Mitgliedsländern zu schaffen".

Die Bereitstellung von Krediten durch den IWF ist jedoch an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Formal sollen diese Bedingungen guten Zwecken dienen: die Stabilisierung der Wirtschaft gewährleisten, den Haushalt ausgleichen, die Inflation bekämpfen und letztendlich dazu beitragen, dass die IWF-Mittel zurückgezahlt werden können und ein stabiles Wirtschaftswachstum sichergestellt wird.

In Wirklichkeit verliert der Staat, der den IWF-Kredit annimmt, seine finanzielle Unabhängigkeit nicht nur vorübergehend bis zur Rückzahlung des Kredits, sondern darüber hinaus auch noch lange Zeit danach – manchmal sogar für immer. Infolge der geforderten Reformen wird im jeweiligen Land der Industriesektor untergraben, während die Staatsausgaben auf ein Minimum reduziert werden. Staatseigentum wird verkauft und es entsteht ein nicht regulierter offener Markt. Der jeweilige Staat gerät in Abhängigkeit von internationalen – von den USA kontrollierten – Finanzströmen und findet sich in der Lage eines Landarbeiters wieder, dem die Werkzeuge für die Landbewirtschaftung entzogen wurden und der selbst nach Abzahlung des Kredits nicht für sich sorgen kann. Dies zwingt diesen Staat dazu, sich in eine ewige Abhängigkeit zu begeben und das Wenige, das diesem Staat nach der Rückzahlung der Kredite noch übrig geblieben ist, in der "Kneipe" auf den Kopf zu hauen – das heißt für Importe zu bezahlen, die kontinuierlich von multinationalen Konzernen heran gekarrt werden.

Natürlich ist nicht allein der IWF mit dem Prinzip, "den Stürzenden zusätzlich zu stoßen", für ein solches Ergebnis verantwortlich. Die Wirtschaftsbehörden jener Länder, die in diese Lage geraten sind, beweisen selten Finanzkompetenz, nachdem sie sich an den IWF gewandt haben. Ihre Handlungen und Entscheidungen verschlimmern das Problem oft zusätzlich und sie verdienen daher kein Mitleid. Die Vorgaben des IWF machen den jeweiligen betroffenen Staat jedoch schutzlos und ermöglichen es Finanzhaien aus aller Welt, sich die geschwächte Wirtschaft des betroffenen Staates unter den Nagel zu reißen und Vermögenswerte zu einem Bruchteil ihres tatsächlichen Wertes aufzukaufen, was das Land schlussendlich völlig am Boden zerstört zurücklässt.

Wie kam es zu einer solchen Situation?

Argentinien, das "Land des Silbers", war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von wirtschaftlichen Turbulenzen geplagt. Jahrzehnte inkompetenter Finanzpolitik, eine abrupte Wende vom Sozialismus zum Ultraliberalismus, gescheiterte Währungsreformen und zahlreiche Auslandskredite, die der soziale Sektor verschlang, wurden durch die erfolglose Herrschaft einer Militärjunta und den verlorenen Krieg um die Falklandinseln zusätzlich verschärft. Zu Beginn der 1990er-Jahre verzeichnete Argentinien eine jährliche Inflationsrate von 2.000 bis 3.000 Prozent pro Jahr, begleitet von einer enormen Staatsverschuldung und einem riesigen Haushaltsloch in Höhe von 16 Prozent des BIP.

In denselben Jahren stand Russland vor noch größeren Problemen. 1991 brach die Sowjetunion zusammen und in der neuen unabhängigen Russischen Föderation herrschten soziale Unruhen. Das Land wurde von Streiks erschüttert und die Kriminalität explodierte. Gleichzeitig brach im Kaukasus ein Krieg aus und in Moskau tobte eine anhaltende politische Krise, die 1993 in einen kurzen, aber blutigen Konflikt mündete.

Die Wirtschaftsbeziehungen und Lieferketten zwischen den ehemaligen Republiken der UdSSR brachen zusammen und der Industriesektor stellte praktisch seinen Betrieb ein. Erschwerend kam hinzu, dass auch das Planwirtschaftssystem der Sowjetunion zusammenbrach und sowjetische Unternehmen wie neugeborene Kätzchen in die Gewässer eines neuen liberalen Marktes geworfen wurden. Das Land war nicht nur bankrott – es existierte praktisch kein Haushalt, keine Steuerhoheit des Staates und keine Finanzkontrolle mehr. Die Nation befand sich in einem Zustand nahezu völliger wirtschaftlicher Anarchie. Die neuen russischen Behörden hatten keine Ahnung, wie sie aus dieser Krise herauskommen konnten, und griffen daher, genau wie in Argentinien, auf die Druckerpresse zurück und produzierten Rubel am laufenden Band. Infolgedessen erreichte die Inflation in Russland im Jahr 1992 schockierende 2.500 Prozent.

Die Schocktherapie

Die Ära des "Wirtschaftswunders" in Argentinien begann 1991, als Domingo Cavallo Wirtschaftsminister des Landes wurde. Um Kredite vom IWF zu erhalten, ergriff er beispiellose Maßnahmen. In kürzester Zeit wurde fast das gesamte Staatseigentum privatisiert – einschließlich "nationaler Schätze" wie der Bankensektor, das Eisenbahn-Netz, der Bergbau und die Schwerindustrie. Eine weitere Währungsreform wurde durchgeführt. Zunächst wurde der Wechselkurs des argentinischen Peso starr an den Dollar gekoppelt und anschließend wurde die US-Währung für den Gebrauch im Land legalisiert. In den ersten Jahren war das Ergebnis beeindruckend: Ausländische Investitionen strömten nach Argentinien und die Wirtschaft wuchs zweistellig. Trotz der starken Kürzung der Sozialausgaben blieb die Arbeitslosigkeit auf einem akzeptablen Niveau, die Bürger des Landes erhielten eine Atempause von der Hyperinflation und Zugang zu günstigen Krediten – sie konnten endlich aufatmen und sich satt essen.

Die Privatisierung wirkte sich positiv auf jene Unternehmen aus, die früher in der Bürokratie erstickten. So warteten die Bürger Argentiniens beispielsweise jahrelang auf einen eigenen Telefonanschluss, als dieser Dienst noch von staatlichen Unternehmen bereitgestellt wurde. Aber nach der Privatisierung wurden solche Probleme innerhalb einer Woche gelöst. Argentinien galt als "vorbildlicher Schüler" – und obwohl seine Wirtschaft zusammengebrochen war, folgte das Land den richtigen Ratschlägen und blühte weiter auf.

Unterdessen versuchte Russland, seinen eigenen Weg zu gehen. Westliche Finanzberater, auch "Chicago Boys" genannt, strömten nach Moskau und versuchten, die russischen Behörden davon zu überzeugen, westlichen Investoren die Teilnahme am Prozess der Privatisierung zu ermöglichen. Obwohl der Kreml Anfang der 1990er-Jahre viele kontroverse Wirtschaftsentscheidungen traf, hörte er nicht auf die Ratschläge aus dem Westen. Strategische Industrien – zum Beispiel der militärisch-industrielle Komplex, der Schienenverkehr sowie die Energie-, Gas-, Nuklear- und Raumfahrtindustrie – blieben in Staatsbesitz, während andere Unternehmen praktisch für einen Apfel und ein Ei in private Hände übergingen. Dadurch entstand eine Klasse russischer Oligarchen, während sich der Anteil des ausländischen Kapitals am Prozess der Privatisierung als unbedeutend herausstellte.

In anderen Angelegenheiten handelten der damalige amtierende Ministerpräsident Russlands, Jegor Gaidar, und sein Kabinett im Einklang mit den klassischen Prinzipien des IWF: Handelshemmnisse beseitigen, Preisbegrenzungen aufheben, Sozialleistungen und Haushaltskosten kürzen und im Interesse ausländischer Investoren den Wechselkurs des Rubels gegenüber dem Dollar aufrechterhalten.

Um den Wechselkurs aufrechtzuerhalten und den Haushalt zu decken, gab die russische Regierung sogenannte kurzfristige Staatsanleihen aus. In Wirklichkeit handelte es sich um das System einer Finanzpyramide, bei dem Schulden aus früheren Anleihen durch neue Kredite gedeckt wurden. Das Land hatte kein Geld und es gab keine ausländischen Investitionen im realen Sektor, sodass die Anleihen neben den Krediten des IWF die einzige Möglichkeit blieben, um über die Runden zu kommen.

Der Untergang

Das "Argentinische Wunder" endete im Jahr 2001. Aufgrund der asiatischen Finanzkrise begannen die nationalen Exporte zu sinken, aber die Regierung in Buenos Aires war nicht in der Lage, die Währung abzuwerten, um die Exporterlöse zu steigern, da der Peso weiterhin starr an den Dollar gekoppelt war. Die größten Banken und fast alle profitablen Unternehmen wurden von ausländischem Kapital kontrolliert, und die Investoren begannen, Gelder aus der untergehenden Wirtschaft des Landes abzuziehen. Die wachsenden Haushaltslöcher wurden mit neuen Krediten gestopft und schließlich erklärte Argentinien am 23. Dezember 2001 den größten Zahlungsausfall in der Weltgeschichte – 82 Milliarden US-Dollar.

In Russland brach im August 1998 die Pyramide der Staatsanleihen zusammen – und damit auch das Wirtschaftsmodell des amtierenden Premierministers Gaidar, das auf den Prinzipien des IWF aufgebaut war. Ab diesem Zeitpunkt trennten sich die Wege Russlands von jenen mit Argentinien. Die russische Regierung wertete den Rubel ab, dem Industriesektor wurde neues Leben eingehaucht, ausländische und inländische Investitionen begannen ins Land zu strömen und die Exportwirtschaft wurde wieder aufgenommen. Aus den Trümmern der alten Institutionen, die zusammen mit dem System der Staatsanleihen zusammenbrachen, entstanden neue Banken. Heute bilden diese Banken die Grundlage des nationalen russischen Finanzsystems.

In den 2000er-Jahren stärkte die russische Regierung unter Präsident Putin konsequent ihre finanzielle Unabhängigkeit, führte Steuerreformen durch und übernahm die Kontrolle über die Oligarchen – sie mussten entweder zugunsten Russlands arbeiten oder ihnen wurde ihr Eigentum entzogen. Und obwohl dieser Prozess durch die hohen Ölpreise erleichtert wurde, wäre der Erfolg von Putins Reformen unmöglich gewesen, wenn Russland das Land wie Argentinien an ausländische Investoren verkauft hätte.

Zum Horizont und darüber hinaus

Nachdem Argentinien seit 2001 zwei weitere Zahlungsausfälle überstanden und von der linken auf die rechte Seite des politischen Spektrums und wieder zurückgewechselt hatte, geriet das Land 2023 in eine neue Wirtschaftskrise. Der Libertäre Javier Milei, der kürzlich zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, versprach, alles wieder in Ordnung zu bringen, indem er die einstigen Reformen von Domingo Cavallo wiederbelebt: die Abschaffung der Hälfte der Regierungsbehörden und der Zentralbank des Landes, die Abkehr von der Landeswährung zugunsten des Dollars sowie eine radikale Reduzierung von Steuern und Staatsausgaben. Ob das funktionieren wird? Die Zeit wird es zeigen, aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass das Ergebnis anders ausfallen wird als im Jahr 2001.

Und was ist mit Russland? Ab Februar 2022 wurde Russland mit den heftigsten Sanktionen der Weltgeschichte konfrontiert, konnte ihnen aber standhalten. Die Widerstandskraft der russischen Wirtschaft überraschte nicht nur den Westen, sondern auch viele Menschen in Russland selbst. Die Wirtschaftsblockade und die Flucht ausländischen Kapitals führten nicht zum wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Akteure, die den russischen Markt verließen, wurden umgehend durch andere – häufig inländische Unternehmen – ersetzt, während das russische Finanzsystem eine beeindruckende Unabhängigkeit demonstrierte, bei gleichzeitiger Einhaltung weltweit gültiger Standards. Nach einem leichten Rückgang im vergangenen Jahr verzeichnete die russische Wirtschaft im Jahr 2023 ein stetiges Wachstum, welches das Wirtschaftswachstum jener Länder übertraf, die Sanktionen gegen Russland verhängt hatten.

All dies wurde möglich, weil sich Russland in den 1990er-Jahren nicht auf die "süßen" Versprechungen des Westens eingelassen und nicht wie Argentinien das Joch der Abhängigkeit vom IWF akzeptiert, sondern sich stattdessen für einen beschwerlicheren, aber souveränen Weg entschieden hat.

Aus dem Englischen.

Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Vatfor Project.

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