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Das Wetter zwingt das ukrainische Militär zur Eile

Entgegen den westlichen Empfehlungen versucht das ukrainische Militär, am Frontabschnitt bei Artjomowsk vorzurücken. Was sind die Pläne des ukrainischen Kommandos, gibt es Risiken für Artjomowsk und wie werden Russlands Streitkräfte reagieren?
Das Wetter zwingt das ukrainische Militär zur EileQuelle: AP © LIBKOS

Von Oleg Issaitschenko

Am Montag hat das Verteidigungsministerium der Ukraine angebliche Geländegewinne bei Kleschtschijewka gemeldet. Dieses Dorf liegt südwestlich von Artjomowsk. Sporadische Ausbrüche der Aktivität des ukrainischen Militärs sind an diesem Abschnitt noch seit Mai zu beobachten und sollen Bedingungen für eine neue Schlacht um Artjomowsk schaffen.

Dabei hatte der Westen die offensiven Aktionen des ukrainischen Militärs an diesem Frontabschnitt mehrmals kritisiert. Kritik kam nicht nur vonseiten der Mainstream-Medien, sondern auch seitens offizieller Persönlichkeiten. Die USA sind der Ansicht, dass die Ukraine ihre Truppen nicht entlang der gesamten Frontlinie verstreuen, sondern ihre Bemühungen auf den Süden konzentrieren und die russischen Stellungen bei Tokmak im Gebiet Saporoschje angreifen sollte.

Dennoch blieben die ukrainischen Generäle, nachdem Wladimir Selenskij sie öffentlich unterstützt hatte, in dieser Angelegenheit unnachgiebig. Und die gegenwärtige Aktivierung des ukrainischen Militärs bei Kleschtschijewka wurde nicht nur zu einem Beweis für ihre Aufsässigkeit, sondern auch für die Widersprüche zwischen dem offiziellen Kiew und dem Westen im Hinblick auf die Taktik der Gegenoffensive in nächster Zeit.

Die Biden-Administration ist der Ansicht, dass die ukrainische Offensive noch sechs bis sieben Wochen andauern kann. Grob gesprochen: bis Anfang November, wenn die Schlammperiode beginnt. Bis dahin muss die Ukraine bedeutende Fronterfolge vorweisen und damit dem Westen die Zweckmäßigkeit einer weiteren Finanzierung der ukrainischen Armee erklären.

Dabei erscheint das Hauptziel der Gegenoffensive, nämlich das Asowsche Meer zu erreichen und die Landbrücke zur Krim abzuschneiden, nach wie vor utopisch. Mehr noch, das ukrainische Militär ist sogar von einem Herankommen an Tokmak weit entfernt. Diese Stadt ist ein wichtiges logistisches Zentrum und durch mehrere russische Verteidigungslinien geschützt.

Irgendwelche Ergebnisse muss man dennoch vorweisen, deswegen beschlossen die ukrainischen Generäle, offensive Aktionen bei Artjomowsk in Gang zu setzen. Wie das ukrainische Nachrichtenportal Strana erklärt, könnten diese Aktionen indes nicht einer militärischen, sondern einer informationspolitischen Logik folgen:

"Die Perspektiven, Tokmak zu erreichen, erscheinen ziemlich unklar. Doch das Jahr ohne größere Erfolge zu beenden, ist ein großes Risiko für die militärpolitische Führung der Ukraine."

Unter solchen Umständen könnte das ukrainische Kommando zu dem Schluss gekommen sein, dass die Chancen für eine Einnahme Tokmaks schlecht stehen. Und es könnte versuchen, Artjomowsk zu erobern. Die symbolische Bedeutung wäre im Fall eines Erfolgs noch stärker und könnte helfen, den Glauben an den Sieg in der ukrainischen Gesellschaft zu festigen und die Zunahme des Defätismus zu stoppen.

Somit steht das ukrainische Kommando vor einem Dilemma. Einerseits setzt das Wetter den Streitkräften der Ukraine einen engen Zeitrahmen, denn während der Schlammperiode werden Angriffe über Minenfelder noch schwieriger als jetzt. Besonders gilt das für den Einsatz der schweren westlichen Panzer.

Andererseits muss das ukrainische Militär und Selenskijs Regierung bis November Fronterfolge vorweisen – diesmal allerdings wegen des innenpolitischen Zeitrahmens in den USA mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen. In einer solchen Lage versucht die Armee Kiews nach Meinungen von Experten weiterhin, Schwachstellen in der russischen Verteidigung "abzutasten" und Spannungspunkte, mal an der Asowschen Küste, mal im Donbass, zu erzeugen.

"Insgesamt hat Selenskijs Regierung die Offensive gleich an mehreren Frontabschnitten angekündigt. Und an keinem hatten sie Erfolg. Eines der schillerndsten Beispiele ist das Dorf Rabotino, das lange den Besitzer wechselte. Bei Artjomowsk gibt es ebenfalls keine bemerkbaren Ergebnisse", sagte der Abgeordnete des Volksrats der DVR, Wladislaw Berditschewski. Und er fügte hinzu:

"Es ist bemerkenswert, dass sich Kleschtschijewka in einer ungünstigen strategischen Position befindet. Selbst wenn der Gegner dort einrückt, werden unsere Streitkräfte ihn zurückschlagen. Die russische Armee hat sich an sogenannte 'Fleischstürme' des ukrainischen Militärs bereits gut angepasst und reagiert darauf umgehend. Dennoch braucht der Gegner zumindest kleine Erfolge, um sie irgendwie sowohl dem westlichen, als auch dem inländischen Publikum zu verkaufen. Und die Erzeugung der Illusion eines Erfolgs in Verbindung mit solchen für die Ukraine schmerzhaften Stellen wie Artjomowsk, zieht hier am besten. All das wird als Versuch einer Revanche dargestellt."

In diesem Zusammenhang schlägt der Politiker vor, zur Festigung der russischen Verteidigung bei Artjomowsk neue Feuernester zu errichten, das Territorium zu verminen und "Drachenzähne" noch vor dem Einsetzen der Schlammperiode aufzustellen. "Ein Befestigungssystem aufzubauen nach dem Vorbild dessen, was wir im Süden haben, wird nicht gelingen. Schützengräben an diesem Frontabschnitt auszuheben, wird sehr gefährlich und problematisch werden", erklärte der Abgeordnete. Und Berditschewski führte weiter aus:

"Die Lage des ukrainischen Militärs wird auch durch die anstehenden Wahlen in den USA erschwert. Joe Biden und seine Demokratische Partei benötigen einen Sieg, irgendeine Erfolgsgeschichte. Ansonsten werden sie sich vor ihrer Wählerschaft rechtfertigen und erklären müssen, wofür das Geld aufgewendet wurde. Es ist schwer zu sagen, wie viele Jahre die USA noch bereit sind, das durchzuziehen. Möglicherweise werden sie auf eine neue Spirale des Konflikts im Jahr 2024 setzen. Wie wir wissen, dauerte diese Geschichte in Afghanistan immerhin fast 20 Jahre."

"Heute steht das ukrainische Militär vor der Aufgabe, irgendeinen bedeutenden Ort zu erobern, und zwar schnell. Artjomowsk und sein Umland ist ein solcher Ort, der einst für Aufsehen gesorgt hatte. Ich erinnere an die Berichte der westlichen Presse über den 'Fleischwolf von Bachmut'", sagte seinerseits der Militärexperte Alexei Leonkow. Und er fügte hinzu:

"Man kann sich auch an Selenskijs Worte erinnern, dass wenn Artjomowsk fallen sollte, die ganz Ukraine fallen werde. Am Ende sehen wir eine ganze Serie von Misserfolgen des ukrainischen Militärs, riesige Ausgaben des Westens, doch all das bringt keinen Erfolg. Die Illusion eines Erfolgs muss aber geschaffen werden, das beeinflusst sowohl die Stimmung im Inland als auch die Bereitschaft des Westens, die Ukraine zu finanzieren."

"Doch wenn die Ergebnisse auf dem Schlachtfeld in einem bis zwei Monaten genauso wie jetzt aussehen, werden sich die USA zunehmend von der Ukraine-Krise distanzieren und dieses Problem Europa und Großbritannien aufbürden. Möglicherweise wird Washingtons Unterstützung sich auf rein finanzielle Fragen beschränken, während die Bürde der Verantwortung für den Verlauf der Kampfhandlungen Europa tragen würde", schlussfolgerte der Experte.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.

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