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Blick voraus Richtung Herbst: Was planen die russischen und ukrainischen Armeen

Trotz kleiner Vorstöße ist es den Streitkräften der Ukraine in der Sommeroffensive von 2023 nicht gelungen, einen großen Durchbruch zu erzielen. Was die russische Armee betrifft, so wird sie ihre Verteidigung weiter ausbauen und möglicherweise eine Reihe von Gegenangriffen lancieren.
Blick voraus Richtung Herbst: Was planen die russischen und ukrainischen ArmeenQuelle: RT

Von Wladislaw Ugolni

In den vergangenen drei Sommermonaten haben Medien auf der ganzen Welt die vielbeschworene Gegenoffensive der Ukraine aufmerksam verfolgt. Es ist jedoch nichts Spektakuläres passiert. Als die Streitkräfte der Ukraine die erste Verteidigungslinie Russlands erreichten, konnten sie mehrere Dörfer ohne strategischen Wert einnehmen, allerdings unter erheblichen Verlusten an Mensch und westlicher Ausrüstung. Russland seinerseits legte in dieser Zeit den Schwerpunkt auf Verteidigung und Abwehr, versuchte aber auch, in einige Richtungen in die Offensive zu gehen.

Was geschah vergangenen Sommer an der Front und warum konnte keine der beiden Seiten nennenswerte Erfolge erzielen? Und in welchem Zustand befinden sich beide Armeen, jetzt wo sie vor dem kommenden Herbstfeldzug stehen?

Wechsel der Taktiken bei der Gegenoffensive der Ukraine

Die Gegenoffensive der Ukraine in der Region Saporoschje und der Volksrepublik Donezk dauert nun schon seit fast drei Monaten. In dieser Zeit gelang es der ukrainischen Armee die erste der drei Verteidigungslinien Russlands, auf einem schmalen Landstrich östlich des Dorfes Rabotino, zu erreichen – jenem Frontabschnitt, wo sich derzeit die Kämpfe konzentrieren. Um dies zu erreichen, war die Ukraine gezwungen, nahezu ihre gesamten operativen und strategischen Reserven einzusetzen.

Nach den im Juni erlittenen Verlusten, beschloss das ukrainische Oberkommando, ihre Taktik aufzugeben, mit großen mechanisierten Einheiten vorzurücken. Stattdessen führte die Armee Angriffsoperationen mit Infanterie durch, die von gepanzerten Fahrzeugen und Artillerie unterstützt wurden – eine ähnliche Strategie wie die russischen Truppen in Artjomowsk (ukrainisch: Bachmut) verfolgt hatten.

Diese Entscheidung verlangsamte das Tempo der Gegenoffensive erheblich und machte das strategische Ziel zunichte, das Asowsche Meer zu erreichen. Die Strategie ermöglichte jedoch einen schrittweisen Durchbruch nach Süden und Südosten. Infolgedessen war die ukrainische Armee Mitte August in Rabotino eingedrungen, lieferte sich dort Straßenschlachten mit russischen Streitkräften und eroberte zwei Dörfer auf der Wremewski-Platte: Staromajorskoje und Uroschainoje. Östlich von Rabotino konnten die Ukrainer zudem die erste Verteidigungslinie Russlands erreichen.

Streitigkeiten und Schuldzuweisungen

Der langsame Fortschritt enttäuschte sowohl westliche als auch ukrainische Experten und sie begannen, nach einem Schuldigen für die gescheiterte Gegenoffensive zu suchen, die eigentlich mit einem Sieg hätte enden sollen. Die vorherrschende Meinung war, dass die russische Armee unterschätzt worden sei. Diese hatte sich von Rückschlägen im vergangenen Herbst erholt und schaffte es dank Minenfeldern, widerstandsfähiger Infanterie, effektiver Artillerie, einer überlegenen Luftwaffe und Kampfhubschraubern eine wirksame Verteidigungslinie aufzubauen.

Allerdings wurden auch einige ziemlich lächerliche Gründe für das Versagen der ukrainischen Streitkräfte angeführt. Beispielsweise machte der britische Geheimdienst Sträucher und Unkraut in der ukrainischen Steppe für die Misserfolge der ukrainischen Armee verantwortlich, während die stellvertretende Verteidigungsministerin der Ukraine, Anna Maljar, die Medien scharf kritisierte, weil sie über die Verluste der 82. Brigade berichteten.

Es gab auch Momente, wo man sich gegenseitig die Schuld zuschob: Westliche Experten warfen den Streitkräften der Ukraine eine ineffektive operative Kontrolle der Truppen vor, während die Ukrainer anmerkten, dass die für sie bereitgestellte Hilfe unzureichend und zu spät geliefert worden sei. An einem Punkt beschwerte sich der Oberbefehlshaber des ukrainischen Militärs Waleri Saluschny, dass die USA die Natur des anhaltenden Konflikts nicht verstehen und versuchen würden, ihre Erfahrungen im Kampf gegen Aufständische auf die Realität des aktuellen Krieges anzuwenden. Saluschny selbst stellte sich auf den Standpunkt, dass die ukrainische Gegenoffensive eher der Schlacht von Kursk im Jahr 1943 ähnele.

Kämpfe um Rabotino

Im Laufe der Zeit bezogen die ukrainischen Streitkräfte immer mehr neue Einheiten in die Kämpfe um Rabotino ein. Während die Gegenoffensive zunächst von der 46. mobilen Luftbrigade und der 47. mechanisierten Brigade durchgeführt wurde, waren die Ukrainer schließlich gezwungen, die 116., die 117. und die 118. mechanisierte Brigade einzusetzen, zusammen mit Kräften der Nationalgarde, Einheiten der 71. Jägerbrigade und der 1. Panzerbrigade, sowie Spezialeinheiten des Marinekommandos für Spezialoperationen. Mitte August spielte die Ukraine schließlich ihren Trumpf aus und brachte die 82. Luftangriffsbrigade ein, die mit gepanzerten US-amerikanischen Kampffahrzeugen vom Typ Stryker, deutschen Kampffahrzeugen vom Typ Marder und britischen Panzern vom Typ Challenger ausgerüstet waren.

Ursprünglich sollte die 82. Luftangriffsbrigade erst nach dem Durchbruch der ersten russischen Verteidigungslinie in die Schlacht eingreifen, um von dort aus weitere Fortschritte zu erzielen. Die Misserfolge auf Seiten der Ukraine führten jedoch zum vorzeitigen Einsatz der 82. Brigade und zu ihren ersten Verlusten. Dennoch gelang es der ukrainischen Armee, Rabotino zu erreichen und die russischen Truppen an den südlichen Rand des Dorfes zu drängen sowie südöstlich von Rabotino vorzustoßen, was eine Bedrohung für die russischen Flanken darstellte.

Am Unabhängigkeitstag der Ukraine, dem 24. August, berichteten ukrainische Journalisten und Militärblogger, dass das Dorf vollständig unter der Kontrolle der ukrainischen Armee stünde, eine offizielle Bestätigung dafür gab es jedoch nicht. Ab dem 26. August gingen die Kämpfe weiter, wobei beide Seiten Verluste erlitten und zusätzliche Kräfte hinzuziehen mussten. 

Die Wasiljewka-Front

Im Juni versuchte die ukrainische Armee in Richtung Wasiljewka vorzudringen – eine von Russland kontrollierte Stadt in der Nähe des Kachowka-Stausees. Mit der 128. Gebirgssturmbrigade und der 65. mechanisierten Brigade vertrieben die Ukrainer die russischen Truppen aus den Dörfern Lobkowoje und Pjatichatki. Aufgrund der erheblichen Verluste unternahm die Ukraine jedoch keine aktiven Angriffsoperationen mehr, sondern beschränkte sich auf Sondierungsangriffe. Dies ermöglichte es der russischen Armee, einen Teil ihrer in dieser Richtung eingesetzten Truppen zur Verstärkung der Verteidigungsanlagen in die Gegend von Rabotino zu verlegen.

Die Wremewski-Platte

Die ukrainischen Streitkräfte konzentrierten ihr gesamtes Marinekorps in Richtung der Wremewski-Platte. Dabei setzten sie vier durch Artillerie verstärkte Brigaden ein, darunter die 23. und 31. mechanisierte Brigade, Einheiten der 1. und 4. Panzerbrigade sowie Territorialverteidigungskräfte und Helikopter.

Nachdem sie die Linie Lewadnoje - Rownopol - Makarowka erobern konnten, rückten ukrainische Truppen anderthalb Monate lang entlang der Flanken von Staromajorski und Uroschainoje vor. Dieser Vormarsch ermöglichte es der Ukraine schließlich, die russischen Truppen aus dem Gebiet zu vertreiben und somit eine Bedrohung für Staromlinowka zu etablieren.

Die ukrainische Medien übertreiben die strategische Bedeutung dieses Dorfes, nennen es die wichtigste Hochburg der russischen Verteidigung in der Region und ignorieren die Tatsache, dass sich die erste Verteidigungslinie der russischen Streitkräfte in "Einsatztiefe" befindet, deutlich südlich von Staromlinowka. Dieses Dorf liegt zwar an der Kreuzung mehrerer wichtiger Routen, doch die Russen haben in dieser Gegend mehrere Versorgungsrouten.

Die Ergebnisse der ukrainischen Gegenoffensive

Nach Angaben der OSINT-Community "Lostarmour" haben die ukrainischen Streitkräfte im Verlauf ihrer Sommer-Gegenoffensive etwa 46 gepanzerte Kampffahrzeuge vom Typ MaxxPro, 37 Infanterie-Kampffahrzeug vom Typ Bradley, acht Leopard-Panzer und drei gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Stryker verloren. Dabei handelt es sich lediglich um die optisch bestätigten Abschüsse. In der Gegend von Rabotino gibt es mehrere Panzerfriedhöfe, die immer breiter werden. In Staromajorski wurden 31 ukrainische Panzerfahrzeuge vollständig niedergebrannt – die Verluste aus den umliegenden Gefechten sind dabei nicht einmal berücksichtigt.

Angesichts der fehlenden Waffenvereinheitlichung in der ukrainischen Armee und der damit verbundenen Probleme bei der Versorgung, Wartung und Wiederherstellung beschädigter Ausrüstung, reduzieren solche Verluste die Zahl der motorisierten Einheiten. Das ukrainische Militär ist mittlerweile vollständig auf die Versorgung mit gepanzerten Fahrzeugen und Ausrüstung durch westliche Verbündete angewiesen. Die einzige Alternative ist die Militarisierung ziviler Fahrzeuge.

Darüber hinaus war die ukrainische Armee im Verlauf der Sommerschlachten nicht in der Lage, die Truppen auf taktischer und operativer Ebene effektiv einzusetzen. Die größten Einheiten der ukrainischen Armee sind nach wie vor Brigaden – 2.000 bis 4.000 Mann –, während Russland über Divisionen – 4.000 bis 20.000 Mann – und kombinierte Waffeneinheiten mit über 40.000 Mann verfügt. Um gegen diese zu kämpfen muss die Ukraine einzelne Brigaden unterschiedlicher Kampfstärke zusammenlegen.

Russlands strategischer Plan

Während Russland sich auf die Verteidigung des Landkorridors zur Krim vorbereitete, verstärkte das russische Oberkommando den Ort zukünftiger Schlachten mit einer Verteidigungslinie und zog außerdem eine große Truppenkonzentration in Richtung Kupjansk und Krasny Liman ab.

Eine mögliche russische Offensive in Richtung des Flusses Oskol stellte eine Bedrohung für die Ukrainer dar, da dies zum Verlust eines von der Ukraine im Oktober 2022 eroberten wichtigen Standortes führen könnte. Dies zwang das ukrainische Militär, neu gebildete Brigaden in das Gebiet zu verlegen. Auf diese Weise wurden die 88., 41., 32., 43., 44., 42. und 21. mechanisierte Brigade aus dem Süden zusammengezogen. Es ist auch möglich, dass die 8. Brigade und die 13. Jaegerbrigade derzeit in Richtung Kupjansk vorrücken.

Die russischen Truppen führten im Juli und August dieses Jahres mehrere Sondierungsangriffe in Richtung Borowaja und Kupjansk durch. Sie besetzten mehrere Dutzend Quadratkilometer und zwangen die Ukraine Reserven in diese Richtung zu verlegen und General Alexander Syrsky von der Schlacht bei Artjomowsk (Bachmut) abzulenken.

Zukunftsaussichten

So bewerten die Kämpfer der 46. Brigade der Ukraine die Kampfrichtung Melitopol: 

"Als nächstes kommt Nowoprokopowka und das ist wahrscheinlich alles. Weiter hinten verläuft die Hauptverteidigungslinie der Russen. Darüber hinaus wäre ein tiefer Keil im Raum Rabotino eine Gelegenheit für die Eindringlinge, uns aus den Gebieten Kopan und Nowofjodorowka in die Flanke zu fallen. Und dann müssten wir entweder die Front in Richtung Nesterjanka-Kopan und Belogorje erweitern oder wir würden etwas Ähnliches bekommen, wie wir es in Bachmut hätten bekommen können – Flankenumfassung mit Einkesselung." 

Das bedeutet, dass die Ukrainer nicht damit rechnen, die erste gestaffelte Verteidigungslinie Russlands in diesem Bereich zu durchbrechen.

Die Sommerkampagne neigt sich dem Ende zu. Vielleicht wird ein warmer und trockener September das Blutvergießen etwas verlängern, aber im Oktober werden die Regenfälle die Steppe in eine gigantische Schlammschlacht verwandeln, die besonders für die schweren Panzerfahrzeuge der NATO gefährlich ist.

Beide Armeen sind von den Sommerschlachten erschöpft und werden, sobald sich das Wetter verschlechtert, höchstwahrscheinlich damit beginnen, ihre Wunden zu lecken und sich auf zukünftige Schlachten vorzubereiten. Während dieser Zeit wird die Ukraine versuchen, Flugzeuge für ihren zweiten Versuch zur Gegenoffensive zu beschaffen, obwohl es besser wäre, zunächst die mechanisierten Brigaden aufzustocken.

Was die russische Armee betrifft, so wird sie ihre Verteidigung weiter ausbauen und möglicherweise eine Reihe von Gegenangriffen starten, um ihre taktischen Positionen zu verbessern oder alternativ ihren Schwerpunkt auf die Richtungen Artjomowsk (Bachmut) oder Kupjansk verlagern. Darüber hinaus wird sich die russische Militärindustrie im Herbst und Winter weiterhin mit der Frage der Versorgung der russischen Armee mit Granaten, gepanzerten Fahrzeugen und Sperrmunition mit größerer Reichweite für Artillerieduelle befassen.

Aus dem in Englischen.

Wladislaw Ugolni ist ein russischer Journalist aus Donezk.

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