Letzte Chance für Selenskij: NATO und Kiew besprechen ihre Russland-Strategie
Von Michail Katkow
Den ganzen Sommer über haben westliche Medien unter Verweis auf offizielle Persönlichkeiten der USA und der EU behauptet, dass Kiew zu einem Einfrieren des Konflikts angeregt werden würde, falls die ukrainische Gegenoffensive scheitern sollte. Dennoch erfolgten Mitte August an der Grenze der Ukraine zu Polen Verhandlungen zwischen dem ukrainischen Oberbefehlshaber Saluschny sowie dem Kommandeur der NATO-Kräfte in Europa, Christopher Cavoli, und dem Chef des britischen Verteidigungsstabs, Antony Radakin. Allem Anschein nach hat die Allianz nun einen neuen Plan.
Berichten zufolge stritten die Generäle fünf Stunden lang über die Strategie des ukrainischen Militärs, versuchten zu verstehen, wie das Tempo der Offensive beschleunigt werden könnte, dachten über die Vorbereitung der Winterkampagne nach und diskutierten die Kampfhandlungen im Jahr 2024.
Die Zeitung The Wall Street Journal behauptete, dass die USA mit dem unbedeutenden Vorrücken des ukrainischen Militärs unzufrieden seien und von Saluschny fordern würden, seine Taktik zu revidieren. Insbesondere solle er seine Bemühungen auf einen Durchbruch der russischen Verteidigung im Süden konzentrieren und zum Asowschen Meer vorstoßen. Doch der ukrainische Oberbefehlshaber korrigierte seine Aktionen nur geringfügig. Nach Medienangaben ist er der Ansicht, dass das Pentagon die Natur der russisch-ukrainischen Konfrontation nicht verstehe. "Das ist keine Partisanenbekämpfung. Das ist die Schlacht von Kursk", zitierte ihn The Wall Street Journal.
Ihrerseits berichtete The New York Times vom Wunsch des Pentagons, die russische Landbrücke zur Krim zu kappen. Nach Meinung der USA sei das ukrainische Militär zu zerstreut, um diese Aufgabe zu bewältigen. So sollen sich bei Artjomowsk (ukrainisch: Bachmut) ungefähr so viele Truppen befinden, wie für den Durchbruch zum wichtigeren Melitopol bereitgestellt wurden. Dabei erhielt Kiew die Empfehlung, Minenfelder ohne Rücksicht auf menschliche Verluste und verlorene Technik zu überwinden.
Neue Hoffnung
Die Ukraine fordert ihrerseits noch mehr Kriegsgerät, doch Washington bezweifelt, dass es 2024 genauso viele Waffen wie 2023 übergeben kann. Bescheidene militärische Erfolge des ausgehenden Sommers spielen Kiew dabei nicht gerade in die Hände. Dennoch versucht Saluschny, seine transatlantischen Kollegen zu überzeugen, dass er kurz vor einem Durchbruch steht.
Sein Hauptargument sind die Kämpfe um die Ortschaft Rabotino im Gebiet Saporoschje. Die Ukraine gibt sie für den Wendepunkt der Gegenoffensive aus. Angeblich rücke die Einnahme eines Dorfes, in dem zu Friedenszeiten weniger als 500 Menschen lebten, den Fall von Melitopol in greifbare Nähe. Andere Erfolgsgeschichten hat Kiew dem Westen nicht zu bieten.
Um das offensive Potenzial des ukrainischen Militärs zu stärken, machte sich die NATO an die Vorbereitung von F-16-Lieferungen. Laut dem Sprecher des Luftwaffenkommandos der Ukraine, Juri Ignat, werden 128 Flugzeuge benötigt. Die Niederlande und Dänemark sagten insgesamt 61 Maschine zu, Norwegen versprach zwölf Flugzeuge. Berücksichtigt man, dass die Pilotenausbildung zum Sommer 2024 abgeschlossen werden soll, ist unabhängig von den Ergebnissen der laufenden Offensive in einem Jahr der nächste Versuch zu erwarten.
Ebenso gab Selenskij bekannt, dass das Militär auf einer Beschleunigung der Mobilmachung bestehe. Dem Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrats Alexei Danilow zufolge werden so viele Menschen wie nötig einberufen. Der stellvertretende Präsident des Rada-Komitees für nationale Sicherheit, Verteidigung und Aufklärung, Jegor Tschernew, schloss sogar nicht aus, dass überhaupt alle wehrfähigen Männer an die Front gehen. Daran ist nichts verwunderlich, denn nach Schätzungen westlicher Medien werden dem ukrainischen Militär die Reserven bald ausgehen.
Alte Fehler
Eine Fortsetzung der Kampfhandlungen im Jahr 2024 bedeutet, dass im laufenden Jahr keine ernsthaften Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew stattfinden können. Im Gegensatz zu zahlreichen Vermittlern vom Papst bis zu den afrikanischen Staatschefs rechnete der Kreml auch nicht damit. Die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, merkte an, dass die Absicht mehrerer europäischer Länder, Kiew Kampfflugzeuge zu liefern, "die Feindschaft des Westens gegenüber Russland und seine zunehmende Einbeziehung in den Konflikt um die Ukraine" bestätigen. Sie erinnerte an den Großen Nordischen Krieg (1700-1721) zwischen Russland und Schweden, der mit einer Niederlage Stockholms endete.
Nach Meinung des stellvertretenden Oberhaupts des Instituts für GUS-Länder, Wladimir Scharichin, hoffte Washington auf die ukrainische Offensive, um Moskau zu zwingen, Verhandlungen zu den Bedingungen des Westens zu akzeptieren. Die Kiewer Regierung hätte die Hoffnungen nicht erfüllt, was Kritik von westlicher Seite hervorrief ‒ dennoch musste die NATO letzten Endes eine neue Strategie für die Ukraine ausarbeiten.
"Biden wollte den Erfolg der Sommeroffensive als eigenen Sieg verkaufen und ihn im Wahlkampf ausnutzen. Es klappte nicht. Nun muss er für sich das Bild eines kämpfenden Präsidenten erschaffen, der, wie das sprichwörtliche Pferd, nicht mitten im Strom gewechselt werden soll", erklärt Scharichin. Würde Biden versuchen, als Friedensstifter aufzutreten, würde es für ihn kein gutes Ende nehmen, so der Experte. Seine Konkurrenten würden dies als die zweite große Niederlage nach der Flucht aus Afghanistan darstellen.
Der Politologe Rostislaw Ischtschenko stimmt dieser Ansicht zu. "Zu einem Friedensstifter zu werden, würde bedeuten, die eigene Schwäche anzuerkennen und die Präsidentenwahl definitiv zu verlieren. Später werden sich die Republikaner an den Demokraten für die Verhaftungen von Donald Trump rächen. Deswegen müssen Letztere daran denken, wie die Ukraine den Winter überlebt und in eine neue Offensive geht", erklärt er.
Verhandlungen über ein Ende der Kampfhandlungen können nur beginnen, wenn die russische Armee das ukrainische Militär hinter den Dnjepr vertreibt. Andernfalls müsste man die Präsidentschaftswahlen in den USA abwarten, infolge derer Washingtons Interesse an Kiew in jedem Fall abnehmen wird.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
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