Russische Unprofessionalität oder Juwelierarbeit? Zum Absturz der US-Drohne über dem Schwarzen Meer
Von Nikolaj Guljajew und Jewgeni Posdnjakow
Der Präsident der USA Joe Biden wurde über den Vorfall zwischen dem russischen Jäger Su-27 und der US-amerikanischen Drohne MQ-9 über dem Schwarzen Meer benachrichtigt. Wie der Kommunikationsdirektor des Sicherheitsrats des Weißen Hauses John Kirby bemerkte, hatten die russischen Flugzeuge auch vorher fliegende Objekte abgefangen, doch der Fall vom 14. März erregte Aufmerksamkeit durch Moskaus "riskante" Methoden.
Zur Klärung der Lage wurde der russische Botschafter in den USA Anatoli Antonow vorgeladen. Nach der Besprechung berichtete er, dass Washington wegen "unprofessioneller Handlungen der russischen Seite" Besorgnis und Protest äußerte.
Dem Diplomaten zufolge können seine Kontakte zur US-amerikanischen Seite im Rahmen der Besprechung dieses Zwischenfalls als konstruktiv angesehen werden. Dabei betonte Russlands Botschafter, dass US-amerikanische Flugzeuge und Schiffe in der Nähe der russischen Grenzen "nichts zu suchen" hätten. Er verwies auch darauf, dass die MQ-9 Bomben beziehungsweise 1.700 Kilogramm Sprengstoff tragen kann.
Der Vorfall löste in den westlichen Medien eine heftige Reaktion aus. So verwies die Zeitung Washington Post auf die Schwierigkeiten der USA und der NATO bei der Durchsetzung ihrer erklärten Politik, sich nicht direkt in den Ukraine-Konflikt einzumischen. Die Zeitung betonte, dass Moskaus Sorgen unmittelbar davon zeugen, wie schnell sich Lage zu einer Eskalation zwischen den Staaten entwickeln könnte.
Der Vorfall ist der erste "physische Kontakt" der USA und Russlands nach dem Beginn der Militäroperation, fügte die Zeitung The New York Times hinzu. Die US-Militärs, die die Lage in Echtzeit beobachteten, seien davon "erstaunt" gewesen. Die Beziehungen zwischen dem Kreml und dem Weißen Haus haben den Höhepunkt der Spannung erreicht, so der Artikel.
Die Zeitung The Guardian berichtete ganz pragmatisch, dass der Absturz der Drohne den USA etwa 32 Millionen Dollar kostete. Der Vorfall habe in den USA besondere Besorgnis hervorgerufen, handelt es sich doch um einen Zusammenstoß zwischen zwei Atommächten in der Nähe eines Kampfgebiets.
Am Dienstag behauptete der Kommandant der US-Luftwaffe in Europa und Afrika General James Hecker, dass die Su-27 vor dem Zwischenstoß mehrmals den Treibstoff abgeworfen und vor der MQ-9 "leichtsinnig und unprofessionell" geflogen habe. Er fügte hinzu, dass deswegen der Propeller der US-amerikanischen Drohne ausfiel.
Der Pressesprecher des Pentagon Patrick Ryder entgegnete auf die Frage, ob die MQ-9 Waffen trug, dass er "nicht auf die Einzelheiten dieses Geräts eingehen" möchte. Er berichtete ebenfalls, dass die USA über eine Videoaufnahme des Vorfalls verfügen und gegenwärtig an der Freigabe dieser Aufzeichnung arbeiten.
Natürlich unterscheiden sich die Versionen des US-amerikanischen und russischen Militärs bezüglich des Vorfalls. In der offiziellen Erklärung des europäischen Kommandos der US-Streitkräfte heißt es, dass "eine russische Su-27 gegen den Propeller der MQ-9 einschlug und die Luftwaffe der USA zwang, die MQ-9 in internationale Gewässer abstürzen zu lassen".
Russlands Verteidigungsministerium erklärt indessen, dass die russischen Jäger keine Bordwaffen eingesetzt hätten und mit der Drohne nicht in Kontakt getreten und erfolgreich auf ihre Basis zurückgekehrt seien. Was die US-amerikanische Drohne angeht, sei sie laut der Meldung des Ministeriums "in einen unkontrollierten Flug übergegangen und mit der Wasseroberfläche kollidiert". Die Drohne sei ohne eine äußere Einwirkung von selbst abgestürzt.
Es sollte angemerkt werden, dass die russische Version zumindest deshalb überzeugender erscheint, weil jede Kollision in der Luft ein Risiko für alle Beteiligten darstellt. Zwar ereignen sich manchmal solche Fälle, doch fast immer zufällig, denn die Folgen sind komplett unvorhersehbar. Es ist undenkbar, dass das Kommando der russischen Luftstreitkräfte dem Piloten den Befehl erteilte, die US-amerikanische Drohne zu rammen. Das wäre ein Befehl, das Leben des Piloten und schon ganz sicher die Unversehrtheit der Maschine ohne wirkliche Gründe zu riskieren.
Es ist allerdings hinreichend bekannt, wie sich die russischen Jagdflugzeuge beim Abfangen von Zielen nahe der Staatsgrenze benehmen. Diese Fertigkeiten sind Dutzende von Jahren alt und seit der sowjetischen Zeit bekannt.
Erstens erscheinen die US-amerikanischen Behauptungen, wonach die Su-27 die Drohne mit Treibstoff überschüttete, glaubwürdig. Es ist eine alte Tradition der russischen und sowjetischen Jäger, vor dem Ziel den Treibstoffschnellablass kurz anzuschalten. So handelten regelmäßig die sowjetischen Piloten über dem Baltikum und dem Barenzsee, wenn sie westliche Aufklärungsflugzeuge vom Typ P-3 Orion abfingen.
Zweitens ist ein Su-27-Jäger viel wendiger und schneller als die Orion und die Drohnen. Während des Abfangens machen die russischen Piloten oft scharfe Manöver um das Ziel. Das Triebwerk des Jägers erzeugt eine sogenannte Wirbelschleppe, und selbst ein schwerer Bomber erfährt heftige Turbulenzen, wenn er darin hineinfliegt.
Wahrscheinlich hat das russische Jagdflugzeug die US-amerikanische Drohne tatsächlich ohne Berührung durch die Wirbelschleppe abstürzen lassen. Die MQ-9 ist für solche Fälle ganz sicher nicht ausgerichtet.
Und natürlich sollte eine weitere wichtige Tatsache erwähnt werden: Gleich nach dem Vorfall erschienen Meldungen, dass Russland eine spezielle Operation zur Bergung der Wrackteile der US-amerikanischen Drohne aus dem Meer durchführt. Dass diese Maßnahmen so schnell ergriffen und einige Fragmente der MQ-9 gleich gefunden wurden, deutet auf eine Planung hin.
Bemerkenswerterweise fliegen US-amerikanische Drohnen regelmäßig in der Nähe der Küste der Krim. Ihre Route und Flugzeiten sind bekannt. Das russische Militär könnte ausrechnen, wann und wo die MQ-9 erscheint, und zu ihrem Absturzort im Vorfeld Schiffe entsenden.
Was war es also – die Durchführung eines geschickten Plans oder ein Zufall, der sich tatsächlich ereignen könnte? Sollte es ein Plan gewesen sein, werden wir in nächster Zukunft über einen weiteren Fall hören, wenn eine US-amerikanische Drohne nahe der Krimküste "mit der Wasseroberfläche kollidiert". Dies würde eine prinzipielle Änderung der russischen Politik in Bezug auf die Spähflugzeuge der NATO bedeuten, die in der Nähe der russischen Grenzen regelmäßig erscheinen.
Die westlichen Aufklärungsflugzeuge führen regelmäßig Flüge in der Nähe des russischen Territoriums durch. Besonders oft werden dazu Drohnen eingesetzt, die in Rumänien, Italien und Deutschland basieren. Diese Maschinen können sich eine lange Zeit in der Luft befinden, Luft-, Boden- und Wasserziele erkennen und all diese Informationen in Echtzeit an das NATO-Kommando weiterleiten.
Wichtig ist, dass die NATO offen gesteht, dass sie diese Angaben mit dem Kiewer Regime teilen. Somit ist die MQ-9-Drohne der Teil eines großen Programms der NATO zur Luftaufklärung, das im Interesse des ukrainischen Militärs betrieben wird und den Verlauf der Kampfhandlungen während der Spezialoperation direkt beeinflusst. So wurde im Mai des vergangenen Jahres bekannt, dass es gerade die USA waren, die der Ukraine Informationen zum Kreuzer "Moskau" übergaben, was den Anschlag gegen das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte ermöglichte.
Doch die Aktivitäten der westlichen Fluggeräte an den russischen Grenzen wurden seit Langem zu einem klaren Trend. So war im Januar über dem Baltikum ein Flugzeug vom Typ P-3 Orion abgefangen worden, das Deutschland gehörte.
Weil all diese Flugzeuge und Drohnen aber in den Luftraum der Ukraine und erst recht Russlands nicht eindringen, können sie nicht militärisch bekämpft werden, ohne eine direkte bewaffnete Konfrontation mit den USA zu riskieren. Experten erklärten, dass wenn die USA auch weiterhin darauf bestehen, dass die MQ-9 durch einen Kontakt mit dem russischen Flugzeug abstürzte, sie unwiderlegbare Beweise vorlegen müssen.
"Bisher kennen wir keine Details des Vorfalls. Washington versprach, ein Video des Vorfalls zu veröffentlichen, doch Angaben einer objektiven Kontrolle wurden immer noch nicht vorgelegt. Gegenwärtig verfügen wir über die Erklärung des Verteidigungsministeriums der USA und Aufnahmen der Gespräche unserer Piloten", erklärte der Experte des Zentrums für militärpolitische Journalistik Boris Roschin gegenüber der Zeitung Wsgljad.
"Es ist bemerkenswert, dass die Versionen der beiden Seiten ganz unterschiedlich sind. Moskau erklärt, dass es keinen Kontakt zwischen dem Flugzeug und der Drohne gab, während Washington das Gegenteil behauptet. Und hier müssen die USA eine Videoaufnahme des Vorfalls oder Messdatenübertragungen der abgestürzten MQ-9 vorlegen, um ihre Anschuldigungen zu begründen", führte er aus.
"Indessen schlägt uns die westliche Presse nur Rekonstruktionen vor, die nichts Konkretes bestätigen. Mehr noch, die vorgelegten Modelle des Vorfalles erscheinen widersprüchlich und stellen de facto unterschiedliche Versionen dar", sagte der Experte.
"Es gibt auch Informationen, dass Russland die Wrackteile der abgestürzten US-amerikanischen Drohne bergen würde. Und falls dem so wäre, ist für uns nicht der Flugzeugkörper, sondern sein Inneres von größerem Interesse. Die Elektronik und Beobachtungsgeräte werden regelmäßig modernisiert. Und Moskau könnte sie erforschen", vermutete er.
"Wie das Beispiel Irans zeigt, gibt das Abfangen von US-amerikanischen Drohnen in günstigen Fällen die Möglichkeit, das Innere der Geräte detailliert zu erforschen. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass die USA den Vorfall unter den Teppich zu kehren versuchen. De facto werden sie Moskaus Handlungen nur verbal verurteilen. Dabei werden ihre Drohnen auch weiterhin über dem Schwarzen Meer fliegen", sagte Roschin.
"Die MQ-9 ist ein großes Fluggerät. Und sie fliegt in einer viel kleineren Geschwindigkeit als die Su-27. Darüber hinaus ist die MQ-9 relativ leicht. Deswegen reicht es aus, dass unsere Maschine daneben vorbeifliegt, damit die Drohne in die Wirbelschleppe gerät und abstürzt", fügte der Chefredakteur des Portals Avia.ru Roman Gussarow hinzu.
"Insgesamt sollte der Vorfall als eine Warnung Russlands an die Vereinigten Staaten angesehen werden. Formal haben unsere Flugzeuge nichts getan, was als Angriff auf die US-amerikanische Drohne gewertet werden könnte", erklärte der Experte.
"Dennoch glaube ich, dass die USA ihre Spähflüge fortsetzen werden. Russland wird indessen für sich das Recht vorbehalten, auf derartige Verletzungen des eigenen Luftraums zu reagieren", vermutete er und erklärte:
"Bemerkenswerterweise flog die Drohne ohne Transponder und wurde deswegen von den Bodendiensten nicht registriert. Wahrscheinlich wollten sie unbemerkt 'vorbeischleichen'. In allen Ländern auf allen Kontinenten erheben sich zum Abfangen von unbekannten Flugobjekten Jäger in die Luft. Die USA wissen das und werden daher versuchen, auf ihrer eigenen Version des Vorfalls zu bestehen."
"Natürlich behauptet Washington, dass unsere Handlungen unprofessionell seien. Doch in Wirklichkeit haben unsere Piloten eine Juwelierarbeit verrichtet. Denn sie sind in der Nähe der Drohne vorbeigeflogen, ohne sie zu berühren, ohne Waffen einzusetzen und dergleichen. Zumal die Drohne de facto vernichtet wurde", schlussfolgerte Gussarow.
Die US-amerikanische Spähmaschinerie hatte lange Zeit ungestraft gegen Russland gearbeitet. Der Vorfall vom 14. März ist das erste Beispiel eines erfolgreichen Widerstands Russlands gegen die Luftaufklärung der NATO, und möglicherweise nicht das letzte. Darauf weist die Erklärung des russischen Botschafters in den USA Anatoli Antonow hin. In seinem auf Telegram veröffentlichten Kommentar heißt es:
"Die unzulässige Tätigkeit der US-Militärs in unmittelbarer Nähe unserer Grenzen ruft Besorgnis hervor. Wir wissen genau, zu welchem Zweck solche Aufklärungs- und Kampfdrohnen eingesetzt werden."
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
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