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Faktencheck "Holodomor", Teil 2: Eine präzedenzlose Verzahnung von Umständen

Der Bundestag hat am Mittwoch nach jahrelang ablehnender Haltung beschlossen, die Hungersnot 1932/1933 in der Ukraine als Völkermord zu werten. RT DE wird sich in einer Reihe von Artikeln mit den Ereignissen jener Jahre beschäftigen. In diesem Teil versuchen wir zu rekonstruieren, was wirklich geschah.
Faktencheck "Holodomor", Teil 2: Eine präzedenzlose Verzahnung von UmständenQuelle: Sputnik © Jan Tichonow

Von Anton Gentzen

Wir haben im 1. Teil gesehen, dass die Unionsregierung in Moskau sich vor und während der Hungersnot nicht wie jemand verhielt, der einen Massenmord plant und durchführt. Im 3. Teil werden wir Dokumente präsentieren, die zeigen, in welchem Umfang Moskau in den Jahren 1932 und 1933 der Ukraine hat Hilfen zukommen lassen. Doch zunächst ist es Zeit, zu erklären, wie es zu der Hungersnot des Winters 32/33 überhaupt kommen konnte.

Um das zu verstehen, reicht es nicht, allein das Jahr 1932 zu betrachten, denn es gibt nicht eine singuläre Ursache der Tragödie. Die Katastrophe bahnte sich vielmehr in den Vorjahren an. Um die Wechselwirkung der Ursachen und Faktoren zu verstehen, muss man die zu ihr führende Entwicklung betrachten.

Vorgeschichte: Forcierte Industrialisierung im Angesicht des herannahenden Weltkrieges

Die Sowjetunion lebte in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der festen Gewissheit, dass sie nur eine Ruhepause erhalten hat, ein Krieg mit den imperialistischen Staaten des Westens unvermeidbar ist und es nur eine Frage der Zeit ist, dass er ausbricht. Diese Erwartung hat sich im Juni 1941 bewahrheitet.

Jedem im Land war bewusst, dass eine schnelle Überwindung der eigenen Rückständigkeit Voraussetzung dafür ist, in dem kommenden Krieg zu bestehen. Das Land musste schnellstmöglich industrialisiert werden und darauf waren alle Bemühungen der neuen Machthaber gerichtet. Zunächst setzte sich im Machtkampf zwischen Trotzki und Stalin der von Lenin eingeschlagene evolutionäre Weg der staatskapitalistischen Entwicklung statt der von Trotzki präferierten forcierten Industrialisierung durch. Ende der Zwanzigerjahre zeigte sich, dass das auf diesem Weg erreichte Tempo nicht genügen wird, um binnen eines Jahrzehnts – so kalkulierte man – den nötigen Quantensprung zur Industriegesellschaft zu schaffen.

Ein großes Hemmnis bei der Entwicklung war die geringe Produktivität der Landwirtschaft. Dabei spielten klimatische Bedingungen eine Rolle, in erster Linie aber der Umstand, dass die Bauern wie vor Hunderten vor Jahren den Boden bestellten: auf kleinen Ackerflächen, nicht mechanisiert, bestenfalls mithilfe von Zugpferden oder Ochsen, ohne größeren Einsatz von Dünger. Nicht ohne Grund drehte sich im ersten sowjetischen Fünfjahresplan (1928 bis 1932) alles um die Produktion landwirtschaftlicher Maschinen, insbesondere von Traktoren. Drei gigantische Traktorenwerke entstanden in jenen Jahren: in Charkow, in Stalingrad und in Tscheljabinsk, ein viertes in Minsk war in Planung. Die neue Technik sollte den Durchbruch bringen: die Produktivität der Landwirtschaft so weit steigern, dass Getreideexporte die nächsten Industrialisierungsstufen finanzieren könnten, und die dringend benötigten Millionen und Abermillionen Männer und Frauen freisetzen, die als Arbeiter in den im zweiten Fünfjahresplan zu schaffenden Automobil-, Flugzeug- und Munitionsfabriken benötigt wurden.

Die neue Technik konnte auf den kleinen Feldern der Einzelbauern jedoch nicht effektiv genug eingesetzt werden. Einerseits hätte es viel zu lange gedauert, um jeden einzelnen Bauern mit einem eigenen Traktor und dem nötigen Zubehör auszustatten, andererseits wäre die teure Technik bei ihm nur wenige Wochen im Jahr im Einsatz. Nur auf großen landwirtschaftlichen Gütern konnten die Traktoren schnell für Durchbruch sorgen. In den USA kauften reiche Farmer die Felder ärmerer Nachbarn auf und erreichten so eine hohe Produktivität. In der Sowjetunion waren die Bauern aufgerufen, zu kooperieren, ihre Felder zusammenzulegen und sie gemeinsam mit der vom Staat überlassenen Technik zu bewirtschaften.

Die Tendenz in den Jahren von Lenins Neuer Ökonomischer Politik hatte indes in die entgegengesetzte Richtung gezeigt: Die bäuerlichen Höfe waren nicht weniger geworden, sondern mehr. Die Zahl der bäuerlichen Einzelwirtschaften war zwischen 1913 und 1928 von 16 Millionen auf 25 Millionen angewachsen, die durch sie bestellte landwirtschaftliche Fläche hatte sich im selben Zeitraum jedoch nur um zehn Prozent erhöht. Die durchschnittliche Größe eines landwirtschaftlichen Betriebes war selbst gegenüber den traditionell kleinen Feldern der Zarenzeit noch einmal gesunken, statt zu wachsen. Schlimmer noch: Mehr als 30 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe hatten keinerlei Arbeitstiere und hatten keine eigenen Werkzeuge zur Bearbeitung des Bodens gehabt. 1928 waren 9,8 Prozent der Anbaufläche mit Manneskraft gepflügt worden, drei Viertel der Aussaat waren von Hand erfolgt, 44 Prozent der Ernte war mit Sichel und Sense eingebracht worden, 40,7 Prozent des Dreschens waren manuell ausgeführt worden. Es glich einem Wunder, dass auf diese mittelalterliche Weise 1928 immerhin 73 Millionen Tonnen Getreide hatten abgeerntet werden können.

Der XV. Parteitag der KPdSU im Dezember 1927 hatte zunächst weiter auf die freiwillige Kooperation der eigenständigen Bauern gesetzt. Er hatte lediglich eine Intensivierung der Propaganda gefordert, die ihnen die Vorteile des kollektiven Wirtschaftens nahebringen sollte. Einen gewissen Erfolg erzielte die darauffolgende Kampagne auch: Während per 1. Juli 1927 194.700 einzelbäuerliche Betriebe zu 14.880 Kooperationen zusammengeschlossen gewesen waren, waren es zwei Jahre später, am 1. Juli 1929, über eine Million Individualbauern in fast 57.000 Kooperativen. Bei einer Gesamtzahl von 25 Millionen Einzelbauern war das angestrebte Produktivitätsziel indes nach wie vor in weiter Ferne.

Erster Schritt zur Tragödie: Die Kollektivierung der Landwirtschaft wird forciert (1929/1930)

Den Startschuss zur radikalen Änderung der Politik gab Stalin in mehreren Reden und Publikationen im Jahr 1929. Er forderte darin eine schnelle und umfassende Kollektivierung. Neben Kooperationen freier Bauern (Kolchosen) sollten zunehmend Landwirtschaftsbetriebe geschaffen werden, die unmittelbar den Sowjets unterstanden und in denen Bauern Arbeitern gleich gegen Lohn und Gehalt beschäftigt werden sollten.

Die aktive Phase der forcierten Kollektivierung und Verstaatlichung der Landwirtschaft begann im Frühjahr 1929. Auf dem Land wurden auf der Partei- und der Verwaltungslinie Aktivitäten zur Erhöhung der Zahl der Kolchosen durchgeführt, insbesondere Komsomol-Kampagnen zur "Kollektivierung". Vor allem durch administrativen Druck wurde eine erhebliche Zunahme der Kolchosen erreicht.

Jetzt kamen die bäuerlichen Psyche und Mentalität ins Spiel. Die große Masse der Bauern betrachtete die Kolchosen nicht als ihr Eigentum, obwohl sie darin rechtlich Anteilseigner wie in jeder Genossenschaft deutschen Rechts waren. Die mit dem Beitritt zur Kolchose verbundene Übergabe des Inventars und der Nutztiere wurde als endgültiger Verlust gesehen, obwohl in den Statuten immer das Recht zu Austritt und die Rückgabe des Eingebrachten an den Austretenden verankert war. Es waren keine Einzelfälle, es war ein Massenphänomen: Die Bauern schlachteten ihre Nutztiere vor dem Kolchos-Beitritt. Milchkühe, Zugochsen und Zugpferde wurden im Sommer und Herbst 1929 zu Hunderttausenden verspeist.

Hatte die Anzahl der Pferde in der Russischen Föderation Ende 1927 noch bei über 18 Millionen gelegen, ging sie bis 1931 auf nur noch acht Millionen zurück.

Hinsichtlich der Ochsen lässt sich der Rückgang daraus erahnen, dass der Bestand von großem Hornvieh per 31. Dezember 1927 bei 37,6 Millionen (darunter 19,9 Millionen Kühe) gelegen hatte, aber bis Ende 1931 auf 23,4 Millionen (14,6 Millionen Kühe) und bis Ende 1932 nochmals auf 21,4 Millionen Stück (13,3 Millionen Kühe) zurückging. Das deutet auf eine Halbierung des Bestandes der Ochsen hin.

Hierzu muss man wissen, dass die Produktion der Traktoren und der Landmaschinen gerade erst anlief. In Stalingrad war der erste Traktor am 17. Juni 1930 vom Band gelaufen, die volle Kapazität (144 Traktoren am Tag) wurde jedoch erst im April 1932 erreicht. Die Bauarbeiten für das Traktorenwerk in Charkow hatten im April 1930 überhaupt erst begonnen, der erste Traktor verließ die Hallen im Herbst 1931, und im Laufe des Jahres 1932 wurden dort erst 16.000 Traktoren produziert. In Tscheljabinsk wurde die Produktion im Mai 1933 aufgenommen, als die Hungersnot schon vorbei war.

Die Dezimierung des Bestandes an Zugtieren bei noch nicht ausreichendem mechanisiertem Ersatz führte dazu, dass die Produktivität der Landwirtschaft zuerst einmal nicht stieg, sondern einbrach, verschlimmert noch durch die am Boden liegende Motivation der Bauern. Die Folge: Die Getreideproduktion sank von den oben erwähnten 73 Millionen Tonnen 1928 auf 71 Millionen 1930 und – dramatisch – auf 59 Millionen Tonnen 1931.

Zweiter Schritt zur Tragödie: Losgelassene Zügel (1930/1931)

Der Höhepunkt der Kollektivierungskampagne fiel in die Zeit von Januar bis Anfang März 1930. Zuvor hatte das Zentralkomitee der KPdSU(B) am 5. Januar 1930 den Beschluss "Über das Tempo der Kollektivierung und die Maßnahmen der staatlichen Hilfe beim Aufbau der Kolchosen" veröffentlicht. Das Dekret sah vor, die Kollektivierung bis zum Ende des Fünfjahresplans (1932) im Wesentlichen abzuschließen, wobei wichtige Getreideanbaugebiete wie die untere und mittlere Wolga und der Nordkaukasus bereits im Herbst 1930 oder im Frühjahr 1931 einbezogen werden sollten.

Die "Kollektivierung" wurde oft nach willkürlichen Vorstellungen des einen oder anderen lokalen Beamten durchgeführt – in Sibirien zum Beispiel wurden die Bauern massiv "in Gemeinden organisiert" und das gesamte Eigentum vergemeinschaftet. Die Bezirke konkurrierten, um zu sehen, wer den höchsten Prozentsatz der Kollektivierung erreicht. Auch repressive Maßnahmen wurden in großem Umfang eingesetzt. Die dafür Verantwortlichen wurden später nahezu ausnahmslos zur Todesstrafe oder zu Lagerhaft verurteilt und gelten heute als "Opfer stalinistischen Terrors".

Das Ende dieser Phase leitete das am 2. März 1930 in der Prawda veröffentlichte Grundsatzreferat Stalins mit dem Titel "Vor Erfolgen von Schwindel befallen" ein. Darin wurden die Willkürmaßnahmen und die Rechtsbeugung in den Bezirken scharf verurteilt, als Parteilinie wurde festgelegt, dass die freie und eigenwirtschaftliche Kooperation der Bauern das Ziel der Kollektivierung sein muss. Der Idee einer landwirtschaftlichen Kommune wurde eine Absage erteilt.

Kurz nach der Veröffentlichung des Artikels wurde in dem Erlass des Politbüros vom 14. März 1930 "Über den Kampf gegen die Entstellung der Parteilinie in der Kolchosbewegung" das Vorgehen der übereifrigen Parteimitarbeiter als "linke Verzerrung" bezeichnet, woraufhin die Kollektivierungskampagne vorübergehend ausgesetzt und eine Reihe von Funktionären verurteilt wurde.

Nach Wegfall des administrativen Drucks machten Millionen Bauern von ihrem Recht auf Austritt aus den Kolchosen Gebrauch. Zum 1. Juli 1930 waren nur noch 21 Prozent aller Bauern in den Kolchosen organisiert. Die Austretenden verließen die Genossenschaft so, wie sie ihr beigetreten waren: mit Flurstück und Inventar, ausgezahltem Anteil am abgeernteten Wintergetreide und einem Saatgutdarlehen. Und, da "vorsorglich" vor dem Beitritt verspeist, vielfach ohne Zugpferd und Zugochsen.

Fortsetzung folgt.

Mehr zum Thema - US-Repräsentantenhaus erkennt sogenannten "Holodomor" als Völkermord an Ukrainern an 

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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