Putin sieht historischen Scheidepunkt: Es warten viele Gefahren, aber auch Chancen für die Welt
Eine Analyse von Andrei Rudaljow
Über den westlichen Hegemonismus, destruktive und aufdringliche Ansprüche auf Einmaligkeit hat Wladimir Putin auch vor einem Jahr auf der Sitzung des Waldai-Klubs gesprochen. Damals zog er die Bilanz der missbildeten Weltordnung, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand.
Die Konfrontation zweier Supermächte schien der Vergangenheit anzugehören, die Sowjetunion war zerfallen, Russland öffnete seine Arme für die "zivilisierte" Welt. Man könnte meinen, die weltweite Harmonie könnte auf Grundlage von Gleichberechtigung aufgebaut werden, und globale Konflikte werden aufhören. Doch stattdessen verkündete der Westen die Idee des eigenen vollständigen und endgültigen, zivilisatorischen und totalen Sieges. Aus der Idee dieses Sieges erwuchs die Einrichtung ebendieser unipolaren Welt und des Monopolrechts des Westens, das Mustermaß in allen Bereichen zu sein, seinen Willen zu diktieren und jede Eigenwilligkeit zu unterdrücken. Deshalb wurde die Chance für die Welt verpasst, die sich gerade eben erst von permanenten apokalyptischen Ängsten des Kalten Krieges erholt hatte.
Die Welt verwandelte sich in eine Pyramide, an deren Spitze die sprichwörtliche "City upon a Hill" steht. Es entstand eine im Grunde wahnsinnige Situation, als die Menschheit erneut getrennt wurde. Diesmal geschah es nicht aus ideologischen Gründen, sondern sie wurde de facto in olympische Halbgötter der goldenen Milliarde und den Rest der Welt aufgeteilt. Die Letzteren hatten den Willen der Ersteren zu befolgen, ihre Launen zu dulden und auf ihren Altar reiche Opfergaben zu bringen, um ihren Zorn und die Verwandlung des eigenen Landes in Jugoslawien, den Irak, Libyen usw. zu vermeiden.
Doch diese ganze Konstruktion – die Utopie des amerikanischen Traums – erwies sich im Laufe der Jahre als völlig nicht überlebensfähig und für die Welt äußerst gefährlich. Deshalb sagte der russische Staatschef auch vor einem Jahr, dass die "Vorherrschaft des Westens in internationalen Angelegenheiten" zum Ende kam und stellte fest, dass der Kapitalismus sich ausgeschöpft habe. Die heutigen Verhältnisse, als der Westen seine eigenen fundamentalen Prinzipien verletzte, wie etwa die Unverletzlichkeit des Eigentums, bestätigten dies nur.
Beim vergangenen Treffen des Waldai-Klubs hatte Putin als Ausweg die Orientierung auf Souveränität, auf das traditionelle und für jedes Volk und jede Kultur einzigartige Wertesystem genannt, das sich nicht aus bestimmten Ideologien und laufender Konjunktur ableitet. Diesen Weg hatte er als "Konservatismus der Optimisten" bezeichnet. Damals hatte der Präsident angemerkt, dass Russlands Vorteil in seiner historischen Erfahrung liege. Auch auf der diesjährigen Sitzung des Waldai-Diskussionsklubs nannte er Russland eine unabhängige und eigenständige Zivilisation.
Im vergangenen Jahr hatte sich vieles verändert. War damals die Bilanz der Periode der Hegemonie gezogen worden, so war diesmal die Rede von der Welt danach. Im Grunde zeigten die Ereignisse nach dem 24. Februar, dass die Welt niemals die gleiche sein wird, dass sie keinesfalls in die alten Standards hineingezwungen werden kann, in die vom Westen vorbereiteten und als seine Hauptregel festgelegten kolonialen Fesseln. Wie Putin anmerkte, konnten die westlichen Machthaber damals "ganz ohne Regeln leben und alles war ihnen erlaubt, mit allem, was sie taten, konnten sie davonkommen".
Daher rührt die Hysterie und die panischen Reaktionen der Hauptnutznießer der vergangenen Weltordnung. Als sie sich im Grunde selbst entlarvten und in ihrer ganzen Unansehnlichkeit dastanden, wurden ihre Taten, Verhaltensreaktionen und Ziele klar. Es ist psychologisch schwer, vom Olymp zu stürzen, besonders wenn man sich eingeredet hatte, dass dort unten wilde, aggressive und komplett unvernünftige menschenähnliche Horden leben, die nur aus der Höhe beobachtet und wie in einem Computerspiel manipuliert werden sollten.
Wie auch vor einem Jahr, sprach Putin von Realismus und nannte die Sachen beim Namen. Eine der prinzipiell wichtigen Aussagen war diejenige über vergangene Befürchtungen, dass sich Russland in eine Halbkolonie verwandle und dass es ohne westliche Partner nichts als Verödung erwarte. Als Gegenentwurf zum halbkolonialen Dasein erschien in der Rede des Präsidenten der Begriff der Zivilisation.
Und tatsächlich gab es eine etablierte Meinung, dass Russland nicht nur sein Platz irgendwo am Rande der westlichen Welt zugewiesen wurde, sondern dass es von dieser Welt gefesselt war, mit Blick auf westliche Lehrer und Leiter handelte, lange Zeit versuchte, artig zu sein und vor vielem die Augen verschloss. Dazu befand es sich in einem westzentrierten Koordinatensystem, als individuelle Unterschiede ausgelöscht wurden, alles Souveräne als eine Abweichung vom anzustrebenden Ideal wahrgenommen wurde. Daher rührten gewisse Selbstzweifel, Unglaube an die eigenen Kräfte und Nihilismus in Bezug auf sich selbst.
Das Land versank quasi im Sumpf der unipolaren Welt des Absurden, die nur Eigenes aufzwang und alles Einzigartige verneinte. Und nun steht dieser Welt der Abschaffung die russische Zivilisation entgegen. Es entstand ein Vertrauen in die eigenen Kräfte, der eigene Nihilismus und Minderwertigkeitskomplexe wurden überwunden, ebenso die "Cancel Culture", in deren Griff wir uns befunden hatten. So zeigte Putin ein Beispiel der Überwindung des Neokolonialismus am Beispiel Russlands. Er erklärte, dass eine "Reinigung" und ein "Verständnis der eigenen Möglichkeiten" stattfand.
Welche Perspektive wir hätten, falls wir den uns von "Siegern" und Hegemonen zugewiesenen Weg weiter beschritten hätten, ist ebenfalls klar. Am anschaulichsten wird die westliche koloniale destruktive Politik am Beispiel der Ukraine sichtbar. Ein organisierter und großzügig bezahlter Umsturz, nach dem alles getan wurde, um das Land bis zur Unkenntlichkeit zu verunstalten, der Ukraine das eigene Gesicht wegzunehmen und stattdessen eine schreckliche menschenverachtende Maske aufzuziehen. Von Anfang an war diese "Säuberungsaktion" blutig, diesem Blut huldigt man dort auch heute. Angeblich befreie es die Ukraine vor dem eigenen ehemaligen Selbst.
Das gleiche Szenario wurde auch für Russland vorbereitet: Umsturz, Chaos, Wirren und Perestroika-artige Säuberung mit anschließender Desintegration. Daher Putins Verweis auf die Bekämpfung des Terrornests im Nordkaukasus, das vom Westen finanziell, politisch und informationell unterstützt wurden. Damals wurde versucht, das geschwächte Land in die terroristische Matrix hineinzuzwingen und aufzuteilen. Heute geschieht Ähnliches in der Ukraine und durch die Ukraine, die ebenfalls in eine Art Terrornest verwandelt wurde.
All das geschieht, weil der Hegemon Chaos und Brennpunkte der Instabilität braucht. Er ernährt sich davon, er duldet keine Anzeichen einer Konkurrenz, nicht einmal einer hypothetischen. Dadurch herrscht und manipuliert er, stürzt Länder in Abhängigkeit, monopolisiert den Begriff der Freiheit und konstruiert eine eigene Deutung von liberalen und demokratischen Werten, die zum Deckmantel der Verbreitung des kolonialen Jochs, manchmal aber auch zu einer kolonialen Peitsche instrumentalisiert werden.
Und wie die heutigen Realitäten zeigten, ist die heutige Interpretation des Liberalismus und Progressismus nur einen Schritt – wenn überhaupt – vom Faschismus entfernt. Um diesen Trieb zu überwinden, ist eine Orientierung auf traditionelle Gesellschaften notwendig. Eine Welt aus vereinigten Nationen kann nur bestehen, wenn diese souverän, selbstständig und gleichberechtigt sind.
Daraus leitet sich das Hauptziel der posthegemonialen Welt – eine Wiederherstellung der Selbstständigkeit, auch in Europa. Darin liegt seine Befreiung und Rettung, denn das Konzept der Einzigartigkeit des Hegemons, der um jeden Preis seine Herrschaft über die Welt zu verlängern versucht, sieht Europas Verwandlung in ein weiteres Aufmarschgebiet der globalen Konfrontation vor. Dabei ist dies Europa selbst, das sich zunehmend in ein Anti-Europa verwandelt, nicht vollständig bewusst.
"Wir stehen an einem historischen Scheidepunkt, vor uns liegt das wohl gefährlichste, unberechenbarste und zugleich wichtigste Jahrzehnt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs", erklärte der russische Präsident. Er erschafft dabei keine abstrakten utopischen Konstruktionen und versucht nicht, die Welt russischen Interessen anzupassen, sondern agiert in der Realität und leitet sich vom Grundsatz der Gerechtigkeit. Russland verteidigt laut Putin lediglich sein Recht auf Entwicklung und hat nicht vor, zum neuen Hegemon zu werden.
Dabei ist es keine situative Entscheidung, sondern eben der zivilisatorische Weg Russlands. Und hier kommen die Verse des Dichters und Philosophen Alexei Chomjakow in Erinnerung, die er noch im Jahr 1839 im Gedicht "An Russland" geschrieben hatte. Darin schrieb er von einer "hellen Bestimmung" Russlands, "die heilige Bruderschaft der Völker" zu bewahren. Ziemlich aktuell, möchte man sagen …
Ja, vor uns liegt eine Zeit vieler Gefahren, doch birgt sie auch eine neue Chance für die Welt, "eine Symphonie menschlicher Zivilisation" aufzubauen, gewisse Fehler der vergangenen 30 Jahre zu beheben, als die vorherige globale Konfrontation endete. Putins Waldai-Rede ist zweifellos revolutionär. Doch liegt der heutige revolutionäre Geist im Traditionalismus. Das sind zwei Bestandteile einer normalen Entwicklung. Und noch etwas: Zuvor klagte man bisweilen, dass es nach Gandhi keine guten Gesprächspartner mehr gebe … Heute ist das nicht mehr so.
Übersetzt aus dem Russischen.
Andrei Rudaljow ist ein russischer Publizist, Schriftsteller und Literaturkritiker.
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