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China ist nicht wütend – China sammelt sich

"Der größte Sieg ist der, der keine Schlacht erfordert", schrieb schon Sun Tzu, der chinesische Verfasser des ältesten Lehrbuchs für Strategie. Wenn man sich fragt, wie die komplette chinesische Reaktion auf Pelosis Provokation aussieht, muss man Geduld haben.
China ist nicht wütend – China sammelt sichQuelle: www.globallookpress.com © Ju Huanzong

Eine Analyse von Alexei Tokarjew

Internationale Beziehungen unterscheiden sich von zwischenmenschlichen dadurch, dass sie keine Kategorien wie "für immer" oder "nie" haben. Demütigung wird durch Verbitterung abgelöst, Scham durch Angriff, Frieden durch Krieg, Beleidigung durch Verlangen nach Rache. Ein offensichtliches Beispiel für die Verwirklichung dessen, was Alfred Adler einen Minderwertigkeitskomplex beim Menschen nannte, wenn die Frustration eines objektiven Mangels einen dazu zwingt, einen Beruf oder eine Kreativität zu entwickeln, zeichnet sich bei den Staaten seit 1918 ab. Der Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg verdammte Deutschland dazu, 13,4 Prozent seines Territoriums der Vorkriegszeit abzutreten und 7,3 Millionen Deutsche an die angrenzenden Staaten zu verlieren. Damit war das Bedürfnis nach einem Politiker vorprogrammiert, der den Deutschen Rache für die nationale Demütigung versprach.

Der Kampf gegen das Erbe des "Zeitalters der Erniedrigung", in dem China von 1839 bis 1949 ständigen Interventionen ausländischer Mächte ausgesetzt war, war eine der ideologischen Grundlagen, auf denen Sun Yatsen, Chiang Kaishi und Mao Zedong das neue Land aufbauten. Russland, das in den 1990-er Jahren nicht nur die innere Armut und die territoriale Desintegration verspürte, sondern auch einen starken Einflussverlust auf der Weltbühne hinnehmen musste, hat zum Jahr 2000 eine klare Nachfrage nach Respekt seitens der führenden Akteure und einer Rückkehr zu seinem früheren Einfluss in internationalen Angelegenheiten formuliert.

Die Ukraine, welche im Jahr 2014 die Krim verlor und auf dem Niveau der damaligen Führung grundsätzlich nicht in der Lage war, Widerstand zu leisten (lesen Sie das Protokoll der Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates vom 28. Februar 2014), hat in den letzten acht Jahren die Nation auf antirussischer Grundlage zusammengewürfelt, wobei dem herrschenden Regime fremde Gruppen ausgeschlossen werden und die zurückgebliebenen eine Bereitschaft zum Kampf mit direkter finanzieller, technischer und personeller Unterstützung des Westens zeigen.

Mit anderen Worten ist die vorübergehende Beleidigung, Demütigung oder Erniedrigung einer ganzen Nation durch externe Akteure keineswegs ein Indiz für die dauerhafte Etablierung einer solchen Ordnung. Außerdem zerfällt das Gefüge der gegenwärtigen Weltordnung viel zu schnell, als dass die Demonstration der Fähigkeit einer führenden Persönlichkeit der Vereinigten Staaten, ohne Pekings Erlaubnis auf formal chinesischem Territorium zu landen, von der Schwächung einer Großmacht zeugen könnte.

Einerseits zeugt die Landung einer Boeing der US-Regierung von der Schwäche der chinesischen Souveränität über Taiwan. Und der amerikanische Denker Francis Fukuyama hat eine klare Formulierung dafür gefunden, die die Bedeutung erfolgreicher Staatlichkeit definiert: "Wenn man keinen bewaffneten Mann in Uniform schicken kann, um das Gesetz in einem Gebiet aufrechtzuerhalten, das man als sein eigenes betrachtet, dann ist es schwache Staatlichkeit". Andererseits hat der Besuch von Nancy Pelosi ein weiteres Argument dafür geliefert, weshalb die Verträge mit dem Westen "nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen", wodurch die faktische Kontrolle Taiwans näher gerückt ist, und die mangelnde Bereitschaft der Chinesen, eine drittrangige Person aus der amerikanischen Hierarchie abzuschießen, sollte als eine Zurückhaltung gewertet werden, aus einem von außen geschaffenen Anlass sofort in den Krieg zu ziehen. Die chinesische Denkschule lehrt eine andere Art des Kampfes: ohne offenen Kampf und so asymmetrisch wie möglich.

Aufgrund der Ergebnisse von Feldstudien über das Massenbewusstsein in China kann ich dem Leser versichern: China ist nicht Russland. Ein und dieselbe Situation wird in europäischen und orientalischen Gesellschaften völlig unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Anders als wir sind die Chinesen weniger impulsiv und schauen mehr auf die Beständigkeit. In Extremsituationen handeln sie weniger emotional. Um ihre Haltung gegenüber internationalen Turbulenzen zu beschreiben, ist eine Analogie zum Fahrverhalten treffend.

Auf der Straße ähneln wir den Amerikanern. Die Fähigkeit zu schneiden, zu fluchen, zu schreien und den Finger zu zeigen, wird auf beiden Seiten des Ozeans ausgiebig genutzt. Dabei ist der Verkehr im Allgemeinen nach den Regeln organisiert. Das chinesische Straßenchaos verdient einen eigenen Roman, doch einen starken Eindruck auf der Straße hinterließ ein Bus, der einen Zentimeter hinter meinem Fahrrad anhielt – ich beschloss, aus irgendeinem Grund einen Fußgänger auf den Zebrastreifen zu lassen. Der Busfahrer, der gerade dabei war, einen Mord zu begehen, hat nicht geschrien oder geflucht. Er sah ruhig auf die ungeschehene, europäisch aussehende Leiche und wartete darauf, bis sich das Missverständnis von ein paar hundert Fußgängern vor uns auflöste.

Die chinesischen Autofahrer bremsen nicht vor Zebrastreifen, sie verlangsamen gerade so viel, um den einzelnen risikofreudigen Mitbürgern die Möglichkeit zu bieten, sich durch den Fluss des Verkehrs hindurchzuzwängen. Als würden hier dieselben Fahrer schon seit ein paar tausend Jahren unterwegs sein: erst mit dem Karren, dann mit der Postkutsche, jetzt mit dem Auto. In unserem Europa waren wilde Ströme der Geschichte erlebbar, die Werte veränderten sich, es entstanden neue Staaten oder sie lösten sich auf, während aber China räumlich und historisch gesehen zu groß ist, um Menschenrechte, demokratische Ideale, die neue Ethik, Sexismus, Altersdiskriminierung und spezifische Transgender-Themen für universell zu halten.

Abgesehen davon sind die Chinesen keine militante Nation. Die aktive Zurschaustellung von #nichvergessennichtverzeihen und #wirkönneneswiederholen sind kein Charakterzug ihres Umgangs mit der Geschichte. Im Unterschied zu uns und den Amerikanern sind die Chinesen natürlich sehr viel verschlossener. In Peking und Shanghai, wo der Sinologe Alexei Prichodtschenko und ich 2019 die letzte Feldforschung vor der Pandemie durchführten, argumentierten die Teilnehmer der Fokusgruppen übereinstimmend, dass Russland zweifellos ein grandioses Land sei, das die chinesische Armee an Macht übertreffe, es sei auch ein Staat mit einer herausragenden Geschichte und einer großartigen Führungspersönlichkeit, während die USA die führende Wirtschaft aufweise und eine Supermacht sei. Auf die Frage, wo sich ihr Heimatland auf diesem Siegertreppchen befindet, haben die Chinesen nie den ersten Platz genannt. Aber unsere Methode zielte darauf ab, die Zensur der Worte zu überwinden. Wir baten die Befragten, ihre Antworten zu skizzieren, einschließlich einer Beschreibung der heutigen Volksrepublik China und des Chinas in zehn Jahren. Ein äußerst interessantes Detail: In allen Zeichnungen, in denen die Volksrepublik China mit ihren Nachbarn abgebildet war, wurde dieselbe Darstellung in verschiedenen Formen wiederholt. Die Sonne ist in der Mitte und kleine Planeten rundherum; ein riesiger, muskulöser Panda und kleinen Küken daneben; ein Wald mit dem größten Baum in der Mitte; ein riesiges Schiff in rauer See und schäbige Boote auf allen Seiten. Wir fragten einen der Beteiligten: Wo befindet sich Russland? Er zeichnete einen etwas größeren Küken neben dem riesigen Panda. In allen Zeichnungen übertraf China jeden seiner Nachbarn. Es war das Zentrum des Universums.

Die visuelle Perzeption der Chinesen von sich selbst und ihren Nachbarn ist radikal anders. Die nachgewiesenen Analogien in der soziologischen Forschung deuten nicht darauf hin, dass China bereit ist, morgen einen Krieg zu beginnen. Man kann von China mit Sicherheit behaupten, es vergesse nichts. Das bedeutet aber nicht, dass sein langes Gedächtnis es zwingt, immer ein Messer bereit zu halten. Dabei hindert das Verhältnis der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China, die gemäß unseren Staatsführern in bester historischer Verfassung ist, das Nationalmuseum in Peking nicht daran, seine Besucher daran zu erinnern, dass die Gebiete östlich des Amur-Flusses (die heutige Amur-Region, das Jüdische Autonome Gebiet, die Regionen Primorsk und Chabarowsk, die 1858-1860 zu Russland kamen) in der Vergangenheit zu China gehört haben.

Die eigenständige Aktion der 82-jährigen Pelosi (d. h. gegen die Position des Weißen Hauses) wird der hellste Punkt ihrer politischen Karriere werden. Der Sinologe Ivan Zuenko erinnert daran, dass die "Schikane und Provokation" Chinas eine persönliche "Intifada" von Pelosi ist, die bereits zwei Jahre nach den Ereignissen von 1989 nach Peking geflogen war, um auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit einem provokativen Plakat aufzutreten. Der Anforderungen der Sinologen der ganzen Welt betrifft die Tatsache, so Zuenko, dass die Amerikaner die Volksrepublik als eine Einheit anerkennen und diplomatische Beziehungen mit Peking unterhalten, nicht mit Taipeh, wobei sie das letztere anfliegen, als ob es ihr eigenes Haus wäre.

Die endgültige Reaktion Pekings auf den Besuch von Nancy Pelosi lässt sich mit den Worten des Offiziers von Dmitri Medwedew aus dem Film "Demobbed" zusammenfassen: "Wir werden zuschlagen, und das unbedingt tun. Die ganze Welt werde zu Trümmern! Aber nicht gerade heute." Vermutlich hat der Sinologe Alexander Gabuev Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Landung von Pelosi die Entscheidung Pekings, Taiwan mit militärischen Mitteln zurückzunehmen, nur näher gebracht hat. Womöglich werden wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Folgen dieses Flugs sehen. Unser Aufschrei zu "Chinas letzter Warnung", die Ansichten der Hooligans "Wenn du es sagst, aber nicht tust, bist du ein Schwächling", sind generell eine europäische Herangehensweise gegenüber den Handlungen einer Großmacht und sie tragen nicht zu unserem Verständnis von China, seiner Denkweise und seinen Handlungen bei. Diesen demonstrativ respektlosen Besuch wird die Volksrepublik China in Erinnerung behalten und darauf so reagieren, wie es sich gewohnt ist.

Alexei Tokarjew, Doktor in Politikwissenschaften, ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am staatlichen Institut für internationale Beziehungen in Moskau (MGIMO)

Übersetzt aus dem Russischen

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