Eine Analyse von Alexander Männer
Es ist inzwischen mehr als 20 Jahre her, dass der Ex-Chefvolkswirt von Goldman Sachs, Jim O'Neill, die These verkündete, die vier großen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China würden in Zukunft eine wichtige Rolle auf der internationalen Bühne spielen. Das von ihm geprägte Kürzel "BRIC", welches das wirtschaftliche Potenzial dieser aufstrebenden Volkswirtschaften erfassen sollte, wurde in dieser Zeit nicht nur um ein S – nach dem Beitritt Südafrikas zur Staatengruppe 2009 – ergänzt, sondern hat sich zu einer der bedeutendsten multilateralen Strukturen weltweit entwickelt.
Im Rahmen der Kooperation der BRICS-Länder, die gemeinsam rund 40 Prozent der Weltbevölkerung, etwa 24 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts sowie fast 20 Prozent des globalen Handels ausmachen, entstand ein eigenes System von Dutzenden Institutionen, das unter anderem den Dialog zwischen den Regierungen, Parlamenten, Sicherheits- und Justizorganen, den Vertretern der Wirtschaft und Kultur, Jugendorganisationen und anderen Strukturen der Mitglieder ermöglicht.
Besonders hervorzuheben ist, dass alle BRICS-Länder über die wirtschaftliche und politische Kraft verfügen, die eigene Souveränität hochzuhalten, eine unabhängige Politik zu verfolgen und sich nicht durch andere Allianzen oder Staaten einschränken zu lassen.
Gerechtere Weltordnung durch Multipolarität
Ungeachtet dessen hängen der Erfolg und die zukünftigen Perspektiven des Formates BRICS davon ab, wie effektiv die Gruppe die aktuellen und künftigen Herausforderungen angehen kann. Die Vereinigung konstatiert diesbezüglich, dass das derzeitige internationale System nicht nur ungerecht ist, sondern angesichts von Herausforderungen, wie etwa Kriegen, globalen Konflikten oder dem drohenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft, schlicht versagt und deshalb durch eine neue, multipolare Alternative abgelöst werden muss.
Das Hauptproblem des heutigen Systems liegt aus Sicht der BRICS in der globalen Dominanz der einzigen Hegemonialmacht der Welt – den Vereinigten Staaten. Diese Vorherrschaft, die sich im Grunde auf alle Lebensbereiche erstreckt, stützt sich auf den Supermachtstatus des Landes, den kollektiven Westen sowie auf andere Verbündete und Partner, einschließlich des US-geführten Militärbündnisses NATO und der US-dominierten globalen Finanzorganisationen Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank.
Um eine gerechtere, multipolare Zukunft zu ermöglichen, wollen die BRICS-Staaten die heutige Ordnung grundlegend verändern, indem sie unter anderem notwendige Reformen in Bereichen wie der internationalen Politik oder Finanzen und Wirtschaft global umsetzen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Bestreben, die Organisation der Vereinten Nationen zu reformieren sowie Alternativen zum Dollar-basierten Finanzsystem zu schaffen und eine neue Reservewährung einzuführen.
Angesichts dessen und der kürzlichen Ankündigung über eine mögliche Erweiterung der Vereinigung um weitere Staaten stellt sich einmal mehr die Frage, in welche Richtung sich die BRICS weiterentwickeln und welches Format sie künftig nutzen wollen.
Entwicklungsszenarien der BRICS-Kooperation
Gegenwärtig gelten die BRICS eher als Klub für die Diskussion der globalen Agenda und quasi als Gegenstück zur G7. Eine Expertengruppe des renommierten russischen "Skolkowo Instituts für Wissenschaft und Technologie" hat den bisherigen Werdegang der BRICS analysiert und vier mögliche Szenarien für die weitere Entwicklung der Gruppe aufgestellt:
- Das Beibehalten des Formats "Block der Schwellenländer", der die globale Agenda lediglich erörtert, die von anderen Ländern und supranationalen Verbänden vorgegeben wird.
- Die Ausweitung der eigenen Einflusses auf die globale Agenda mittels politischer Integration einschließlich der Erweiterung der Staatengruppe und der Schaffung einer politischen Allianz.
- Die Schaffung einer vollwertigen Wirtschaftsunion durch die wirtschaftliche Integration der Mitglieder. Dadurch kann das eigene Wirtschaftswachstum sowie der internen Handel der BRICS gestärkt und folglich eine Wirtschaftsmacht geschaffen werden, die angesichts der Herausforderungen der Zeit notwendig ist.
- Die Stärkung der wirtschaftlichen Integration durch die politische und kulturelle Integration, um die beteiligten Volkswirtschaften global wettbewerbsfähig zu machen.
Der Expertenmeinung zufolge wäre ein Mix aus wirtschaftlicher und politischer Integration ein Ansatz, der es ermöglichen würde, nicht nur BRICS-interne Probleme zu lösen, sondern auch Fragen der regionalen Entwicklung sowie Vorhaben auf globaler Ebene anzugehen. Unter anderem ist in diesem Zusammenhang die Europäische Union als Beispiel anzuführen, die sowohl die politische als auch die wirtschaftliche Integration fördert und dadurch besser in der Lage ist, effektiv auf interne und externe Herausforderungen zu reagieren.
Können die BRICS ihren Prinzipien treu bleiben?
Unabhängig davon, ob die BRICS sich künftig als Alternative zu den G7, den G20 oder irgendeiner anderen Gemeinschaft etablieren wollen,geht es für die Staatengruppe in erster Linie darum, ihr Format so weiterzuentwickeln, dass man als Gegenmacht zur westlich dominierten Weltordnung und im Hinblick auf die eigene Zielsetzung sowie die besagten Herausforderungen den Grundsätzen einer gerechten multipolaren Weltordnung treu bleibt – den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen und den Prinzipien des globalen Freihandels.
Demzufolge müssen die BRICS künftig stärker sowohl auf wirtschaftliche als auch auf politische Integration setzen. Auf wirtschaftlicher Ebene wird es wohl darum gehen, Strategien hinsichtlich der wirtschaftlichen Herausforderungen, die alle Mitglieder betreffen, auszuarbeiten und dazu passende Instrumente zu finden. Die Rede ist unter anderem von Möglichkeiten zur Synchronisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten der einzelnen Mitglieder, wie etwa Handels- und Zollregulierung.
Zugleich gilt es , das politische Umfeld zu stärken, in dem die Staatengruppe agiert. Das reicht von einem internen Konsens zu politischen und wirtschaftlichen Fragen bis hin zur Übertragung dieser einheitlichen Position auf internationale Institutionen, Organisationen und andere Strukturen der internationalen Gemeinschaft.
Der Erfolg der BRICS wird davon abhängen, welche Entwicklung der Zusammenschluss der Staaten nehmen wird und als wie effektiv sich diese Kooperation bei der Bewältigung der besagten Herausforderungen erweist.
Die gegenwärtigen Ereignisse zeigen, dass die BRICS ihre Prinzipien hochhalten und in diesem Sinne als Einheit für einen fairen Wettbewerb in der internationalen handelswirtschaftlichen Zusammenarbeit einstehen, die die wirtschaftliche Entwicklung der Mitglieder in verschiedenen Bereichen fördert und den weltweiten Freihandel unterstützt.
Zudem setzen die BRICS-Länder im Bereich der globalen Politik alles daran, ihre Positionen und Strategien in den internationalen Organisationen zu konsolidieren und zu koordinieren. Besonders hervorzuheben ist etwa die Reform der Vereinten Nationen einschließlich der Generalversammlung, dem Sicherheitsrat und dem Wirtschafts- und Sozialrat sowie die Interaktion mit den wirtschaftlich schwächeren Ländern. Dafür soll die Agenda 2030 für die nachhaltige Entwicklung der UNO vollständig umgesetzt, die Menschen in den Entwicklungsländern besser unterstützt und der Aufbau einer Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit gefördert werden.
Notwendigkeit einer Transformation des globalen Finanzsystems
Wie die fünf Schwellenländer stets bekräftigen, soll das Prinzip des Multilateralismus die Grundlage für ein alternatives wirtschaftliches und politisches Machtzentrum bilden. Dafür seien rigorose Veränderungen vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich unabdingbar, was praktisch von Anfang an eines der wichtigsten Anliegen der BRICS-Partnerschaft war. Ein Schlüsselaspekt, der die jeweiligen Interessen der fünf Staaten dabei auf einen gemeinsamen Nenner bringt, ist die Notwendigkeit der Transformation des globalen Finanzsystems – eines Bereichs, den der kollektive Westen weiterhin völlig dominiert.
Diesbezüglich kritisieren die BRICS immer wieder, dass es die Vereinigten Staaten waren, die das System 2008 zum Absturz brachten, und dass die US-Hegemonie unter anderem deshalb den allgemeinen Interessen der Weltgemeinschaft schaden würde. Aus diesem Grund sei nicht nur die Abkehr vom Dollar-Währungssystem, sondern auch ein Ende der wirtschaftlichen Vorrangstellung des Westens sowohl im Interesse der Vereinigung als auch der überwältigenden Mehrheit der Staaten notwendig.
Im Hinblick auf die Weltwirtschaft kann man definitiv eine wachsende Rolle der BRICS-Länder konstatieren, die auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist. Dazu zählen ihr Beitrag zur Reform der internationalen Wirtschaftsinstitutionen, ihr Einfluss auf den Wandel der internationalen Währungs- und Finanzstrukturen sowie ihre wirtschaftlichen Perspektiven.
Wichtig ist anzumerken, dass diese Perspektiven – die BRICS machen etwa ein Viertel des globalen Bruttoinlandsprodukts aus – in großen Maße von der Wirtschaftskraft Chinas abhängen, das als das ökonomisch stärkste BRICS-Mitglied gilt und inzwischen eine Führungsrolle auf der globalen wirtschaftlichen Bühne beansprucht. So plädiert Peking ganz klar für die Transformation der finanzpolitischen Architektur und zieht langfristig auch die Abkehr vom US-Dollar als Leitwährung in Betracht. Gleichzeitig fördern die Chinesen die Internationalisierung ihrer Landeswährung, des Yuans, und lancieren deswegen eine Vielzahl von entsprechenden Maßnahmen, von bilateralen Geschäftsabwicklungen bis hin zu einer vollständigen Etablierung des Yuans als Reservewährung.
Ungeachtet dessen haben die BRICS in puncto ''Entdollarisierung'' längst einen fundamentalen Konsens erreicht und leisten seitdem ihren Beitrag zur Wende im Weltfinanzbereich. Zum Beispiel arbeiten die Partner händeringend daran, Rahmenbedingungen zu schaffen, um ihren bilateralen Handel künftig in ihren nationalen Währungen abwickeln zu können.
Die Notwendigkeit des besagten Wandels wird aber vor allem am Beispiel Russlands deutlich, für das die US-Währung in Zeiten von Sanktionen mit enormen Problemen und Risiken behaftet ist. Allem voran ist das Einfrieren von knapp 300 Milliarden Dollar an russischen Devisen durch US- und EU-Notenbanken zu nennen, was zudem verdeutlicht, dass sich ein solches Vorgehen theoretisch auch gegen andere (BRICS-)Staaten richten könnte.
Wandel des globalen Währungssystems
Diese unverantwortliche und illegale Vorgehensweise des Westens widerspricht sowohl internationalen Gesetzen als auch der Agenda der BRICS sowie deren wirtschaftlichen Zielen – Verbesserung der globalen Wirtschaftslage und Reform der Finanzinstitute –, die während der Weltfinanzkrise im Rahmen des ersten BRICS-Gipfeltreffens im Jahr 2009 beschlossen worden waren.
Die Perspektive des Handels in den nationalen Währungen ist deshalb so wichtig, weil der hauptsächlich in Dollar abgewickelte Rohstoffhandel nach wie vor ein Eckpfeiler der US-Vorherrschaft in der internationalen Wirtschafts- und Finanzarchitektur ist und bekanntlich mit einer gewaltigen (geo-)politischen Macht für Washington einhergeht. So werden auch etwa 80 Prozent aller Banktransaktionen beim Kauf und Verkauf von Erdgas in Dollar durchgeführt. Und selbst wenn die Geschäfte, wie im Fall der Europäischen Union, in Euro abgewickelt werden, so wird das Gas an der Börse trotzdem in Dollar gehandelt.
Um den Dollar also als Reservewährung ablösen zu können, sollten die Rohstoffexporteure die Vorherrschaft dieser Währung dadurch angreifen, dass sie ihre eigenen Währungen beim Handel nutzen. Genau diesen Weg hatte Moskau im Zusammenhang mit der westlichen Sanktionspolitik eingeschlagen und beschlossen, beim Erdgasverkauf an "unfreundliche Staaten" den Rubel zu verwenden. Dies ist – für die anderen BRICS-Partner übrigens sehr anschaulich und nachvollziehbar – der finale Abschnitt der besagten Entdollarisierung in einem Teilbereich der russischen Wirtschaft und damit auch ein großer Schritt in Richtung Unabhängigkeit Russlands vom Dollar-System.
So gesehen könnten die nationalen Zentralbanken der BRICS-Mitglieder zu gegebener Zeit damit beginnen, ihre Reserven im Hinblick auf andere Währungen zu diversifizieren. Möglicherweise würden ihnen die Zentralbanken anderer Länder irgendwann folgen.
Angesichts der voranschreitenden Entdollarisierung ist die Frage nach einer alternativen Reservewährung heutzutage aktueller denn je. Tatsächlich hatte Russland, kurz vor Beginn des diesjährigen BRICS-Gipfels, angekündigt, dass die BRICS ihre eigene Leitwährung auf der Grundlage eines Korbs ihrer Währungen entwickeln müssten. Diese Ansage hat weltweit für medialen Wirbel gesorgt und bei vielen Menschen die Hoffnung geweckt, dass die Gruppe bald eine eigene und vom US-Dollar unabhängige Währung als Alternative zum bestehenden internationalen Zahlungssystem etablieren wird.
Allerdings ist der Ansatz des "Währungskorbs" in Bezug auf Sicherheit, Rendite und Liquidität – also diejenigen Kriterien, die eine starke Währung ausmachen – gegenwärtig noch recht problematisch. Bislang sind auch nur wenige Details bekannt, auf welcher Grundlage es die neue Währung geben könnte. Zahlreiche Experten sind der Auffassung, dass dieses Vorhaben das gesamte globale Finanzsystem verändern könnte, aber enorme personelle und finanzielle Kosten erfordern wird.
Umwälzung der globalen Finanzarchitektur
Wie eingangs erwähnt, haben die BRICS von Anfang an den Fokus auf den Finanzsektor gelegt und konnten auch eine entscheidende Rolle bei den Reformen der internationalen Finanzinstitutionen spielen. Der Konsens der BRICS-Länder erleichterte die Einigung der G20 bei dem Gipfel in Seoul 2010 bezüglich der Reform der Quoten und der Verwaltung der beiden US-geführten Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Der Beschluss über die Umverteilung der Quoten, der den Entwicklungsländern mehr Entscheidungsmacht ermöglichen sollte, war zwar in Kraft getreten, allerdings ist die Überprüfung der Berechnungsformel für die Quoten immer wieder verschoben und bis heute nicht umgesetzt worden.
Die BRICS hatten den IWF in diesem Zusammenhang scharf kritisiert und als Reaktion im Jahr 2014 die "Neue Entwicklungsbank" (New Development Bank, NDB) gegründet. Diese Bank war die erste multilaterale Finanzinstitution, die in den Schwellen- und Entwicklungsländern den Aufbau von Infrastruktur und nachhaltige Entwicklung unterstützt. Die NDB stand somit in direkter Konkurrenz zu IWF und Weltbank und sollte die von diesen Finanzstrukturen verkörperte Hegemonie des Westens beenden.
Die NDB beschreitet seitdem einen steinigen Weg, und hat dennoch bereits einige Erfolge vorzuweisen. Zum Beispiel ermöglicht die Kreditgesellschaft heute die Finanzierung von Ländern, die zuvor keine Kredite erhalten haben. Des Weiteren hat die NDB diverse Innovationen eingeführt, wie etwa die Kreditgewährung in der entsprechenden Regionalwährung, um die Kreditnehmerländer vor einem stärkeren Dollar zu schützen.
Neben der Gründung der NDB haben die BRICS im selben Jahr das sogenannte "Contingent Reserve Arrangement" (CRA) beschlossen, bei dem es sich um eine 100-Milliarden-Dollar-Sicherheitsrücklage der Vereinigung handelt. Dieser Reservefonds stellt unter anderem Finanzhilfen bereit, wenn ein BRICS-Staat in Zahlungsschwierigkeiten geraten sollte.
Zu den weiteren Aufgaben des CRA gehören die Förderung der Zusammenarbeit in der Währungspolitik, die Ausweitung des Handels, Kreditvergaben sowie technische Hilfe zwischen den BRICS-Mitgliedern. Zudem ermöglicht die Vereinbarung über Währungs-Swaps die Bereitstellung von Liquidität. Bis Mitte 2021 hatte die NDB die Finanzierung von 72 Infrastrukturprojekten in Höhe von rund 30 Milliarden Dollar genehmigt. Das CRA bewilligte Projekte in Höhe von 100 Milliarden Dollar.
Welche Perspektiven die BRICS in einer Erweiterung der Staatengruppe sehen, lesen Sie in Teil 2 hier.
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